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es ist davon auszugehen, dass sich die Bevölkerung des amerikanischen Kontinents in den hundert Jahren nach Eintreffen der spanischen Entdecker von 50–80 Millionen auf etwa 8–10 Millionen reduzierte. Viele starben, als die Spanier mit der angekündigten Grausamkeit den teilweise erbitterten Widerstand niederschlugen. Manche überlebten die harten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft oder beim Goldwaschen nicht; andere raffte die Verschleppung in die Sklaverei etwa auf die Antillen dahin. Doch der ganz überwiegende Teil fiel dem »Mikrobenschock« zum Opfer, den Krankheiten, die in diesen Breiten nicht vorgekommen und zugleich tödlich waren.

      Die verbliebenen Menschen begegneten den Spaniern kaum noch mit Freundlichkeit, was ihnen zu allem Überfluss den Ruf eintrug, wankelmütig und heimtückisch zu sein. Je mehr die Spanier ihre Herrschaft in der Karibik und in Mittel- und Südamerika festigten, desto mehr Arbeitskräfte wurden etwa für die Bewirtschaftung der Plantagen benötigt. Bald galten afrikanische Sklaven als belastbarer und zuverlässiger. Die lokalen Kolonisten drängten die Krone angesichts der »Verknappung« der Arbeitskraft zum »Import« von Arbeitskräften durch Sklavenhandel. Spanien stieg aber erst im 16. Jahrhundert in den Sklavenhandel ein, zuvor waren es die Portugiesen, die das Geschäft beherrschten. Bereits seit Mitte des 15. Jahrhunderts unterhielt Portugal Niederlassungen etwa an der Küste des heutigen Mauretanien, um dort von lokalen Händlern Sklaven zu kaufen. Bei den Menschen handelte es sich um »Beutegut« aus Kriegen zwischen den innerafrikanischen Königreichen, sie wurden von arabischen Händlern über lange Distanzen an die Küste gebracht. Von dort aus ging es zunächst hauptsächlich auf die Iberische Halbinsel. Dieser Handel hatte lange Zeit den Segen des Papstes. Lissabon hatte beim Vatikan um die Zustimmung zur Gründung von Handelsposten an der afrikanischen Küste (sowie zur Annexion Madeiras und der Azoren) nachgesucht und diese auch erhalten. Zwei päpstliche Bullen übertrugen dem portugiesischen Infanten Henrique die Aufgabe, durch die Handelsaktivitäten den christlichen Glauben zu verbreiten, was das Leiden der geraubten Menschen in ein freundlicheres Licht tauchte.

      In den überseeischen Territorien Spaniens entwickelte sich ein gewaltiger sozialer Abstand zwischen den weißen Herren und den »Indios« und schwarzen Sklaven, während gleichzeitig alle eng zusammenlebten. Eine Barriere wurde geschaffen, die in erster Linie sozialer Natur war, doch die Grenzlinien verliefen entlang äußerer, sofort ins Auge springender körperlicher Unterschiede, primär der Pigmentierung der Haut. Nun glaubt man heute allenthalben, die Hautfarbe, manche sprechen gar immer noch von »Rasse«, hätte eine Art natürliche Bedeutung, eine Bedeutung, die zugleich mit bestimmten Eigenschaften oder Verhaltensweisen gekoppelt sei. Doch für die Antike und das Mittelalter lässt sich sagen, dass Unterschiede in der Hautfarbe vielleicht aufgefallen sind, aber keineswegs als besonders relevant erachtet wurden – die wichtigeren Grenzen verliefen entlang der Sprache oder der Position im sozialen Gefüge. Auch die zuvor in Europa existierenden Formen der Sklaverei hatten nichts mit Hautfarbe zu tun. Der Begriff Sklave leitet sich aus dem altgriechischen Wort für Kriegsbeute ab, aber direkter noch aus der Latinisierung der Bezeichnung Slawe. Im Hochmittelalter setzte schließlich die Christianisierung dem Handel mit Menschen in Europa ein Ende – getaufte Personen durften nicht mehr zu Sklaven gemacht werden.

      Für die karibischen, arawakischen oder anderen Bewohner Amerikas spielte die Hautfarbe der eintreffenden Spanier auch kaum eine Rolle. Die Spanier dagegen machten sich schamlos die Tatsache zunutze, dass die Indigenen keine Christen waren. Sie instrumentalisierten die Religion und etablierten eine Praxis der Unterdrückung. Durch den Ausschluss durch Einbeziehung wurden »weiß« und »schwarz« überhaupt erst zu relevanten Unterscheidungskriterien, denn soziale Unterschiede schlugen sich nun in (graduellen) Abstufungen der Hautfarbe nieder. In diesem Prozess, das hat der Kulturtheoretiker Tzvetan Todorov 1982 in seinem Buch über das Problem des Anderen bei der Eroberung Amerikas geschrieben, verkommt »die Verschiedenheit zu Ungleichheit, die Gleichheit zur Identität; dies sind die beiden großen Figuren, die den Raum der Beziehung zum anderen untrennbar eingrenzen«.

      Humboldt »entdeckt« Amerika noch mal

      Nach dem Rückzug der Welser nahmen die Deutschen allerdings fast 250 Jahre nicht mehr an der europäischen Expansion in Lateinamerika teil. Das hatte seinen Grund vor allem in der strikten Abschottungspolitik, die Madrid über die überseeischen Besitztümer verhängt hatte. Im 17. und 18. Jahrhundert hatte das spanische Weltreich mit Frankreich und England mächtige Konkurrenten bekommen, die ihre kolonialen Begehrlichkeiten nur zu gerne auf den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents ausgeweitet hätten. So durfte niemand die Kolonien ohne eine Vollmacht des Königs betreten, die Verwaltungsgeschäfte waren in der Hand »blutsreiner« Beamter von der Halbinsel, und selbst die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen des Reiches wurde penibel überwacht. Doch im letzten Jahr des 18. Jahrhunderts gelang es dem Deutschen Alexander von Humboldt, durch stetiges Antichambrieren in Madrid die Erlaubnis zu einer wissenschaftlichen »Entdeckungsreise« zu erhalten. Er war der Spross einer wohlhabenden Familie aus Berlin und konnte seine Reise – vermutlich am spanischen Hofe ein schlagendes Argument – selbst finanzieren. Humboldt wollte unbedingt auf »Expeditionsreise« gehen. Seine Vorbereitungen waren penibel, was die Auswahl der Instrumente betraf, die er für seine geologischen, botanischen oder zoologischen Forschungen benötigte. Das Ziel dagegen war ihm relativ egal: Griechenland war zunächst im Gespräch, aber auch Lappland und die Westindischen Inseln. Bald interessierte er sich brennend für Ägypten. Zunächst wollte er den Earl of Bristol dorthin begleiten. Dann aber sprach er in Paris vor – mit dem Wunsch, sich jenen zweihundert Gelehrten anzuschließen, die zusammen mit der napoleonischen Armee in Ägypten einfielen.

      Diese zweihundert Gelehrten waren im Übrigen eines der Beispiele, die Edward Said in seinem Buch Orientalismus erwähnt, um zu erklären, wie sehr die europäische Wissensbildung ein Teil des Eroberungsvorgangs war. Schon Kolumbus hatte sich auf seiner zweiten Reise von einem Missionar begleiten lassen, der die Indigenen studieren sollte. Stets brachten die Europäer ihre Forscher mit, um das Land und die gerade unterworfenen Völker genauestens unter die Lupe zu nehmen – die natürlichen Bedingungen, die kulturellen Errungenschaften, die Mentalität etc. Da diese Völker gerade besiegt worden waren und sich im Prozess der kolonialen Aneignung befanden, konnte nur festgestellt werden, dass sie zwar in der Vergangenheit beachtliche Leistungen erbracht hatten, nun aber unterlegen waren. Gerade in der Zeit der Aufklärung gab es zugleich das Bedürfnis, »Objekte« aus den Kolonien – seien es nun Kunstgegenstände oder auch Menschen – in die Metropole zu bringen, damit sie dort untersucht oder auch besichtigt werden konnten. Wiederum ist es bereits Kolumbus, der selbst berichtet, er habe sechs »Indianer« mit nach Spanien genommen.

      Im Juni 1799 liefen Humboldt, sein französischer Partner Aimé Bonpland, deren Entourage sowie fünfzig der modernsten Messinstrumente schließlich in La Coruña aus – auf einer Fregatte, die ausgerechnet den Namen eines Konquistadoren trug: Pizarro. Über Teneriffa erreichte das Schiff schließlich Cumaná an der Küste von ausgerechnet Venezuela. Humboldt nutzt die koloniale Infrastruktur für seine Reisen, und all seine Beobachtungen finden in einem kolonialen Kontext statt.

      In ihrem Buch Imperial Eyes (»Imperiale Blicke«) von 1992 nennt die Hispanistin Mary Louise Pratt die Schilderungen, die Humboldt über seine Aufenthalte verfasst, eine »Neuerfindung Amerikas«. Sein Buch Ansichten der Natur erschien 1808 und setzte den Tonfall für all die Schriften, die sich in den folgenden dreißig Jahren mit der Natur des südamerikanischen Kontinents befassten. Humboldt betrachtete in den venezolanischen Ebenen, den Llanos, in erster Linie ein »Naturgemälde«. »Das Interesse«, schrieb er, »welches dies Gemälde dem Beobachter gewähren kann, ist ein reines Naturinteresse. Keine Oase erinnert hier an frühe Bewohner, kein behauener Stein, kein verwilderter Frachtbaum an den Fleiß untergegangener Geschlechter. Schicksalen der Menschen fremd, allein an die Gegenwart fesselnd, liegt dieser Erdwinkel da, ein wilder Schauplatz des freien Thier- und Pflanzenlebens.« Auf diesem Schauplatz ließ Humboldt in durchaus ermüdender Weise ein endloses Naturdrama stattfinden, Kämpfe zwischen Erde und Himmel, Wasser und Trockenheit, Pferden und Krokodilen etc. Er inszenierte jenes harmonisch-ästhetische Naturganze, das er später dann zum »Kosmos« vereinheitlichte.

      Wenn überhaupt Menschen auftauchten, dann nur als Vertreter von »Menschenarten«. Die außereuropäische Welt teilte sich in »Negerhorden, die auf mannigfaltigen Stufen der

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