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Box zu gehen. Er wurde langsam nervös, denn er wollte ja raus. Er stand seit seiner Ankunft schon einen ganzen Tag im Stall. Ich wusste nicht einmal, wie ich ihn nach draußen bringen sollte, er hat schon in der Box so gedrängt, ist immer hin und her geruckt. Mir wurde ganz schlecht. Ich musste ihn rausbringen, egal wie. Mir fielen die Worte der Vorbesitzerin ein, die am Tag der Ankunft gesagt hatte: »Er ist wirklich ein ganz Braver, aber wenn er anfängt rumzuspinnen, dann schmeiß ihn einfach auf den Platz.«

      Was genau meinte sie mit rumspinnen? Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Ich überwand mich und holte sein großes Halfter und den Strick. Ich öffnete die Boxen-Tür und ging die sieben Meter mit ihm zum Reitplatz. Er war sehr ruhig, fünf Minuten, dann erst hat er realisiert, dass er ganz woanders war – und dann fing das Theater an! Ich dachte, ich werde bewusstlos vor Angst. Er tickte völlig aus. Ich dachte, er springt über den Zaun. Er war komplett durchgedreht. Als ich sah, wie diese tausend Kilo schwere Masse in so eine athletische Bewegung kam, wurde mir himmelangst.

      Ich rannte zum Telefon und rief die Frau an. Ich sagte ihr, sie sollte am besten gleich mit dem Hänger kommen. Sie musste ihn wieder mitnehmen. Ich sagte ihr, ich hätte einen großen Fehler gemacht, das sei zu viel Pferd für mich. Er machte mir Angst.

      Sie beruhigte mich und versicherte mir, dass sie in etwa einer halben Stunde da sein würde.

      Ich stand am Tor vom Reitplatz, während ich wartete, mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich glaube, ich habe noch nie in einem Leben soviel Adrenalin ausgeschüttet, wie an diesem Tag.

      Nach 20 Minuten beruhigte er sich und kam langsam zum Tor. Ich stand bewegungslos mit den Rücken zum Tor. Plötzlich spürte ich ihn neben meinem Kopf, seinen Kopf, seinen riesigen Kopf, und legte ihn an meiner Schulter ab. Da standen wir nun. Keiner bewegte sich.

      Endlich kam die Frau. Sie lächelte mir freundlich entgegen und sagte: »Das dachte ich mir, dass ich euch beide so finde.«

      Ich fragte sie, ob sie den Hänger dabei hätte. Sie verneinte. Toll. Ich erklärte ihr, dass ich das Pferd doch nicht wollte, es sei ein Fehler gewesen, er wäre zu viel für mich. Zu viel Pferd. Ich hätte Angst vor ihm.

      Sie erwiderte nur: »Ich mach dir einen Vorschlag: Ich komme erst mal jeden Tag zu dir und helfe dir, ihn besser kennenzulernen. Du sagtest ja, dass du blutige Anfängerin bist, und ich hätte ihn dir niemals verkauft, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, dass er genau der Richtige für dich ist. Glaub mir und vertrau mir einfach. Er braucht ein wenig Zeit. Beruhige dich erst mal, wir fangen morgen an. Ich komme in paar Stunden wieder und helfe dir, ihn in die Box zu bringen. Und morgen Früh komme ich wieder und dann bringen wir ihn zusammen raus, okay?«

      Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dieser Frau für diese Hilfe war. Sie begleitete uns einige Wochen. Ich war schon ruhiger geworden und fing an, mich so langsam an mein großes Pferd gewöhnen. Mein Pferd … ich liebte es inzwischen heiß und innig.

      Und dann, an einem Tag, als ich ganz alleine war, traf ich eine Entscheidung, die mein Leben für immer veränderte. Ich wollte nicht mehr von der Vorbesitzerin abhängig sein, aber diese Abhängigkeit fühlte sich gut an, denn ich musste nicht die volle Verantwortung tragen. Das war angenehm. Doch jetzt war der Moment: Ich stand an der Gabelung – und entschied mich, aus vollem Herzen und voller Überzeugung: Ich wollte keine Abhängigkeit mehr, sondern das beste Studium absolvieren, das zu haben war, und von den Besten auf dieser Welt lernen. Nicht wie man reitet, nein, ich wollte der beste Mensch für mein Pferd werden, der ich jemals werden konnte. Ich wollte eine Partnerschaft, eine Freundschaft. – Ich wollte ein Teil der Herde werden. Ich habe dieses Pferd zu sehr geliebt, um es aufzugeben. Egal wie lange das es dauern sollte, egal wie viel Geld es kosten würde: Ich wusste, dass ich mir diesen Traum, Pferde zu haben und mit ihnen zu leben, erarbeiten musste; ich wollte in die Tiefe blicken.

      Und so fing ich an, in den USA zu studieren. Zuerst die Pferdepsychologie und dann das Pferdeverhalten. Dann lernte ich alles, was es nur gibt, über Horsemanship, Vertrauen und Bindung. Ich habe keine einzige Sekunde der vielen Jahre bereut, die ich investiert habe, und auch keinen einzigen Cent, den ich dafür ausgegeben habe. Aus diesem Grund kann ich Dir jetzt, durch mein kompaktes Wissen als Pferdeverhaltenstherapeutin, mit diesem Buch eine Abkürzung zur Psyche Deines Pferdes geben. Ich kann Dir helfen, die Dinge anders zu sehen und ganz tief einzutauchen.

      Lass uns gemeinsam die wunderbare Reise zur Psyche der schönsten Kreaturen dieser Erde, dem Pferde antreten. Es geht um viel mehr, als Du je dachtest.

      In der Lage zu sein, Pferde zu lesen, ist eine der schönsten Eigenschaften, die ein Pferdemensch je haben kann. In diesem Buch werde ich Dir zeigen, welche Strategien Du brauchst, um ein Problem mit Deinem Pferd schnell zu lösen. Außerdem erhältst Du hiermit den Schlüsseln zur Bindung und einem hohen Level der Kommunikation.

      In diesem Buch tauchen wir tief in die Psyche des Pferdes ein und Du wirst lernen zu verstehen, wie Du mit Deinem Pferd sehr effektiv interagieren kannst. Du wirst lernen, wie Du Dich wie ein ranghohes Pferd verhältst, und Du wirst lernen, die umgekehrte Psychologie einzusetzen.

      In meinem ersten Buch Bodenarbeit – Das Fundament habe ich schon einige wichtigen Inhalte bereitgestellt und erklärt, denn ohne dieses Wissen ist es sehr schwierig, das Pferd zu verstehen und mit ihm eine Kommunikation zu erreichen. In diesem Buch geht es jetzt viel tiefer in dieses Thema hinein. Egal ob Du jetzt erst mit Deinem Pferd anfängst, ob Du Dir jetzt erst noch eines kaufen möchtest oder ob Du schon fortgeschrittener Reiter bist: Für alles, was Du tust, brauchst Du erst eine funktionierende Basis in der nonverbalen Kommunikation mit Pferden, um ein Verständnis der anderen Art zu bekommen.

       DIE ETHOLOGIE DER PFERDE

      Wir beginnen nun mit der Einführung in die faszinierende Welt der Pferde. Lass uns gemeinsam einen Blick in seine Ethologie werfen.

      Pferde haben ihr gesamtes Verhalten als Flucht und Herdentier auf das Leben in der weiten Steppe angepasst. Sie legen täglich 40 Kilometer in ständiger Bewegung zurück. Pferde leben in einer Herde – je größer die Herde, desto mehr Schutz ist für das einzelne Tier gewährleistet. Das Pferd kann alleine in der Natur nicht überleben, das ist nicht möglich. Die Herdenhierarchie ist klar definiert, an der Spitze steht ein sozial starkes Leittier. Die Rangordnung kann aber auch immer neu erstellt werden, man bezeichnet sie auch als Hackordnung. Eine wesentliche Rolle für die Rangordnung spielen Alter und Dauer der Gruppenzugehörigkeit.

      Dieses Austauschen des Ranges in der Hackordnung muss dem Menschen immer bewusst sein. Wenn man als Mensch ein Teil der Herde ist, ist es von größter Wichtigkeit, dass die Position eindeutig ist und nicht infrage gestellt wird. Der Mensch muss sich als ranghoch positionieren und auch durchsetzen, wenn nötig; es darf absolut kein Zweifel bestehen. Nur so werden unnötige Zwischenfälle und Verletzungen vermieden. Damit das reibungslos funktionieren kann, muss der Mensch die Körpersprache des Pferdes kennen und in der Lage sein, diese klar und unmissverständlich einzusetzen.

      Es wurden beim Pferd 170 verschiedene Gestiken festgestellt. Alleine das zeigt schon, wie komplex das alles ist. Das Lesen der Körpersprache des Pferdes ist eines der wichtigsten Elemente, die ein Pferdemensch beherrschen sollte, denn das stellt das Fundament zur Verständigung dar.

      Das Pferd hat sich im Laufe der Entwicklung optimal an das Leben als Fluchttier angepasst. Seine Schnelligkeit und seine Reflexe sind alles, was es hat, denn damit sichert es sein Überleben. Der Mensch sollte daher niemals das Pferd dafür bestrafen, dass es seine Urinstinkte einsetzt und sein Leben sichern möchte. Jegliches Verhalten hat eine tiefere Ursache, nach der wir im Zweifelsfall suchen müssen. Wenn das Pferd in unserer Anwesenheit etwas Falsches macht, dann stimmt etwas nicht. Diese Defizite werden wir im Laufe dieses Buches genauer erkunden.

      Der Fluchtinstinkt ist bei den Pferden unterschiedlich stark ausgeprägt, in Abhängigkeit von vier verschiedenen Faktoren:

      1. Rasse

      2. Lernverhalten

      3. Umfeld

      4. Spirit

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