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mehr zu tun. Aber es ging alles so schnell und ich brauche noch etwas Zeit, um mich an dieses neue Leben zu gewöhnen.

      Meinen Ruhestand - auch kein schönes Wort - hat mir ein neues Gesetz mit der etwas sperrigen Bezeichnung: „Streitkräfte-Personalstruktur-Anpassungsgesetz“ kurz „SKPersStruktAnpG“ ermöglicht. Mit dessen Hilfe sollte die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr unterstützt werden. Für einige wenige Privilegierte bedeutete dies, dass sie ab dem fünfzigsten Lebensjahr vorzeitig aus dem „aktiven Dienst“ ausscheiden durften. Beantragen konnte man das allerdings nicht. Aus rein „dienstlichem Interesse“ würde man gezielt angesprochen, hieß es nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt - und ich wurde angesprochen.

      Ich bin erst 53 Jahre alt und befinde mich im vorzeitigen Ruhestand. Das sind die Fakten. Vor mir liegt die einmalige Chance, etwas Neues anfangen zu können. Etwas, das ich schon immer tun wollte, sobald ich mit dem Arbeiten aufhören würde. Künftig kann ich mir den Luxus erlauben, ohne Fremdbestimmung, frei von Sachzwängen, meine Lebensentscheidungen zu treffen. Ich darf nun meine Fähigkeiten und mein Potenzial so einsetzen, wie ich es gerne möchte. Und vor allen Dingen, würde ich meine Arbeitszeit flexibel und frei gestalten können.

      Das alles versuche ich dem jungen Mann zu erklären, ohne dass dabei der Eindruck entsteht, ich müsste mich rechtfertigen. Für mich selbst klingt das alles absolut glaubwürdig und überzeugend. Nur, es ist ein normaler Wochentag und ich liege am frühen Nachmittag mit der Zeitung auf dem Sofa. Ich sehe aus wie ein typischer Rentner.

      Wie bin ich nur hierher gekommen? Gut, das mit dem Sofa kann ich noch erklären, aber meine Verwandlung nicht. Nur wenige Wochen sind seit diesem Anruf vergangen, der mein Leben verändern sollte.

      Ich saß in meinem Büro und das Telefon klingelte. Im Display sah ich die Rufnummer von P. Im dienstlichen Leben eines Soldaten (insbesondere dem des Berufssoldaten) gibt es eine entscheidende Instanz, die über sein oder ihr dienstliches Wohlergehen entscheidet. Das ist der zuständige Personalreferent. Er entscheidet im Wesentlichen über Verwendung und Versetzung. Der Einfachheit halber und weil es eigentlich keine Rolle spielt, wer in Persona an diesen Schalthebeln sitzt, nenne ich ihn (in meinem Fall waren es noch ausnahmslos Männer) im Folgenden nur P. Weil ich nun Gespräche mit P nicht zu den erfreulichen Episoden in meinem dienstlichen Leben zähle, war ich spontan in Alarmbereitschaft.

      „Wenn Sie einverstanden sind, würden wir Sie bis zum Ende des Jahres vorzeitig in den Ruhestand schicken“, war seine zentrale Botschaft an mich. Mein Blick flog zum Kalender, es war Mitte November. Als ob er mich dabei beobachtet hätte, fügt er hinzu: “Wenn es Ihnen zu schnell geht, können wir Ihr Los auch zurück in die Trommel werfen. Aber ob wir Sie noch einmal ziehen, ist eher unwahrscheinlich.“ Wer wirft denn die halbe Million zurück in den Topf, in der vagen Hoffnung die Ganze gewinnen zu können? Meine Antwort kam hastig und ein wenig gepresst: “Ich mach’s.“ Eigentlich wäre an dieser Stelle ein Luftsprung angezeigt gewesen, aber meine Füße waren wie am Boden festgedübelt. In meinem Kopf war nur noch weißes Rauschen. Was hatte ich getan?

      Viel Zeit zum Nachdenken blieb mir allerdings nicht. In nur wenigen Wochen musste mein Übergang ins zivile Leben vollzogen sein. Von der häufig gepriesenen Fürsorge meines Dienstherrn war in dieser Phase allerdings wenig zu spüren. Alle Informationen, die für einen angehenden Ruheständler wichtig gewesen wären, wie zum Beispiel die Höhe der Versorgungsbezüge oder die Aktivierung der Krankenversicherung, musste ich mir selbst beschaffen. Meine Frage nach einem Seminar, das die Bundeswehr anlässlich der Vorbereitung auf das Dienstzeitende anbietet, wurde mit dem lapidaren Hinweis auf die in meinem Fall zu knappe Zeit zurückgewiesen. Ich konnte noch nicht einmal ein hilfreiches Merkblatt aus dem bundeswehreigenen Intranet herunterladen, weil mir die entsprechende Berechtigung fehlte. Natürlich wollte ich die Bundeswehr gerne verlassen, aber ich wollte nicht vor die Tür gesetzt werden wie ein lästiger Kneipenbesucher.

      Dann war er da, mein letzter Arbeitstag. Er kam wie alle Arbeitstage zuvor und verlief vollkommen unspektakulär. Ich habe mich nur von einigen wenigen Kameraden, Kolleginnen und Kollegen verabschiedet.

      „Da geht er, der Auserwählte“, riefen mir die Kameraden ein wenig neidisch hinterher. Einige hatten - inspiriert durch mein Beispiel - ebenfalls mit einem vorzeitigen Ruhestand kokettiert. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch der einzig Erfolgreiche. Eine offizielle Verabschiedung hatte ich abgelehnt. Kein kurzer Abriss meines dienstlichen Werdeganges, die Aufzählung meiner Dienstposten gekrönt von lobenden Worten über Verdienste und herausragende Leistung. Auch kein Wappen mit Messingschild: „Zur Erinnerung an - was auch immer“ und keinen Gutschein für den großen Buchladen um die Ecke. Bei keiner Gelegenheit wird derart heftig gelogen wie bei Beerdigungen oder Verabschiedungen. Welche ehrlichen Worte hätte ich in dieser Situation auch erwarten können? „Oberstleutnant O. hat seine Karriere als Alleinerziehender begraben. Ohne dienstliche Perspektive bleibt es nun ihm und dem Dienstherrn erspart, noch weitere sieben Jahre auf das Ende seiner Dienstzeit zu warten“.

      Ich habe den letzten Umzugskarton in meinem Auto verstaut, mein Büro abgeschlossen, meinen Ausweis und den Schlüssel abgegeben. Ein letztes „man sieht sich“ und ich war durch die Pforte. Keine Fanfare, kein Tusch, kein besonderes Glücksgefühl. Auf dem Heimweg deponierte ich mein letztes dienstliches Gewand noch im Altkleidercontainer.

      Das soll es jetzt gewesen sein? 35 Dienstjahre sind einfach vorbei wie ein böser Traum? Was ist aus dem damals 18-jährigen geworden, der in Roth bei Nürnberg seinen Dienst als Offiziersanwärter angetreten hat? Gilt am Ende doch nur der häufig strapazierte Spruch: “Ich war jung und brauchte das Geld.“ Sicher, der Gedanke an ein Studium bei vollem Gehalt war verlockend. Endlich auf eigenen Füßen stehen zu können, ohne den Eltern weiter auf der Tasche zu liegen. Aber aus reinem Opportunismus wird man mit Sicherheit nicht Soldat.

      Ich erinnere mich daran, dass ich bei meinem Einstellungsgespräch seinerzeit angegeben hatte, unser demokratisches Gesellschaftssystem im Extremfall auch mit der Waffe verteidigen zu wollen. Das erschien mir durchaus plausibel. Als Jugendlicher hatte ich während eines Verwandtschaftsbesuchs in der rumänischen Heimat meiner Mutter eine sozialistische Diktatur erlebt. Dass selbst in den eigenen vier Wänden, die Stimme gesenkt wurde, wenn nicht „systemkonform“ gesprochen wurde, war ein einschneidendes Erlebnis für mich.

      Und nach allem, was wir seit der Wiedervereinigung Deutschlands wissen, war die Bedrohung unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung durch die Staaten der Warschauer Vertragsgemeinschaft durchaus real. Der Dienst in der Bundeswehr - so kontrovers er damals auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde - bot mir die Möglichkeit, „Vaterlandsliebe“ mit rein persönlichen Motiven in idealer Weise verknüpfen zu können.

      Aber auf dem langen Weg bis zu meiner Entlassung wurden irgendwann die Spielregeln geändert. Meine Demarkationslinie verlief entlang der Elbe, durch die Rhön, den thüringischen und den Bayerischen Wald, aber definitiv nicht durch den Hindukusch. Der Kalte Krieg war vorbei und mit ihm wurde auch das Motto: „Kämpfen können um nicht kämpfen zu müssen“, begraben. Viele Kameraden meiner Generation hat dieser Wandel verstört. Nicht weil wir die Veränderung der sicherheitspolitischen Landschaft nicht wahrgenommen hätten, sondern weil die Änderungen in den „Geschäftsbedingungen“ nicht kommuniziert wurden.

      Ein erster Blick zurück eröffnet mir lediglich ein unscharfes Bild. Ich bin nicht in der Lage, meine Dienstzeit in der Bundeswehr abschließend einschätzen zu können. Viele schöne Erinnerungen stehen zahlreichen bitteren Erfahrungen und Enttäuschungen gegenüber. Allzu leicht entsteht dabei der Eindruck, dass früher alles besser war. Wenn sich aber zum - wenn auch vorzeitigen - Ende des Berufslebens keinerlei Wehmut einstellen will, muss doch irgendetwas falsch gelaufen sein. Wenn sich all das, was anfangs einmal gut gewesen ist, im Laufe der Zeit ins Schlechte verkehrt hat und nur noch die Freude darüber bleibt, dass endlich alles vorbei ist, dann stellt sich doch zwangsläufig eine Frage: Was ist passiert? Mit der Erkenntnis, vor mehr als drei Jahrzehnten eventuell einen Riesenfehler gemacht zu haben, kann und will ich mich nicht abfinden. Ich brauche Antworten.

      2. Wurzelsuche

      Meine Suche beginnt im Geäst meines Stammbaums. Dabei beschäftigt mich insbesondere die Frage, ob ich bei meiner Berufswahl einer familiären Tradition gefolgt

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