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      Gabriele Freytag

      Luft holen - Briefe in Zeiten von Corona

      Gabriele Freytag

       Luft holen

      Briefe in Zeiten von Corona

      © 2020 Dr. Gabriele Freytag

      1. Auflage Juli 2020

      Herausgeberin, Autorin, Fotos: Dr. Gabriele Freytag

      [email protected] www.einwilderort.de

      Umschlaggestaltung und Foto der Umschlagvorderseite, Satz und Gestaltung:

      Niels Menke Design, Hamburg

      Fotos der Autorin ©Rita Fevereiro, Lissabon

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN: 978-3-347-10107-4 (Paperback)

      978-3-347-10109-8 (e-Book)

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

      Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig.

      Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung,

      Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

      Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

      http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      „Entgegen landläufiger Meinung sind es nicht große Ideen,

      nicht die bedeutenden Ereignisse, die sich in Zeiten historischer

      Umwälzungen am stärksten einprägen, vielmehr ist es

      der ununterbrochene Strom kleiner Erfahrungen, Beobachtungen,

      Turbulenzen, Ekstasen, kaum wahrnehmbarer Störungen,

      die das banale, alltägliche Leben ausmachen.“

      Aus: Im Herzen des Herzens eines anderen Landes

      Etel Adnan

      Was wir erlebten

      konnten wir schwer dermaßen schnell und umfänglich begreifen.

      Gegen das Verstummen und die Überwältigung

      durch Nachrichten und Direktiven

      wollte ich inmitten verstörender Gegenwart

      mit Worten nahe bleiben – mir und anderen

      weiter Verbundenheit ermöglichen, Stärkung, Verstehen

      und den Horizont weit halten.

      INHALT

      Zeitschleife 16.3.2020

      Noten vergessen 17.3.2020

      Krisengespräche 18.3.2020

      Versorgungsketten 19.3.2020

      Italienische Verhältnisse 20.3.2020

      Das Weinen in der Welt 21.3.2020

      Mein Freund der Ärmel 23.3.2020

      Schlamperei und Hungerwinter 24.3.2020

      No escape room 25.3.2020

      Mysterien am Fluss 27.3.2020

      Seitlicher Meerblick 28.3.2020

      Langer Atem 2.4.2020

      In flagranti 3.4.2020

      Kartoffeln satt 4.4.2020

      Klub der Hässlichen 8.4.2020

      Die Ducks 10.4.2020

      Bergamo 20.4.2020

      Krank im Senegal 22.4.2020

      Und hopp 25.4.202

      Alltag 29.4.2020

      In Schach halten 2.5.2020

      Feinstoffliche Freuden 5.5.2020

      Smile or die 7.5.2020

      Seufzerbrücke 9.5.2020

      Halskratzen 11.5.2020

      Die Hand reichen 15.5.2020

      Ziehen sie das Ding aus 16.5.2020

      Einige Gewissheiten 18.5.2020

      Luft holen 23.5.2020

      Die Geschichte von der toten Großmutter 25.5.2020

      Tiger in der Taiga 31.5.2020

      Weiter auf Sicht fahren 16.6.2020

      Auf der Sorge 30.6.2020

      Betreff: täglich Post?

      Liebe Alle,

      Vor vier Wochen war ich noch in Lissabon am Tejo, Ihr seht mich oben vor der berühmten Brücke. Die Reise kommt mir jetzt vor wie eine rare und exquisite Köstlichkeit.

      Durch meine engen Verbindungen nach Italien fühle ich mich grade der Entwicklung hier ein Stück voraus. Was auch dazu geführt hat, dass Sigrid und ich seit einigen Tagen bereits im Rückzug leben, wir nennen es Retreat.

      In unserer Lebenssituation – sie in Rente, ich mit viel Schreiben und einer Praxis im Haus mit nur wenigen Patientinnen – ist das gut machbar.

      Mich überkommt ein starkes Bedürfnis über die äußere und innere Lage zu schreiben. Vielleicht auszutauschen? Sehe eine Gruppe vor mir, die häufig kurze oder längere Texte per Mail bekommt.

      Ich hänge mal meine ersten beiden Coronabriefe an. Weitere verschicke ich dann nur nach Aufforderung.

      Würde mich sehr freuen Dich zu den AbonnentInnen zu zählen – und Auskunft über Dein Befinden zu erhalten.

      Ganz herzlich und mit allerbesten Wünschen aus dem Retreat Gabriele

      ZEITSCHLEIFE

      16.3.2020

      Heute hat es angefangen. Im Halbschlaf warte ich am Morgen das Rattern eines vorbeifahrenden Traktors zu hören oder die fürchterlichen Motorsägen aus dem Wald, wobei ich seit Tagen hoffe, für letztere wäre die Saison endlich vorbei. Als es dann ruhig bleibt bin ich verstört. Normalerweise ist mir Stille am liebsten – wenn andere sich nicht bemerkbar machen umso besser. Doch an diesem Montag soll die Woche unbedingt krachend losgehen, soll es möglichst geräuschvoll weiterlaufen und wir nicht feststecken, als würde von nun an das Wochenende täglich wiederkehren wie in einer Zeitschleife.

      Man hatte es uns am Vorabend bei Anne Will noch einmal erklärt: Die große Hoffnung ist jetzt, durch einen partiellen Lock-Down die Kurve flach zu halten. Sigrid und ich waren erleichtert, dass wir in der Sendung nichts Neues erfuhren, uns also trotz physischer Isolation auf der Höhe der Zeit befanden. Im Gegensatz zu sonst blieben wir nach dem Tatort noch vor dem Bildschirm sitzen. Eine Teilnahme am sonntäglichen Talk-Show-Ritual schien uns geeignet, unsere aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Die Politiker (es waren nur Männer) kamen uns überraschend sympathisch vor. Bei der Intensivmedizinerin der Charité ging uns sofort das Herz auf: so engagiert und klug, ihr wollte man sich gerne anvertrauen. Wir suchten nach Zeichen. Alle Gäste wirkten müde auf uns, Gesichter und Augen machten einen traurigen Eindruck. Sie taten, das sah man doch, unter großer Belastung ihre Arbeit, versicherten wir uns. Der Finanzminister allerdings hustete oft und fasste sich noch öfter ins Gesicht. Man kam nicht umhin zu befürchten er könne demnächst erkranken.

      Seit über fünfzehn Jahren genieße ich die Vorteile von zwei Wohnsitzen, zwei Häusern, zwei Freundeskreisen, zwei Landschaften und zwei Sprachen. In den letzten Wochen war mir, als trüge ich auch die Belastungen

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