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medizinischen Personal und verzweifelten Angehörigen sehe hoffe ich immer noch, dass es so schlimm wie es wirkt nicht ist. In unserem auf Sicherheit und Risikoreduktion ausgerichteten westeuropäischen Denken sind solche Bilder nicht vorgesehen.

      Seit einer Woche befinden sich die ItalienerInnen im Lock-Down. Die drastischen Ausgangsbeschränkungen wurden verordnet, weil man damit jetzt hofft, die rasante Ausbreitung des Virus und den Kollaps der Krankenhäuser noch eindämmen zu können. In Mails und am Telefon wähle ich sorgfältig meine Worte. Ich möchte meinen italienischen FreundInnen beistehen und ihren Schmerz teilen („Mi dispiace cosi tanto“). Ich möchte Hoffnung vermitteln, allerdings nicht zu platt („Wird schon“). Und auf keinen Fall will ich den Eindruck erwecken, dass in Deutschland alles besser bewältigt wird. Doch unweigerlich wird mir irgendwann die Frage gestellt „Und wie läuft es bei euch?“. Dann antworte ich schlingernd zwischen „Wir sind besorgt“ und „Noch ist nicht viel zu merken“ und fühle mich wie ein geretteter Passagier auf sicherem Grund, während andere Schiffbrüchige gegen die Wellen kämpfen. Auch sie werden, so beruhige ich mich, das rettende Ufer erreichen.

      Sigrid und ich tauschen seit drei Tagen nur noch Viren untereinander aus. Gegen die Angst vor Ansteckung scheint uns das am besten. Sigrid war am Nachmittag noch ein letztes Mal auf dem Markt im Dorf gewesen. Die Menschen standen dicht wie immer in den Schlangen vor den Verkaufsständen. Am Morgen hatten wir noch eine Freundin zum Frühstück besucht. Das, so hatten wir beschlossen, waren unsere letzten Ausgänge. Ab jetzt würden wir die Biokiste aufstocken, unsere Vorräte aufbrauchen und Aktivitäten auf den Nahbereich beschränken.

      Glücklicherweise leben wir in einem Naturschutzgebiet mitten im Wald mit dem See vor der Haustür und puzzeln beide gern alleine vor uns hin. Die ersten Knospen zeigen sich an den Bäumen, der Frühling, so versichern wir uns, wird den Gemütern helfen mit seiner verschwenderischen Fülle.

      Auf dem beschaulichen Gut mit seinen ungefähr vierzig Bewohnerinnen sind die Bedingungen für Rückzug ideal. Wenn man sich zufällig trifft, was gar nicht selten geschieht, dann draußen auf dem Hof. Und da kann man sich nach wie vor sicher auf Distanz unterhalten. Mit Birgit, meiner Freundin und Nachbarin auf der Etage, war ich bereits dazu übergegangen, dass sie bei Gesprächen in ihrer Wohnungstür steht und ich drei Meter entfernt am Treppengeländer lehne.

      In Birgits Schule war vor nicht einmal zwei Wochen der erste Corona-Fall im Landkreis bemerkt worden. Ein Kollege hatte das Virus auf nie geklärtem Wege mitgebracht und inzwischen andere Menschen in zweistelliger Zahl infiziert. Überraschenderweise war das Gymnasium nicht geschlossen worden. Das Gesundheitsamt erklärte, ein Infizierter begänne erst in den letzten beiden Tagen vor dem Ausbruch von Symptomen anstekkend zu werden. Da der Kollege die Symptome am Montag bemerkt hatte und am Freitagmorgen zum letzten Mal in der Schule gewesen war, konzentrierte man sich nur auf die Menschen, die er am Wochenende privat getroffen hatte. Sie alle wurden vom Gesundheitsamt kontaktiert, mussten in Quarantäne und werden bei Beschwerden getestet.

      Weder Birgit noch ich noch sonst jemand, den wir kannten, hatten je von dieser Theorie gehört, auch im Netz fand man sie nicht. Doch alle Ansteckungen passierten wie vorausgesagt im Privatleben. Auf diesem Wege war auch M., eine enge Kollegin von Birgit, in Quarantäne geschickt worden. Wenn sie positiv getestet worden wäre, hätte Birgit zwei Wochen in ihrer Wohnung bleiben müssen. Ich versorge dich dann, beeilte ich mich zu sagen. Zwei Tage später fand ich einen Zettel vor der Tür „M. ist negativ“. Die Umsicht des Gesundheitsamtes wirkte beruhigend auf uns. Mir wurde klar, dass meine übliche Skepsis gegenüber dem schulmedizinisch orientierten Gesundheitswesen gerade Platz machte für Respekt und Vertrauen. Darüber war ich heilfroh. Alle mit denen ich sprach hatten den Eindruck, die Behörden reagierten prompt und behielten Infektionsketten gut im Blick. Allerdings wissen wir auch, dass die Dunkelziffer hoch ist und nur ein Bruchteil der Infizierten, nämlich die mit Symptomen, die sich zudem auch noch melden, getestet wird. Viele Menschen haben begonnen – meist mithilfe bunter Grafiken und Kurven – zu begreifen, was exponentielles Wachstum im Gegensatz zu linearem bedeutet.

      Heute, zwei Wochen nach dem ersten Coronafall in unserer Nähe, sind bereits alle Schulen geschlossen, dazu Theater, Museen, Bibliotheken, Klubs und Grenzen. In Hamburg wurden auch private Zusammenkünfte von über 50 Menschen untersagt und von Treffen mit geringerer TeilnehmerInnenzahl wird abgeraten. Offensichtlich ist eine Verfolgung der Infektionsketten inzwischen nicht mehr ausreichend oder gar nicht mehr möglich. Social Distancing wurde zur besten Reaktion auf die Lage erklärt, flatten the curve ist jetzt unsere große Hoffnung.

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      17.3.2020

      Heute morgen schien die Sonne und im See läuft nach dem langen Winter endlich wieder das Wasser ein. Ihr wisst ja, er wird wegen der Karpfen im Spätherbst immer abgelassen. Gleich beim Aufstehen stelle ich mich vor mein geöffnetes Schlafzimmerfenster, eingewickelt in eine Decke, atme tief durch und lasse einige Minuten die Schönheit von Himmel, Wasser und Wald auf mich wirken.

      Ich wollte das schon lange machen. Jetzt habe ich das Gefühl, erstens genügend Zeit zu haben (die ich selbstverständlich vorher auch hatte) und zweitens alles was möglich ist tun zu müssen für meine psychische und physische Stärkung. Wer weiß, sage ich mir, wie lange die Puste reichen muss, lieber Vorräte anlegen.

      Viele Leute antworten zur Zeit auf die Frage wie es ihnen geht mit „Noch gut“. Darin steckt wie auch in meinen morgendlichen Atemübungen der Gedanke, dass wir uns auf eine lange Zeit unter Einschränkungen und womöglich mit Krankheit einstellen müssen. Noch ist schwer vorstellbar, dass zwei Drittel der Bevölkerung infiziert sein werden – wie die Kanzlerin neulich verkündete. Noch glaube ich wie wahrscheinlich die meisten, dass es ganz so schlimm nicht werden wird. Doch auch wenn es weniger schlimm ausfällt, wäre das noch heftig genug.

      Es ist seltsam. Man lebt in einer von der Ausbreitung des Virus noch relativ unberührten Gegenwart. Persönlich kenne ich niemanden, der oder die wissentlich infiziert ist, ich kenne aber Menschen, in deren Familie es Infizierte gibt – mit denen sie in den letzten Wochen glücklicherweise nicht in engem Kontakt standen. Von Toten im nahen oder weiteren Umfeld habe ich noch nichts gehört. Allerdings beschleicht mich eine Spur Angst, wenn ich an mein bereits mehrmals aufgeschobenes Telefonat mit Maria denke. Ich befürchte zu erfahren, dass in meiner zweiten Heimat Piobbico, einer Gemeinde mit zweitausend EinwohnerInnen in den Bergen der Provinz Pesaro/Urbino, seit Wochen rote Zone, inzwischen Menschen an der Infektion gestorben sind, möglicherweise Menschen die ich kenne. Von meinem Freund Claudio, der fünfzig Kilometer entfernt an der Küste wohnt, habe ich genau das bereits gehört: Zwei seiner Freunde haben den Aufenthalt auf der Intensivstation nicht überlebt, einer kämpft um sein Leben.

      Wir in Deutschland erleben die Gegenwart, in der als fühlbare Veränderung das öffentliche Leben und die meisten privaten Treffen fehlen, mit dem Wissen, dass gerade etwas unvergleichlich Schlimmes auf uns zurollt. Es ist als nähere sich ein Zug, den man nicht mehr aufhalten kann, und wir stehen wie festgeklebt auf den Schienen.

      Man könnte jetzt einwenden, gerne religiös/philosophisch unterfüttert, dass der Zug unseres Todes sich in jedem Moment des Lebens unaufhaltsam nähert. Im Moment mag ich die Rede vom höheren Sinn aber nicht hören; Pandemie als Schule des Lebens und Sterbens finde ich grade zynisch. Mir ist unwohl beim Versuch, die Coronakrise ideologisch aufzuwerten als Chance zur Läuterung. Wovon ich hingegen viel halte ist: das Beste aus der Situation zu machen, für sich und andere. Doch was ist das Beste? Viele Menschen bevorzugen die Verdrängung. Und für die allseitige Beliebtheit der Verdrängung lege ich als Psychotherapeutin meine Hand ins Feuer.

      In der Bedrohung durch ein klitzekleines Virus sind wir aufgefordert, zumindest partiell nicht zu verdrängen, denn sonst würden wir die neuen lebensrettenden Regeln nicht einsehen. Wegen der Beliebtheit der Verdrängung wäre es auch keinen Tag früher möglich gewesen, die Theater zu schließen und Fußballspiele vor leeren Stadien abzuhalten. Die Menschen hätten es nicht akzeptiert. Geschickt fand ich, wie uns der Entscheidungsprozess über die Schulen überdeutlich als schwierig dargestellt wurde. Denn erst Schulschließung bedeutete – mehr noch als leere Stadien und Konzerthäuser –, dass es nun richtig ernst wurde.

      Mit der Verdrängung ist es kompliziert. Ein gewisses Maß

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