Скачать книгу

gibt es typische Soldatenfamilien, in denen sich die Berufswahl für die (bislang) männlichen Angehörigen ausschließlich auf den Militärdienst fokussiert. Über viele Generationen hinweg sind aus ihnen verdiente Offiziere hervorgegangen. Die Namen der für den Kriegsdienst Untauglichen wurde eher schamhaft verschwiegen. Es ist eine eigene Welt mit einer eigenen Sprache, die in ihrer früher häufig verzerrenden Semantik Begriffe wie den des Heldentodes prägen konnte. In der „Ahnengalerie“ hängt an prominenter Stelle die metallisch glänzende Daguerreotypie des Ururgroßvaters, der an vorderster Front erfolgreich gegen Napoleon gekämpft haben soll. Die Bilderserie wird vervollständigt durch die Phalanx von Ritterkreuzträgern aus zwei Weltkriegen und die Gründerväter der Bundeswehr. Mittlerweile sind die eher fragwürdigen Werte aus früherer Zeit gegen zeitgemäße ersetzt worden. Geblieben ist lediglich der Ehrgeiz der Söhne, ihre Väter karrieretechnisch überflügeln zu wollen.

      In meiner Familie vermag ich ein derartiges Traditionsverständnis nicht zu erkennen. Selbst die akribische Suche in den feinsten Verästelungen unseres Stammbaumes fördert fast ausschließlich Schuhmacher, Gastwirte, Lehrer und Kaufleute zutage. Beleg für die einzige Ausnahme hiervon ist eine Schwarzweißfotografie im Fotoalbum meiner Großmutter. Sie zeigt einen schneidigen jungen Mann in der schmucken Uniform der k.u.k. Armee. Der Großonkel Janni sei an einem Kriegsleiden gestorben, wurde gerne kolportiert. Spätere Nachfragen ergaben jedoch, dass ihn die Syphilis dahingerafft hatte. Ansonsten wurde man in meiner Herkunftsfamilie nur im Kriegsfall zum Militärdienst herangezogen und starb dann eher unfreiwillig als Soldat.

      Meinen Großvater väterlicherseits habe ich nie kennengelernt. Als Oberlehrer war er in der alteingesessenen badischen Gastwirtsfamilie eher eine Fehlfarbe. Der Umstand, dass er meinen Vater auch in der Schule unterrichtete, war für diesen eher von Nachteil. Das Anspruchsniveau muss besonders hoch gewesen sein. Im Übrigen favorisierte meine Großvater Otto die körperliche Züchtigung als wesentliches Element der Erziehung. Respekt und Autorität verschaffte sich damals wohl nur derjenige, der auch gefürchtet wurde. Überliefert ist mir allerdings auch die tiefe Abneigung meines Großvaters gegen das Militär und die nationalsozialistischen Umtriebe zu jener Zeit. Den Beitritt meines Vaters zum Jungvolk duldete er nur unter dem damals üblichen „gesellschaftlichen Zwang“, verbot ihm aber zuhause das Tragen der Uniform.

      Ein einziges Mal hatte es wohl so etwas wie ein offenes Gespräch zwischen Vater und Sohn gegeben. Als sich mein Großvater Otto verabschiedete, um seinen Kriegsdienst als Sanitätssoldat anzutreten, soll er meinen Vater zum ersten Mal wie einen Erwachsenen behandelt haben. Er übertrug dem damals Dreizehnjährigen die Verantwortung für die Familie. Nur wenige Wochen darauf verstarb mein Großvater in einem Feldlazarett bei Freising an Typhus. Dass der gerade begonnene Dialog in seiner neuen Qualität nicht mehr fortgesetzt werden konnte, darunter hat mein Vater zeitlebens gelitten. Als einziger „Mann“ im Matriarchat seiner damaligen Familie war mein Vater nach Kriegsende dafür verantwortlich, aus den Trümmern der durch Bomben zerstörten Heimat ein neues Heim zu bauen. Für eine Aufarbeitung der psychischen Folgen des Krieges blieb keine Zeit.

      Die Familie meiner Mutter gehörte zur Volksgruppe der Banater Schwaben. Angelockt durch allerlei finanzielle Anreize und Landversprechungen durch die österreichische Kaiserin Maria Theresia, verließen im 18. Jahrhundert viele verarmte Handwerker und Bauern ihre Heimat in Franken, der Pfalz, dem Elsass und Lothringen, um auf dem Balkan ihr Glück zu suchen. Dort besiedelten sie das heutige Grenzgebiet zwischen Ungarn, Serbien und Rumänien und begannen unverzüglich mit der Kolonialisierung dieser rückständigen Region. Die Banater Schwaben lebten über zwei Jahrhunderte wie die Maden im Speck, bis sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der herannahenden Sowjetarmee flüchteten oder später vom kommunistischen Regime Rumäniens in die Baragan-Steppe deportiert wurden.

      Mein Großvater Hans kam seiner unausweichlichen Einberufung in die rumänische Armee zuvor. Seine Meldung als sogenannter Einjährig-Freiwilliger eröffnete ihm zumindest eine minimale Gestaltungsoption im Hinblick auf seinen Kriegsdienst. Die Standardwaffen meines Großvaters waren in der Folgezeit Lineal und Bleistift und sein Einsatzraum die Schreibstube. Worauf er keinen Einfluss hatte, war, dass alle Volksdeutschen, die in der rumänischen Armee dienten, gegen Kriegsende von der SS-Division „Prinz Eugen“ assimiliert wurden. Deren vordringliche Aufgabe war die Partisanenbekämpfung auf dem Balkan. Dort kam es dann auch zum einzigen Kampfeinsatz meines Großvaters. Als Partisanen den Zug, mit dem seine Kompanie in Richtung der bosnischen Grenzstadt Gradiska verlegte wurde, nachts angegriffen, schoss er mehrfach durch die geöffnete Waggontür nach draußen. Dass er dabei jemanden ernsthaft verletzt haben könnte, darf als unwahrscheinlich gelten. Nachdem der Balkan für das Deutsche Reich allmählich verloren ging, erhielt mein Großvater noch einen wahren „Ritterkreuz-Auftrag“. Er sollte in Südtirol nach dem Verbleib eines verschollenen Güterwaggons mit Wehrmachtsbekleidung forschen. Das tat er mit großer Hingabe, äußerst gewissenhaft und erfolglos. Allerdings verschaffte er sich auf diese Weise, zumindest zeitweise, eine sichere Distanz zum mörderischen Treiben auf dem Balkan. Ob dies ein bewusster Plan oder einfach nur Glück war, ist mir nicht bekannt.

      Im April 1945, kurz vor Kriegsende, traten die Reste seiner Kompanie mit einem der letzten Lazarettzüge von Gradiska aus den Rückzug Richtung Heimat an. Zwei Wochen dauerte die Fahrt über Triest und Udine bis zur südlichen Einfahrt des Tauern-Tunnels. Dort war die Reise zu Ende. Der Krieg war mittlerweile vorüber, und die Amerikaner, die den nördlichen Tunnelausgang blockiert hatten, ließen niemanden mehr passieren.

      Nachdem er des nervtötenden Wartens überdrüssig geworden war, machte sich mein Großvater zusammen mit einem Kameraden zu Fuß auf den beschwerlichen Marsch über die Hohen Tauern. Es gelang den beiden tatsächlich, sich unbemerkt an den Amerikanern vorbei zu schleichen und südlich von Rosenheim deutschen Boden zu erreichen. Dort allerdings wurden sie von einem Bauern, in dessen Scheune sie die Nacht verbracht hatten, an die Besatzungstruppen verraten. Das Denunzieren steckte wohl in manchem Deutschen so tief drin, dass es auch nach Kriegsende noch praktiziert wurde.

      So geriet mein Großvater Hans, quasi auf der Zielgeraden, doch noch in Kriegsgefangenschaft. Etwas mehr als ein Jahr verbrachte er in den amerikanischen Internierungslagern von Hohenfels, Plattling und Bad Aibling. Zahlreiche Briefe, die er in dieser Zeit geschrieben hat, belegen, wie sehr er unter der Trennung von seiner Familie gelitten hat.

      Die Frauen und Kinder meiner großelterlichen Familie nutzten einen der letzten Flüchtlingstrecks und verließen fluchtartig ihre Heimat. Über zahlreiche Zwischenstationen in Serbien, Österreich, der damaligen Tschechoslowakei und Bayern gelangten sie schließlich in eine neue Heimat im nordbadischen Mingolsheim.

      3. Begegnungen

      Die Zufälligkeit der eigenen Existenz ist für mich in der Rückschau fast ein wenig erschreckend. Wie gering war doch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu den Begegnungen kam, die für meine Menschwerdung grundlegend waren. Jemand, dessen irdisches Dasein nicht durch Weltkrieg, Flucht und Vertreibung sowie der Herkunft aus völlig unterschiedlichen Milieus beeinflusst worden ist, kann das vermutlich nicht nachvollziehen.

      Das Zusammentreffen meiner Eltern stand eigentlich unter keinem besonders guten Stern. Im Nachkriegsdeutschland beherrschten oft Ressentiments das Verhältnis zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Flüchtlingen. Letztere standen in dem Ruf, in ihrer verlorenen Heimat über die Maßen privilegiert und wohlhabend gewesen zu sein. Folglich war die Bereitschaft, das Wenige des Nachkriegsalltags mit ihnen zu teilen, nicht sehr ausgeprägt. So erklärt sich auch, dass der Zustrom von Millionen entwurzelter Ostpreußen, Schlesier, Sudetendeutscher, Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben keine Welle der Hilfsbereitschaft auslöste, sondern häufig nur Missgunst und Ausgrenzung förderte.

      Diese bedrückende Erfahrung machte anfangs auch die Familie meiner Mutter. Nach einer langen Flucht fanden Großmutter, Mutter und zwei Töchter, als Angehörige der niederen „Flüchtlings-Kaste“, Unterschlupf in einem ehemaligen Bahnwärterhäuschen. „Habenichtse“ war eine der harmloseren Bezeichnungen, an die sich meine Mutter als damals Dreizehnjährige noch lange erinnern sollte. Die zugewiesenen Quartiere waren häufig von allem beweglichen Mobiliar geräumt und wurden erst nach und nach, im Zuge vertrauensbildender Maßnahmen, wieder komplettiert. Die Vervollständigung der Familie hingegen

Скачать книгу