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Könnte schreien. Carola Clever
Читать онлайн.Название Könnte schreien
Год выпуска 0
isbn 9783749786794
Автор произведения Carola Clever
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
GETRÜBTES GLÜCK
Das Telefon klingelte früh um fünf. Irena rief aus San Diego an. Sie hatte die Zeitverschiebung nicht bedacht und entschuldigte sich. Sie informierte Martin, dass er wieder Onkel geworden war. Drei Wochen vorher hatten sie ihr viertes Kind bekommen. „Och? Herzlichen Glückwunsch, tolle Leistung, meine Liebe. Bin stolz auf dich, du kümmerst dich wenigstens um die zunehmende Bevölkerung. Gutes Kind! Was macht Otto?“ Martin wechselte sofort das Thema. Irena erklärte mit stolzem Unterton in der Stimme: „Unserem lieben Otto geht’s blendend. Er hat jetzt zwölf Mitarbeiter in seiner Firma.” Sie schwelgte und schwärmte in höchsten Tönen von diesem tollen Land und den paradiesischen Zuständen. Ella lauschte dem Gespräch mit einem Ohr. Sie konnte nicht glauben, was Martin da so von sich gab. Sie hätte ihn würgen können. „Schleimbeutel“, nuschelte sie. Martin hatte schon genug gehört. Er wies Irena auf die Kosten des Telefonats hin und verabschiedete sich kurz darauf. Beim Frühstückskaffee kamen ihm die Bohnen in einem gepflegten Rülpser hoch. Der Gedanke an Otto und seine Erfolge ließ ihn bleich vor Eifersucht werden. Wütend zog er die Augenbrauen zusammen, überlegte sich eine neue Strategie. Brummelte zwischen Wurstbrot und Gurke: „Pass mal auf, Junge, ich werde noch erfolgreicher sein als du.“
Martin, seit Jahren immer auf der Pirsch, hatte Renate, die geile Nixe, wie er sie seinen Kumpels gegenüber nannte, kennengelernt. Entschlossen, mutig und für ihn hocherotisch, übte sie schon nach kurzer Zeit großen Einfluss auf ihn aus. Er liebte ihr Apoplexie-Spiel. Diese Mundzu-Mundbeatmung war das Höchste. Beim Knutschen hielt sie ihren Lecker so tief rein, dass das Zungenende seine Mandeln besuchte. Dafür gab es dann eine ausführliche Muttermundmassage. Nein, er blieb ihr nichts schuldig. Die Beziehung, wie der Name schon sagte, zog sich. Es lief stockend. Wie ein Lichtschalter: mal an, mal aus. Nach sechs Monaten zog Renate zu ihren Eltern nach Österreich. Martin, außer sich über ihre Entscheidung, sinnierte über einen Plan, um in ihrer Nähe zu sein. Renate war relativ jung, witzig, unabhängig und frech, im Bett für ihn eine Granate. Seine Sinne vernebelten sich, sein drittes Bein bewegte sich, wenn er nur an sie dachte. Mit insektenhafter Getriebenheit versuchte er alles, die Kunden, Termine, Familie, unter einen Hut zu bringen, was schwieriger war, als er dachte. Martin brauchte Ablenkung, um über seine Pläne nachzudenken. Sonntag war ideal. Beim Frühschoppen in der Männerrunde sprachen sie zuerst über Politik. Herbert Wehner hatte wieder mal eine tolle Schote zum Besten gegeben. Helmut Schmidt lieferte wie so oft eine fachlich kompetente, ergreifende Rede. Heftig wurde politisiert. Sie sprachen über Autos. Dann kam die Runde auf Frauen zu sprechen.
Martin, schon leicht alkoholisiert, fragte unaufgefordert in die Runde: „Kennt ihr schon mein Fünf-PunkteSystem für Frauen?“ Die Kumpels schüttelten interessiert den Kopf.
„Na, sie sollte super aussehen, damit ihr nur bei ihrem Anblick euch hektisch an den Nägeln kaut. Sollte eine Granate in der Kiste sein, sodass ich auch richtig auf meine Kosten komme und der Puff-Besuch überflüssig wird. Sollte nicht blöd in der Rübe sein, damit ich auch eine gepflegte Unterhaltung mit ihr führen kann. Finanziell unabhängig, damit sie mir nicht total auf der Tasche liegt. Und wenn sie dann auch noch kochen könnte, wäre der Sechser im Lotto perfekt.“ Ein Kumpel rief begeistert und fasziniert: „Tja, Martin, das muss dir der Neid lassen, dein System hat Schliff!“ Einstimmig stimmten alle lauthals zu. Zufrieden holte er seinen teuren Zigarrenschneider raus, schnitt eine Kerbe in die Spitze der blonden Rössli Sumatra, zog und paffte einige Züge, bevor er die Banderole vorsichtig abzog. Ganz im Stil eines Genießers.
Kurz vor Weihnachten flippte Martin bei einem Streit mit Ella wieder völlig aus. „Kann deine ewige Nörgelei nicht mehr hören, du gehst mir tierisch auf den Zwirn.“ Dann schubste er sie so, dass sie im Wohnzimmer gegen den Schrank prallte.
Ella schrie lauthals zurück, versuchte, ihn ebenfalls zu schubsen: „Du mieses chauvinistisches Schwein, elender Lügner, Betrüger, ich hasse dich.“
Bei dieser Rauferei schlug Martin sie derart brutal, dass sie mit gebrochenem Schlüsselbein und aufgeplatzter Lippe ins Krankenhaus kam. Wir waren im Garten, bauten einen Schneemann, als wir die Brüllerei hörten. Geduckt auf allen Vieren, schlichen wir uns durch den Schnee an die Hauswand. Dichtes Nadelgehölz deckte uns. Wir warteten, bis der Anfall vorbei war. Dann gingen wir nach vorn zur Eingangstür und klingelten. Nach viermaligem, stürmischem Klingeln öffnete Martin die Tür, zog uns zur Tür herein, wobei seine Fäuste unsere Jacken umklammerten. Alex bekam seine Pranke zu spüren. Er hielt sich die schmerzende Wange. Ich stolperte über die Türschwelle, stürzte zu Boden und schrie: „Du bist saublöd, warum schlägst du Ella nur so? “
Mittlerweile hatte sich an seinem Mund Schaum gebildet. Sein hochroter Kopf wechselte zusehends zu einem tieferen Rot. Seinen riesigen Schuh spürte ich zuerst in der Magengrube, dann erreichte er meine linke Schulter. Dabei musste ich meinen Körper gedreht haben, weil ich nämlich den Schuh erst wieder im Rücken spürte. Alex stand hinter Martin. Versuchte ihn von mir wegzuschubsen, leider war er Martin körperlich völlig unterlegen. Ich hatte mir schon beim letzten Mal geschworen, nicht mehr zu weinen. Und ich weinte nicht, hätte aber schreien können. Während Martin prügelte, sagte ich mir nur einen Satz und den immer und immer wieder: „Du kannst mich ruhig schlagen, verletzen kannst du mich nicht.” Nach gefühlten zehn Minuten hatte er sich körperlich und sprachlich ausgetobt und ließ von mir ab. Danach brachte er Ella ins Krankenhaus. Meine Verletzungen waren zwar nichts fürs Krankenhaus, doch sollten meine Wunden mich jahrelang zum Bettnässer werden lassen.
Vordergründig nahm Martin diesen Streit zum Anlass, um Weihnachten nicht zu Hause zu sein. Er ließ Ella und Alexander ohne Weihnachtsgeschenke, ohne Geld zurück. Ella sollte wissen, wer hier der Herr im Hause war. Kurz vor Heiligabend machte er sich beschwingt mit mir auf und besuchte Renate in Österreich. Nach unserer Rückkehr erfuhr Ella durch geschicktes Hinterfragen, dass wir nicht im Hotel, sondern bei Renate übernachtet hatten. Ella fragte weiter: „Was hast du denn den ganzen Tag gemacht?“ Begeistert sprudelten die Worte aus mir heraus: „Tante Renate hat auch Kinder. Habe mit Christoph im Etagenbett übernachtet. Wir haben im Zimmer gespielt. Waren in der Skischule und Renates Mutter hat für uns alle lecker gekocht.“ Ella stockte der Atem, konnte kaum glauben, was sie hörte. Sie erfuhr noch weitere pikante Details, notierte sich die Namen und ließ sich das Haus beschreiben. Man wusste ja nie! Wehmütig dachte sie an Joachim. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, es zu beenden? Sie hasste Martins Gockel-Syndrom, auf jedem Misthaufen musste er kratzen. Diese Demütigungen, die Kränkungen gingen ihr wirklich an die Substanz. Sie überlegte, wie sie das ändern konnte.
Strahlend, gut gelaunt und neu gekleidet war Martin von dieser Reise zurückgekehrt. Renate liebte Trachten. Martin, jetzt ganz in Tracht gekleidet, sah für Ella wie eine Mischung aus alpenländischem Gebirgsjäger und Fallensteller aus. Auch eine neue Redewendung schmückte sein Vokabular. Jedwedes Erstaunen drückte er mit einem bayerischen „Na, da schau her“ aus. Er pflegte regelrecht sein Andenken an Renate. Freunde und Bekannte fanden ihn für hiesige Breitengrade lächerlich und unpassend gekleidet. In ihren Augen trug man keine Trachten nördlich der imaginären Weißwurst-Linie, die ab Frankfurt gezogen wurde. Unbeirrt trug Martin diesen Stil selbstbewusst die nächsten vierzig Jahre. Die Freunde aus der Nachbarschaft hänselten Alex mit dem Erscheinungsbild seines Vaters. Bei Begegnungen mit Martin fürchteten sich die Nachbarskinder. Bei ernstem Gesichtsausdruck wölbte sich seine Zornesfalte wie eine Geschwulst zwischen den Augenbrauen. Martin erhob drohend den Zeigefinger, verteilte in schulmeisterhafter Manier Maßregelungen und Verhaltensregeln. Bernd, engster Freund von Alexander, wiederholte Martins Worte bei seinen Eltern. Die Eltern empörten sich: „Der tritt auf wie ein Gauleiter vom Postkarten-Maler. Was bildet der sich eigentlich ein. Besserwisser. Angeber!“
Die Freunde ließen Alex wissen, was sie über seinen Vater dachten. Alex war das peinlich. Er schämte sich für das Verhalten, die Worte, die Kleidung seines Vaters. Unbewusst begann er, die Freunde nur noch einzuladen, wenn Martin außer Sichtweite oder nicht zu Hause war.
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