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       ULF KRÄMER

       TANKRED

       UND DIE

       BERGSTEIGER

       ROMAN

      Ulf Krämer, »Tankred und die Bergsteiger«

      © Ulf Krämer

      Lektorat: Sarah Bohnsack

      Umschlaggestaltung: Ulf Krämer, Sarah Bohnsack

      Satz: Boozehound Media mit InDesign

      www.ulfkraemer.de

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg ISBN: 978-3-347-13296-2 (Paperback)

      ISBN: 978-3-347-13297-9 (Hardcover)

      ISBN: 978-3-347-13298-6 (e-Book)

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      FÜR

      SARAH

       TEIL 1

      Ekel, Ekel, Natur, Natur

      Ich will Beton pur

      Blauer Himmel, blaue See

      Hoch lebe die Betonfee

      Keine Vögel, Fische, Pflanzen

      Ich will nur im Beton tanzen.

      S.Y.P.H. – Zurück zum Beton

       Geldof

      Ihr Vater schenkte ihr das Gewehr zu Weihnachten. So war das Ende der Siebziger in Amerika, da legten Eltern ihren minderjährigen Töchtern eine Flinte unter den Weihnachtsbaum. Heute ist es bestimmt schlimmer. So muss es sein, weil immer alles schlimmer wird, schenkt man den Leuten Glauben. Sie öffnet das Fenster ihres Schlafzimmers, beobachtet die Schüler und Lehrer auf dem Schulhof gegenüber, wie sie es schon oft getan hat. Das alles langweilt sie. Zum Glück hat sie das Gewehr. Schießen hat sie von ihrem Vater gelernt. Gute Erziehung für einen orientierungslosen Teenager. Sie lädt die Waffe. Einatmen, ausatmen, den Puls beruhigen. Sie legt an, zielt, achtet auf den Wind, wie stark sich die Blätter an den Bäumen bewegen, visiert einen Mann auf dem Hof gegenüber an. Sie glaubt, dass es sich um den Hausmeister handelt, aber eigentlich ist ihr das egal. Sie drückt ab. Jemand stirbt. Die Menschen auf dem Hof wirken wie eine Herde Schafe. Jetzt rennen sie in Panik durcheinander. Das sieht lustig aus. Einer nach dem anderen sinkt zu Boden. Sie verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer und wartet darauf, dass die Polizei auftaucht, um sie zu erschießen. Doch zuerst ruft die Presse an. Sie weiß nicht, woher der Reporter ihre Nummer hat. Es sei Montag und Montage möge sie nicht, erklärt sie ihm. So einfach kann das sein. Später wird sie verhaftet und wegen Mordes verurteilt.

      Was in der jungen Amerikanerin vor sich gegangen ist, weiß ich nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, mit einem Gewehr auf Leute zu ballern oder aus einer Laune heraus mein Leben wegzuwerfen. So etwas machen Durchschnittstypen wie ich nicht. Aber ich kenne Bob Geldofs Lied über die Ereignisse von damals. Es läuft im Autoradio, während ich vom Geburtstag meines Patenkinds Helga flüchte. Ein Dutzend durchgedrehte Kindergartenkinder sind um mich herumgesprungen und haben dabei gelärmt wie eine Horde Schimpansen. Mir tun die Ohren weh, meine Nerven liegen blank, auf meinem Schuh klebt Marmelade von einer Scheibe Toast, die ein besonders renitentes Schimpansenkind in meine Richtung geschleudert hat. Kinder sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Alles wird immer schlimmer! Der Komparativ als Determinismus. Man sollte nach der ersten kleinen Katastrophe nicht erwarten, plötzlich im Wohlbefinden zu baden, sondern klugerweise das Gegenteil annehmen: die zweite größere Katastrophe. Deshalb plagen mich böse Vorahnungen, seitdem mich meine Mutter zu sich gebeten hat. Am Telefon wirkte sie beinahe hysterisch. Ihre Stimme war erst schrill, dann ganz plötzlich brüchig. So kenne ich sie nicht. Melodramatik liegt ihr nicht.

      Ich parke im Innenhof der Bonner Straße 42 vor dem alten Atelier, das seit Jahrzehnten von wechselnden Künstlern und Studenten bevölkert wird. Meine Mutter wohnt im ersten Stock in der geräumigen Wohnung, die sie von ihren Schwiegereltern geerbt hat. Ich haste die Stufen hinauf und benutze meinen Schlüssel, um einzutreten. Meistens schelle ich vorher an, aber heute erscheint das überflüssig. Meine Mutter sitzt im Wohnzimmer am Fenster und starrt nach draußen. Ich trete neben sie und nehme sie kurz in den Arm. Von hier kann man den Lieferanteneingang der Bürgerpflicht, unserer kleinen Kneipe im Vorderhaus, sehen. Wahrscheinlich ist Önal dabei, alles für den alltäglichen Betrieb heute Abend vorzubereiten.

      Meine Mutter führt mich in ihre Küche. Am Boden liegt in einer Blutlache Laurenz Tillinger. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich zum letzten Mal etwas derartig unvorbereitet getroffen hat. Vielleicht als Lejla damals auf der Mine stand – oder als junges Mädchen vor unserer Tür. Aber das ist gefühlt tausend Jahre her. Ich halte mich am Tisch fest und versuche nicht zu schreien. Laurenz ist der beste Freund meiner Mutter. Seit sie ihm in den Achtzigern zur Flucht aus der DDR verholfen hat, verbindet die Familien Tillinger und Deutsch eine feste Bande.

      »Warum rufst du keinen Krankenwagen?«, frage ich benommen.

      »Ich habe Angst, dass er tot ist.«

      Sie ist aschfahl im Gesicht. Ihre Hände zittern. Ich nähere mich dem scheinbar leblosen Körper am Boden. Laurenz blutet aus einer Wunde am Hinterkopf. Neben ihm auf dem Boden liegt die alte gusseiserne Pfanne, die meine Mutter benutzt, seit ich denken kann. Ich gehe neben Laurenz auf die Knie und halte mein Ohr über seinen Mund. Ganz schwach spüre ich seinen Atem. Erleichterung erfasst mich.

      »Scheiße, Mama. Was ist passiert?«, flüstere ich leise, als könne meine Stimme Laurenz’ Atem zum Erlöschen bringen.

      »Wir haben uns gestritten«, sagt meine Mutter und ich sehe sie weinen, zum ersten Mal in meinem Leben. Vielleicht hat sie geweint, als mein Vater gestorben ist, aber damals war ich noch so jung, ich habe in meinem Schmerz nur mich selbst wahrgenommen.

      »Und dann hast du ihn erschlagen?«, frage ich plötzlich nervös.

      Sie zuckt zurück, wirkt verschreckt, als habe ich etwas Ungeheuerliches von mir gegeben. Einen Moment hoffe ich zu träumen, dann wähle ich die 112. Viel zu spät.

      »Was ist mit Linus und Anna?«, erkundige ich mich nach meinen Geschwistern.

      »Anna ist mit ihrer Freundin weg. Die planen etwas wegen ihrer Reise nach Laos. Und Linus geht nicht ans Telefon.«

      Das ist nicht weiter überraschend. Arbeitet mein Bruder nicht in unserem gemeinsamen Laden, sitzt er zuhause auf dem Sofa und schaut Fernsehen. Dabei lässt er sich nicht gern ablenken. Am anderen Ende der Notrufnummer meldet sich eine Frau. Ich erkläre ihr, wer und wo ich sei und dass ein schwerverletzter Mann in der Küche meiner Mutter liege.

      »Ich raff das nicht, Mama!«, sage ich, nachdem ich aufgelegt habe, und beuge mich erneut zu Laurenz hinunter. Ich kann nicht besonders gut mit Verletzten umgehen und einen Ersthelferkurs habe ich seit der Fahrschule nicht mehr besucht. Das ist schon fast zwanzig Jahre her. Vielleicht sollte man Laurenz in die stabile Seitenlage bringen, aber ich erinnere mich nicht, wie das geht. Ich streiche ihm hilflos über die Wange und halte seine Hand. Er reagiert nicht. Aus der Wunde am Hinterkopf sickert dunkelrotes Blut. Vermutlich wäre es klug, den Fluss zu stoppen. Kann ich auf eine offene Kopfwunde ein Handtuch drücken? Was ist, wenn er einen Schädelbruch hat? Ich schätzte das Gewicht der schweren, alten Pfanne, die neben mir am Boden liegt, auf vier bis fünf Kilo. Ordentlich geschwungen und mit der passenden Hebelwirkung kann man damit einen Knochen

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