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Luxus: zum ersten Mal seit langer Zeit darf sie Zeit haben und sich die Zeit nehmen.

      Sechs Wochen später ein neuer Mensch. Zwar noch klapprig auf den Beinen, aber lebenslustig. Was jetzt? Sie setzt sich aufs Fahrrad und fährt ins Zentrum des kleinen verträumten Ortes, in dem sie wohnt. Dieser idyllische Ort, irgendwo in Deutschland,- welch ein Unterschied zur Hektik der Weltstädte, in denen sie Modeschauen und Messen besuchte!

      Harriette betritt den einzigen ansässigen Buchladen auf der Suche nach Reiseliteratur. Was fällt ihr auf? Regale voller Reiseführer exotischer Länder, aber nur zwei Bücher über Kenia. Dieses ostafrikanische Land kennt sie nur vom Film.

      ‘Jenseits von Afrika’ hat sie zigmal gesehen. Es ist die Lebensgeschichte im kolonialisierten Kenia der dänischen Baroness Karen Blixen1, gespielt von Meryl Streep und ihrem Liebhaber Denys Finch Hatton, dargestellt von Robert Redford. Harriette erinnert sich an die romantisierte Szene, in der Finch Hatton am Ufer eines Flußes mitten in der Wildnis die Haare der Baroness wäscht.

      Harriette kauft einen der beiden Reiseführer, um sich schon mal einzulesen und sich mit diesem Land vertraut zu machen. Sie bucht einen Flug nach Nairobi. Keine Rundreise, schon gar keine Gruppenreise, nur einen Hin- und Rückflug mit zwei Übernachtungen in Nairobi. Das gibt ihr genügend Zeit, sich vor Ort zu entscheiden, wo, wie und was sie unternehmen möchte, sie ist frei! Sie will sich einfach treiben lassen, vier Wochen lang.

      Eine Woche später ist Harriette mit Rucksack unterwegs nach Nairobi.

      *

      Sie betritt eine andere Welt. Nairobi, eine unpersönliche, hektische, verschmutzte Stadt.

      Eine Stadt ohne Seele. Nairobis Fairview Hotel hingegen – gelegen auf einem Hügel an der anderen Seite des zentral gelegenen Uhuru Parks - läßt noch immer etwas vom alten Glanz der vergangenen Kolonialzeit erahnen. An der Rezeption und in den Hotelgängen Männer in Kanzus – weiße, mit Kwasten versehene lange Gewänder, auf dem Kopf ein kleiner krempenloser, roter Männerhut mit schwarzer Kwaste, auch Kofia genannt. Zimmermädchen in rosa-weiß karierten Kleidchen mit frisch gestärkten weißen Schürzchen und weißen Häubchen. Die Gänge und Zimmer - alle ein bisschen schäbig - und doch ist da diese mysteriöse und magische Ausstrahlung. Es ist, als ob die Zeit stehengeblieben ist. Hier könnte jeden Augenblick ein Großwildjäger auftauchen! Wenn dieses Gebäude sprechen könnte!

      Sie bewohnt ein kleines Zimmer mit Blick auf den hinteren Teil des Gartens. Ein Bett mit Moskitonetz und weißen Spitzenkissen. In der Ecke ein kleiner geschnitzter Sekretär mit Perlmuttintarsien. So muss es hier wohl gewesen sein, als Karen Blixen von Dänemark nach Kenia auswanderte, denkt sie und schaut aus dem Fenster in den tropischen Garten, der sie vergessen lässt, dass sie sich in einem Stadthotel aufhält. Ein sorgfältig gemähter Rasen mit hohen Palmen, die sich sachte im Wind wiegen, riesige Oleanderbüsche und Kakteen - wie im Film!

      Harriette beschließt, sich auf die Spuren von Karen Blixen zu begeben. Blixen war ihrer Zeit weit voraus. Eine Frau der High Society, die aber auch mit anpackte. Sie verließ ihr Heimatland Dänemark und ihr Elternhaus um in Afrika ein neues Leben zu beginnen. Harriette ist fasziniert von ihr: eine Frau, stolz und eigenwillig, mit Stil und Klasse, die schöne Kleidung und Luxus liebte, aber auch die Ärmel hochkrempelte.

      Harriette besucht den Stadtteil ‘Karen’ am Rande Nairobis, in dem Blixen gelebt und gearbeitet hat. Von ihrer ehemaligen Kaffeeplantage ist nichts mehr zu sehen, aber der noch existierende ‘Muthaiga Club’ läßt der Fantasie freien Lauf. In den Zwanzigerjahren war dies ein geschlossener Club für die Elite von Britisch-Ostafrika, der späteren Britischen Kolonie Kenia, und bis heute ist er ein Club für die Oberschicht von Nairobi. Der alte Glanz und Pomp ist auch heute noch zu erahnen.

      Harriette durchkreuzt das moderne Nairobi. Eine Stadt mit gläsernen Wolkenkratzern und Verkehrstaus. Sie besucht Galerien und ist beeindruckt von der Vielfältigkeit der dort zu bewundernden Kunst. Eine Menge Talent in diesem Land! Und sofort taucht ein Gedanke auf, der sowohl aus Hariettes Geschäftssinn als auch ihrem Sinn für Stil und Schönheit geboren wird. Was wäre, wenn ich diese Kunst in Europa einführen würde? Nein … ich habe keine Erfahrung mit Dingen wie Kunst… aber etwas ganz anderes tun, als was ich bisher getan habe, ist doch was ich will… ein anderes Territorium betreten, neue Aufgaben, neues Fahrwasser … vielleicht ein schönes Geschäft mit exklusiven afrikanischen Artikeln in Deutschland oder Holland eröffnen … oder ein Import-Export Geschäft beginnen … oder gleich hier in diesem Land bleiben und von hier aus die Ware exportieren? So schwirren erste Gedanken durch ihren Kopf.

      Sie begibt sich auf ihre erste Safari in der Massai Mara. Atemberaubende Wildnis in einer endlos erscheinenden Landschaft. Die Savanne. Leben in einem kleinen Zelt. Harriette denkt an die Filmszene, in der Blixen und Finch Hatton mitten in der Wildnis vor ihren Zelten an einem Lagerfeuer dinieren. Ihr eigenes kleines vergammeltes Zelt ist weniger romantisch, von einem schönen Mann am Lagerfeuer ganz zu schweigen. Nächtliches Hyänengeheul und Löwengebrüll - Harriette ist fasziniert und will mehr sehen von diesem Land und seiner Natur: sie will alle Landschaften erleben, die in ‘Out of Africa’ vorkommen.

      Sie reist weiter. Mit dem Bus nach Nakuru und dem Nakurusee, hundertsechzig Kilometer nordwestlich von Nairobi. Dieses Vogelschutzgebiet ist weltweit bekannt durch das Naturschauspiel der zwei Millionen Flamingos, die dort leben.

      Harriette muss das gesehen haben! Wieder sieht sie eine Filmszene vor sich: Blixen mit ihrem Finch Hatton im kleinen Doppeldecker fliegend über den von der Sonne glitzernden Nakurusee mit Tausenden von Flamingos unter ihnen.

      “Bist du schon an der Ostküste gewesen?”, fragt ein australischer Tourist abends in der Nakuru Lodge. Ned – halb sitzend, halb liegend in einem der kunstledernen Lounge-Sesseln mit einer Dose Tusker-Bier in der Hand: groß, breit, blond und langhaarig – sein Bandana etwas zu tief in die Stirn gezogen, braune Bermudas und ein verschwitztes ärmelloses T-Shirt, das seine behaarten Schultern gnadenlos sämtlichen Blicken aussetzt - Nein, kein erquickender Anblick, dieser Ned….

      “Nein, aber da will ich noch hin! Ich werde in den kommenden Tagen nach Mombasa fliegen und von dort aus die Küste bereisen”, antwortet Harriette.

      “Mombasa kann man vergessen! Einfach schrecklich! Die Ostküste dagegen ist schön! Also, wenn du in Mombasa ankommst, nichts wie weg da!”, grinst Ned. Harriette ist also vorgewarnt.

      Mombasa ist - wie Nairobi - laut, hektisch, verschmutzt. Nur viel wärmer. Eine schweißtreibende Hafenstadt am Indischen Ozean.

      Auf dem Weg vom Flughafen zur Innenstadt entkommt Harriette nicht dem Anblick der Elendsviertel, die sich kilometerlang an der Straße entlangziehen. Spindeldürre Kühe stehen apathisch am Wegesrand, Ziegen suchen auf den zahlreichen Müllbergen nach Essbarem, verwahrloste Hunde liegen im Schatten karger Bäume. Ein unerträglicher Gestank schlägt ihr entgegen. Und Menschen, Menschen überall. Männer in zu langen und zu weiten Hosen, zerrissenen, schmutzigen T-Shirts oder Hemden, lässig über die Hosen hängend. Männer mit Flip-Flops oder Sneakern. Frauen mit Kangas – große, bunte Stofflappen, die dazu dienen, ihre unterliegende Kleidung vor Staub und Schmutz zu schützen - um Taille und Kopf gewickelt. Frauen mit Kindern auf dem Rücken und Wasserkanistern auf dem Kopf. Diese Menschen haben ihre Kioske entlang der Zufahrtsstraße. Sie verkaufen, handeln und reparieren Fahrräder. Sie schleifen Messer und putzen Schuhe. Ohrenbetäubender Lärm durch Lastkraftwagen, Gehupe, laute Musik, Geschrei. Auch das ist Kenia, denkt sie.

      Sie übernachtet in einem kleinen, sehr einfachen Hotel im Zentrum von Mombasa und hat nur einen Wunsch: so schnell wie möglich weg von hier! Der Australier hatte Recht! Da sitzt sie nun in ihrem kargen Zimmer mit grünen Wänden, verschwitzt im Schneidersitz auf ihrem quietschenden Bett. Wie lieblos dieses Zimmer ist! Na ja, es kostet auch fast nichts!

      Harriette schaut sich die Karte ihres Reiseführers an: morgen in Richtung Südküste nach Diani, oder doch in Richtung Norden nach Malindi? Sie entscheidet sich für den Norden. Auf nach Malindi!

      Aus dem Duschkopf tröpfelt ein jämmerliches Rinnsal. Es dauert eine Weile, bis Harriette ihren eingeseiften Körper abgespült hat. Mit dem

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