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      Siegfried Lenz

      Es waren Habichte in der Luft

      Roman

      Literatur

      Hoffmann und Campe Verlag

      

      Für meine Frau

      

      Erstes Kapitel Irreführung

      Es waren Habichte in der Luft.

      Roskow bemerkte sie nicht; er stand am Fenster seines Gasthauses und beobachtete ein Sperlingsweibchen, das über das Geländer der Holzbrücke flog, hart am Wasser des engen, energischen Baches entlangsegelte, plötzlich aber kehrtmachte und sich in unvermuteter Entscheidung auf einen häßlichen, verrunzelten Stein am Rand des Baches niederließ.

      Der Vogel hat gewiß Durst, dachte Roskow.

      Er irrte sich. Der Vogel tauchte seinen harmlosen Schnabel nicht ein einziges Mal ins Wasser. Der Vogel bewegte seinen kleinen, leichten Kopf, als ob er jemand erwartete. Roskow blieb am Fenster stehen. Er ließ sich die Sonne, die uralte Sonne, auf seine Bartflechte und auf sein schwarzes Haar scheinen und wartete. Da kam, auch über das Geländer der Holzbrücke, ein Sperlingsmännchen angeflogen. Während des Fluges, vielleicht aber auch schon früher, hatte es das Sperlingsweibchen auf dem verrunzelten Stein entdeckt. Die beiden Tiere stürzten aufeinander los, bissen sich, schlugen mit den Flügeln, zitterten wie in großer Erwartung und flogen plötzlich davon, jedes in eine andere Richtung.

      So, so, dachte Roskow. Es ging ihn eigentlich nichts an, aber er ärgerte sich, daß die Vögel auseinanderflogen, als ob gar nichts geschehen wäre. Roskow murmelte halblaut: »Mir scheint, die Vögel haben ein schlechtes Gedächtnis. Außerdem sind sie gewissenlos.«

      »Das stimmt«, sagte da jemand unter seinem Fenster, »das stimmt haargenau.«

      Roskow beugte sich über die Fensterbrüstung. Er bemerkte einen schmalbrüstigen, kleinen Mann in einem sehr zerschlissenen russischen Kittel. Er trug einen Pappkarton in der Hand und lächelte zu Roskow hinauf. Er lächelte oder grinste. Roskow konnte das nicht genau erkennen.

      »Hast du auch die Vögel beobachtet?«

      »Ja«, sagte der Mann mit dem Pappkarton.

      »Und?«

      »Sie haben kleine Köpfe.«

      »Hm. – Was machst du hier?«

      »Ich suche jemand.«

      »Bist du schon einmal hier in Pekö gewesen?«

      »Ja, vor einigen Jahren.«

      »Und wen suchst du?«

      »Matowski.«

      »Matowski?«

      »Ja.«

      »Meinst du den vom Blumenladen?«

      »Ja.«

      Roskow sah die Straße hinauf und hinunter, als ob er sich, bevor er weitersprechen konnte, vergewissern müßte, daß kein anderes Ohr in der Nähe war. Dann sagte er, etwas leiser: »Den Matowski wirst du nicht finden. Den haben sie erschossen, er ist tot. Er soll der neuen Regierung schwer zu schaffen gemacht haben.«

      Der Mann stellte seinen Pappkarton auf die kleine Bank vor Roskows Gasthaus. Sein Gesicht verzog sich für einen Augenblick. Er richtete seine schrägstehenden, schwarzen Augen auf den verrunzelten Stein am Bach. Roskow beachtete ihn nicht weiter. Er blickte zu den mächtigen Kiefern hinüber und schwieg.

      Nach einer Weile sagte der Mann im Russenkittel:

      »Da sind Habichte in der Luft.«

      Roskow erschrak etwas.

      »Wo?« fragte er.

      »Über den Kiefern. Aber sehr hoch. Habichte haben größere Köpfe.«

      »Vier Habichte«, sagte Roskow, als er die Vögel entdeckte, die in scheinbarer Gelassenheit mit kaum zu erkennendem Strich über den Kiefern schwebten.

      Der Mann im Russenkittel ergriff den Pappkarton und ging. Er ging auf die Holzbrücke und blieb am Geländer stehen. Roskow beobachtete die Habichte. Der Fremde ließ den Karton auf der Brücke liegen und kletterte die steile, zerrissene Böschung zum Bach hinunter. Er streckte ein Bein aus und berührte mit der Fußspitze den häßlichen Stein. Der Stein bewegte sich nicht. Da vertraute er ihm sein Körpergewicht an und beugte sich hinab. Mit einer Hand schöpfte er Wasser aus dem Bach und trank.

      Roskow beobachtete noch immer die Habichte.

      Als der Mann seinen Durst gelöscht hatte, kletterte er die Böschung wieder hinauf, ergriff den Karton und kam zum Gasthaus zurück.

      »Wann wurde Matowski erschossen?« fragte er leise.

      »Es ist schon etwas länger her.«

      Roskow betupfte mit einem weichen Tuch seine Bartflechte und benutzte dabei das Fensterglas als Spiegel. Er sagte, ohne den Mann anzusehen:

      »Wie heißt du eigentlich?«

      »Stenka.«

      »So. Bist du Russe?«

      »Ja, ich lebe aber schon vierzehn Jahre in Finnland. Ich arbeitete zuletzt in der Sägemühle.«

      »Und was willst du von Matowski?«

      Der Mann stellte den Pappkarton auf die kleine Bank. Er legte seinen Kopf weit zurück – fast wie Störche es tun – und schaute zu Roskow empor. Mit der Hand machte er eine merkwürdige Bewegung nach Osten. Dann sagte er:

      »Ich habe einen Garten zu Hause, in Rußland, vielleicht 10000 Werst von hier entfernt. Da blühen jetzt die Natternköpfe und die Schweiflilien. Seit sechs Jahren will ich nach Hause fahren. Ich hatte mir Geld gespart bei meiner Arbeit in der Sägemühle. Aber wenn ich glaubte, es sei genug …«

      »Dann hast du es vertrunken«, rief Roskow von seinem Fenster herab.

      Der Mann sah auf seine Fußspitzen, seine Schultern zuckten. Roskow glaubte, er weine.

      »Ich wollte nicht alles vertrinken.«

      »So. Aber was willst du von Matowski?«

      Stenka schob die Antwort etwas hinaus. Erst nach einer Weile sagte er: »Matowski schuldet mir noch etwas. Ich habe früher Blumenkästen für ihn gemacht. Er wollte mir die Arbeit schon damals bezahlen, aber ich dachte, daß es ganz gut sei, ein kleines Konto in der Welt zu haben. So bat ich ihn, mir das Geld schuldig zu bleiben.«

      »Wolltest du das Geld heute verlangen?« fragte Roskow und ließ das Tuch, mit dem er die Bartflechte betupft hatte, in der Tasche verschwinden.

      »Nein, ich wollte kein Geld von ihm verlangen. Ich wollte ihn nur um einige Blumen bitten, um einige Natternköpfe.«

      »Hm. – Matowski wurde erschossen.«

      In diesem Augenblick flog wieder das Sperlingsweibchen über das Geländer der Holzbrücke.

      »Da, paß mal auf«, sagte Roskow.

      Beide Männer blickten auf den häßlichen, verrunzelten Stein am Rande des Baches. Diesmal tauchte der Vogel seinen Schnabel ins Wasser und trank.

      Irgendwo wurde eine Trommel geschlagen. Der Vogel flog fort. Roskow hob langsam seinen Kopf und wartete, daß sich der Trommelschlag wiederhole. Es blieb aber still.

      »Was war das?« fragte Stenka.

      Roskow

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