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vergessen hatte. Doch noch bevor sie dazu kam, ihn an Peter zu erinnern, trat ein Mann aus einer der Nischen auf sie zu. Er hatte die Szene gut getarnt hinter einem Pfeiler beobachtet und fühlte sich nun angesprochen einzugreifen.

      Grete erschrak zunächst, als er sich höflich über ihre Hand beugte. Doch dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und die Freude über sein unerwartetes Auftauchen trieb ihr die Röte in die Wangen. „Sie, Herr Kommissar Burchardy?“, entfuhr es ihr überrascht.

      „So unverhofft trifft man sich wieder, mein schönes Kind“, hauchte er und fügte etwas leiser, nur für sie verständlich hinzu: „Wollen Sie mich nicht Aristide nennen?“, und führte ihre Hand wie die einer Dame an seine Lippen, wo er sie ein wenig zu lange küsste. Grete schmolz dahin und hörte kaum noch auf das, was er sagte. Fasziniert tauchte sie in die männlichen Züge ein, von denen sie sich in ihrer keuschen Vorstellung nicht nur Hilfe, sondern auch ein wenig die Erfüllung ihrer heimlichen Träume versprach.

      „Ich befinde mich inkognito hier. Die Arbeit, Sie verstehen?“, log er, als er die Verwunderung in ihren blauen Augen sah. „Aber dass ich Sie hier im Spielsalon zu dieser Stunde treffen muss, an einem Ort, der so gar nicht zu einem jungen Mädchen passt … damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.“

      Da die Zeit drängte, machte sie sich keine Gedanken darüber, was den Kommissar zu so früher Stunde in das zweifelhafte Etablissement getrieben hatte. Stattdessen vergaß sie, was sie dem Vater versprochen hatte und erwiderte ohne Umschweife: „Welche glückliche Fügung. Sie sind mein Retter in der Not, Herr Burchardy. Der wilde Knabe ist aus seiner Kammer verschwunden. Bitte helfen Sie mir, ihn wiederzufinden!“

      „Über diese Neuigkeit bin ich bereits informiert“, lächelte er. „Aber mit Ihrem Vater steht es wohl nicht mehr zum Besten. Er wird uns keine große Hilfe dabei sein.“

      Müller hatte sich bei der Nennung seines Namens erhoben. Den Krug noch an den Lippen versuchte er einen Kratzfuß, ging jedoch schwankend in die Knie. Der Kommissar beugte sich über ihn und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Doch kaum stand er wieder auf den Füßen, als er erneut zusammenbrach.

      „Es hat keinen Sinn“, stellte Aristide fest und schüttelte vor Grete verständnisvoll den Kopf. „Kommen Sie! Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern. Die Stadttore sind um diese Zeit alle geschlossen. Der Knabe befindet sich sicher noch in der Stadt.“ Schnellen Schrittes begleitete er sie zur Tür hinaus.

      Auf der Straße pfiff er nach der Kutsche und half Grete rasch hinein. Bevor das Gespann sich polternd in Bewegung setzte, befahl er dem Kutscher, jede Ecke und jeden Winkel mit den Augen abzusuchen. „Wir werden ihn finden, ich verspreche es, Jungfer“, beruhigte er Grete, die keinen Blick vom Fenster wandte.

      Nach einer Weile ziellosen Suchens fragte er sie plötzlich leise: „Haben Sie nicht bei dem Knaben etwas gefunden, was auf seine Herkunft schließen könnte? Einen Fetzen Kleidung vielleicht? Ich dächte, er hätte so etwas um den Hals gehabt?“

      Grete wandte ihm ohne Argwohn das Gesicht zu und wollte gerade beginnen, von dem Hemd zu erzählen und dem, was sie entdeckt hatte, als der Kutscher vom Bock herabrief: „Da vorn ist etwas, Euer Ehren, bei der Fischpforte!“

      Mit einem Mal waren die Gestalten der Nacht, die Bettler, Diebe, Katzen und streunenden Hunde, die das einsame Gespann auf seinem Weg durch die Straßen begleitet hatten, wie vom Erdboden verschwunden. Die Straße vor ihnen öffnete sich und der Kutscher hielt auf eine Gruppe Gestalten zu, die sich mit Fackeln vor der alten Getreidemühle verdächtig machten.

      „Treib sie mit der Peitsche auseinander!“, rief ihm der Kommissar zu und tätschelte Gretes Hand. „Ich glaube wir haben Glück. Es sieht so aus, als ob sich da etwas im unteren Wehr verschanzt hat. Möglich, dass der Gesuchte dort Schutz vor dem Pöbel sucht.“

      „Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr! Hoffen wir, dass er es ist!“, antwortete Grete und wartete nicht ab, bis die Kutsche anhielt. Als sie langsamer wurde, sprang sie zur Tür hinaus auf die Straße und boxte sich mit den Ellbogen bis an das massive Gerinne heran, welches die Wasserzuführung zu den Mühlenrädern sicherte. Zwischen den zwei unterschlächtigen Rädern glaubte sie, den wilden Haarschopf des Knaben zu erkennen. Er konnte jeden Moment zwischen den gewaltigen Schaufeln zermalmt werden. Schaulustige schauten von oberhalb der Wehr herab und warfen lachend und witzelnd mit Steinen nach ihm.

      „Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr Christen oder Tiere? Das ist doch noch ein Kind!“, schrie sie, während sie sich auf die Knie niederließ und in das Dunkel der Wehr rief: „Peter, ich bin es! Grete!“, in der Hoffnung, dass der wilde Knabe sich an sie erinnerte und ein Lebenszeichen von sich geben würde.

      Ein Krächzen, das wie ein heiseres Bellen klang, war die Antwort, dann ein Plätschern und dann Stille. Noch standen die gewaltigen Räder still. Noch leitete der Freifluter am Gerinne das Wasser am Rad vorbei. Doch den schaulustigen Bettlern, Tagelöhnern und Bauern auf dem Weg zu ihrer Arbeit war das ungewöhnliche Spektakel eine willkommene Abwechslung. Der Müller, ein großer, bärtiger Mann, hatte die Hand mit der Axt erhoben. Er schien sich in der Pose des Henkers zu gefallen und kostete dieses Gefühl vor den ihn anfeuernden Leuten aus. Nach dem kurzen Augenblick der Eitelkeit würde er den Riegel an der Klappe zur Schutzwehr öffnen und die gewaltigen Mühlräder würden mit Getöse ihre Tätigkeit aufnehmen.

      „Haltet ein!“, schrie Grete und rannte gegen den Mann an, um ihm das Werkzeug zu entreißen. Doch der versetzte ihr einen Tritt und stieß sie in die Arme von Meister Bertram. Für einen Moment starrte sie den Knochenhauer an wie eine Erscheinung. Dann rang sie die Hände vor ihm: „Was hat der Junge Euch denn getan, Meister Bertram?“ Die Begegnung am Morgen fiel ihr ein und sie hoffte, dass ihn ihre Tränen erweichen würden.

      „Was suchst du zu dieser Stunde hier, Grete?“ Bertram zeigte sich erstaunt und zögerte einen Moment, bevor er ihr antwortete: „Es ist doch nur ein Wolfskind und es hat mir Fleisch gestohlen!“

      „Das stimmt nicht. Es mag kein Fleisch. Bitte helft ihm! Der Müller darf ihn nicht töten. Peter steht unter dem Schutz des Bürgermeisters.“

      „Peter …?“

      Meister Bertram stutzte, bevor er bedauerte: „Ich kann ihm nicht helfen, Grete. Niemand kann das. Er wird nicht freiwillig aus seinem Schlupfloch herauskommen. Da ist es schon besser der Müller erspart ihm einen qualvollen Tod. Oder möchtest du zu ihm hinunterklettern und ihn herausholen?“ Grete sah den Knochenhauer betreten an. Daran, dass Peter sich nicht freiwillig retten lassen würde, hatte sie nicht gedacht. „Siehst du, von dem Wilden lädieren lassen möchtest du dich auch nicht“, bemerkte er, als er von dem Müller unterbrochen wurde.

      „Er hat recht, Jungfer. Steh uns nicht weiter im Weg. Ich ersäufe den Wolf und damit basta. Außerdem, sieh an, was dieses wilde Tier angerichtet hat. Allein das berechtigt uns, es zu ersäufen, bevor es noch mehr Unheil anrichtet.“

      Der Müller zog einen ungefähr siebenjährigen Jungen aus der Menge und schob ihn zwischen Grete und den Knochenhauer. Der Knabe wankte und drohte hinzufallen. Ein Weib stürzte herbei und presste ein Stück Stoff auf eine tiefe Wunde an seinem Hals, die gefährlich nahe bei der Kehle lag.

      „Sieh dir die Wunde genau an, Jungfer. Wie der Teufel ist der Menschenwolf über das Kind hergefallen“, brummte der Müller. „Ich töte bestimmt keine Kinder, aber das hier ist keins. Außerdem müsste das Korn schon längst gemahlen werden. Seinetwegen stehen die Räder still. Der Wilde wird sein Versteck nicht verlassen.“ Er ließ sie stehen und hob erneut den Arm mit der Axt. Grete sah sich hilflos um. Doch in den versteinerten Gesichtern fand sie kein Mitleid. Da erklang rechtzeitig die kräftige Stimme des Kommissars in ihrem Rücken und sie atmete erlöst auf.

      „Ein Kind wurde gebissen. Nun gut. Aber was sucht es überhaupt zu dieser Zeit auf der Straße? Müller, Er weiß doch sicher, dass Kinderarbeit zu so früher Stunde verboten ist. Habe ich Ihn nicht erst vor einer Woche verwarnt, weil Er das Korn auf seinem Getreideboden, auf dem ein erwachsener Mann nicht einmal gebückt arbeiten kann, von Kindern in die Mühle schaufeln lässt? Und nun betreibt Er auch noch Lynchjustiz? Dass das ein Verbrechen ist und Er sich vor dem ehrenwerten

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