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sah ihn nüchtern an. »Sie könnte trotzdem ertrunken sein.«

      »Also gut.« Er lächelte erneut. »Aber sie hat unabhängig davon unter Wasser gelegen. Und Sie haben keine Hinweise auf einen Tod durch Ertrinken gefunden.«

      »Nein, aber solange ich nicht sicher bin, schließe ich nichts aus.«

      »Ist notiert. Sonst irgendwas am Fundort?«

      »Diverse vergrabene Objekte, die wir durchgehen. Wahrscheinlich war die Stelle schon vorher verschmutzt, und einiges könnte auch von der Flut angespült worden sein. Bis jetzt nichts Spannendes. Chipstüten, eine zerdrückte Bierdose, ein Gummiball und mehrere bisher nicht bestimmbare Plastikreste. Keine Waffen. Also nichts, worüber Sie in helle Aufregung geraten könnten. Tut mir leid.«

      Jonah schüttelte den Kopf, bedankte sich bei ihr und verließ die Leichenhalle. Er war erleichtert, wieder ans natürliche Licht zu kommen, aber die plötzliche stickige Hitze war bedrückend. Auf der Treppe traf er Hanson, die verlegen ein paar Akten an sich gedrückt hielt. Offenbar arbeitete sie immer noch an der Ermittlung im Hafen, was angesichts eines potenziellen Mordfalls, der alle elektrisierte, echtes Engagement bewies.

      Sie machte kehrt, um mit ihm die Treppe hinaufzugehen. »Chief, ich hätte gern ein Update.«

      »Ich bin auf dem Weg.«

      Hanson nickte, schwieg ein paar Stufen lang und fragte dann: »Ist es definitiv ein Mord?«

      »Sieht ganz so aus.«

      »Wurde sie erschossen?«

      Jonah sah sie an, überrascht von der Frage. »Möglich. Bis jetzt gibt es dafür keine Anzeichen. Bemerkenswerter ist, dass sie neben den Resten eines Dexedrin-Depots gefunden wurde. Also hat sie möglicherweise eine Überdosis genommen oder aber sie hat etwas entdeckt, das sie nicht hätte finden sollen.«

      Er sah Hansons schmales Lächeln, die erweiterten Pupillen.

      »Also könnten es die anderen Jugendlichen gewesen sein, die sie entweder umgebracht oder ihren Tod vertuscht haben.«

      »Auf jeden Fall eine naheliegende Möglichkeit.«

      »Verdammte Kacke.«

      Detective Sergeant O’Malley, der Älteste in Jonahs Team, war hörbar ungehalten, als zwei Beamte vier Kartons mit Fallakten auf den Tisch im Besprechungszimmer stellten. In seinen leicht geröteten Gesichtszügen stand die bare Überraschung.

      »Ich würde mir noch ein paar Flüche aufsparen«, sagte Jonah trocken. »Das ist nur der lokal gelagerte Kram.«

      »Nein, dies ist die erste Ladung des lokal gelagerten Krams«, korrigierte Amir, einer der beiden linkischen Archiv-Kollegen, und zupfte an seiner Krawatte. »Das sind die Unterlagen von neunzehnhundertdreiundachtzig. Es gibt fünf weitere Kartons mit Material aus den Jahren vierundachtzig bis achtundneunzig, als die Akte endgültig geschlossen wurde. Dazu noch aktuelleres Material, aber nach dem, was im System erfasst ist, handelt es sich dabei hauptsächlich um unbestätigte Sichtungen und Anrufe der Eltern – es ist in der Datenbank.«

      Lightman hob die Hand. »Sorry, aber … 83. Das ist …«

      »Aurora Jackson, Ben. Ein Vermisstenfall. Domnall ist wahrscheinlich der Einzige, der alt genug ist, von ihr gehört zu haben.«

      Amir verabschiedete sich, und Jonah sah sein Team an. Lightman, auch angesichts der neuesten Entwicklungen absolut ruhig wie immer; Hanson, die vor Eifer auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, und O’Malley, dessen Miene nachdenklich wirkte.

      Jonah zog einen Plastikordner aus einer der Kisten und schlug ihn auf. Ganz oben lag eine Hochglanzfotografie, die seltsam neu wirkte. Aurora blickte mit einem schiefen Lächeln in die Kamera, eine auffallende Schönheit auf diesem Schulfoto, obwohl Jonah sich noch an sie erinnerte, bevor sie aus dem Kokon der Kindheit geschlüpft war: ein Pummel mit krausen Haaren und immer unordentlicher Kleidung. Die hässliche kleine Schwester des Mädchens, das alle begehrten.

      Er heftete das Foto an ein weißes Brett.

      »Im Ernst?« O’Malley sah sich zu Lightman und Hanson um. Hanson wirkte ein bisschen selbstzufrieden. Sie kannte die Pointe. »Das ist … der größte Vermisstenfall, an den ich mich erinnern kann.«

      »Jetzt ist es kein Vermisstenfall mehr.«

      Jonah heftete ein Foto der Überreste, die McCullough ausgegraben hatte, neben das Schulfoto.

      »Auroras Leiche wurde unter einem Baum am Flussufer gefunden, keine fünfhundert Meter von dem Zeltplatz entfernt. Zusammen mit ihr waren einige Silberfolienpäckchen mit Dexedrin vergraben, und so wie es aussieht, könnten es noch mehr gewesen sein.«

      Er sah, wie Lightman auf einem A4-Block Notizen machte. Seiner emotionalen Reaktion nach hätte er auch eine Weihnachtskarte schreiben können. O’Malley lehnte sich zurück, blickte von Jonah zu den Fotos, und die Falten seiner zerfurchten Stirn vertieften sich. Jonah verstand, dass O’Malley damit rang, seine Erinnerungsfetzen mit der Realität des Fundes in Einklang zu bringen. Eine zum Leben erwachte Legende. Nur dass sie in keiner Weise lebendig war.

      »Ich möchte, dass wir uns mit der kompletten ursprünglichen Ermittlung vertraut machen. Ich möchte, dass Sie eine Zusammenfassung der damaligen Vernehmungen erstellen. Wenn Sie den Eindruck haben, dass etwas übersehen wurde, oder denken, es gibt eine Spur, der nicht nachgegangen wurde, schreiben Sie es auf. Wenn Sie das Gefühl haben, dass an einer Stelle schlampig ermittelt wurde, notieren Sie auch das.«

      Nur Lightman gelang es, sein Missbehagen über diesen Plan zu unterdrücken. Vielleicht gefiel er ihm auch. Er mochte Zahlen und Daten.

      »Gleichzeitig«, fuhr Jonah fort, »führen wir eine vollständig neue eigene Ermittlung durch, befragen alle Beteiligten noch einmal und konzentrieren uns diesmal auf die Drogen. Wer hat sie dorthin gebracht? Und wie konnte es passieren, dass das Mädchen übersehen wurde, obwohl es nur ein paar hundert Meter von dem Zeltlager entfernt lag?«

      Er sah O’Malley lächeln. Das war mehr nach seinem Geschmack. Er vernahm gern Zeugen und Verdächtige, der ehemalige Captain O’Malley.

      »Heute kommt Juliette mit zu den Befragungen. Ich möchte die Mitglieder der Gruppe treffen, die damals dort gezeltet hat. Sie können eine Adressenliste zusammenstellen, Juliette, während ich mir das Archiv-Dossier anschaue. Und ich möchte, dass Domnall und Ben anfangen, die ursprünglichen Fallnotizen durchzugehen.«

      O’Malley seufzte vernehmlich. »Vielen Dank, Chief. Mir war schon, als würde es in meinem Leben an Papierkram fehlen.«

      Jonah lächelte, entschuldigte sich jedoch nicht.

      »Haben Sie an den damaligen Ermittlungen teilgenommen?«, fragte Hanson und blickte knapp an Jonah und der Tafel vorbei.

      »So eben«, antwortete Jonah. »Ich war damals gerade ein frischgebackener Constable. Aber ich wollte an dem Fall mitarbeiten. Sie war auf meiner Schule, auch wenn ich sie eigentlich nicht gekannt habe.«

      Er sah wieder zu ihrem Foto. Der Anblick ihrer strahlenden Schönheit rief ein unbehagliches Gefühl in ihm wach, die Erinnerung an einen ganz bestimmten Abend, an eine verwirrte Folge von Handlungen, die er seit dreißig Jahren verzweifelt zu vergessen suchte.

      Er wandte den Blick ab. Wenn er jetzt darüber nachgrübelte, würde das weder ihm noch den anderen helfen.

      Lightman steckte seinen Stift ein und machte Anstalten aufzustehen. »Und das hat Priorität vor der Ermittlung im Hafen?«

      »Für die nächsten achtundvierzig Stunden auf jeden Fall«, antwortete Jonah. »Danach sehen wir weiter. Achten Sie auf Hinweise auf Drogenkonsum und alles, was damit zu tun hat«, fügte er an Lightman gewandt hinzu. »Wenn einer von ihnen von dem Drogendepot wusste, will ich das wissen. Und dann will ich sie alle noch einmal in die Mangel nehmen und gründlich dazu befragen, was sie gesehen und gehört haben. Denn wenn Aurora nur gut hundert Meter von ihnen entfernt gestorben ist, wirken all ihre öffentlichen Appelle und Suchaktionen wie eine dreißigjährige Scharade.«

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