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ich sein? Dieser schlanke Junge, dessen graue Hose und Mokassins man hinter den Stuhlbeinen der ersten Reihe erriet? Hatte ich wirklich mal so ausgesehen? Ich hatte nur dunkle Erinnerungen, nahm mein Äußeres eher wie durch einen Regenvorhang wahr, der die Umrisse verwischt und die Farben verschwinden lässt. In meinem Gedächtnis ergab das einen ganz anderen François Heurtevent. Eine Mischung zwischen dem Jungen von damals und dem Mann von heute. Jemand, der nie woanders als in meiner Phantasie existiert hatte. Aber das Foto war da, als eindeutiger Beweis. Ich sah so jung aus, wir sahen alle so jung aus! Ich hatte nicht mehr gewusst, wie kindlich wir ausgesehen hatten.

      Der Junge mit krausem Haar, der ins Objektiv lächelt und irgendwie ungeschickt dasitzt, mit halb gespreizten Beinen – plötzlich fiel mir sein Name ein: Éric Larmier. Und die kleine Dunkelhaarige mit Locken, die die Augen zusammenkneift, war Audrey Desnois, sie trug eine Brille, die sie wohl vor der Aufnahme abgenommen hatte, daher die Grimasse, die das Objektiv für immer festgehalten hatte. Ich betrachtete das Bild, als hätte ich es nie gesehen. Aber natürlich hatte ich es gesehen, natürlich kannte ich es. Damals hatten wir es sicher alle bekommen und beim Anblick unserer Gesichter herumgealbert. Die Zeit hatte ihr Werk getan, wie Wellen, die den Felsen angreifen, ihn abschleifen und bröckeln lassen, um ihn schließlich Zentimeter um Zentimeter abzutragen. Jahr um Jahr war das alles langsam aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich hatte keine Erinnerung an dieses Foto. Es war soeben zu mir zurückgekehrt, wie ein archäologischer Fund aus einer verschwundenen Zivilisation, von der man fast nichts mehr weiß. Dieses Bild war wie ein Beweisstück, ein Beleg, der meine verwaschenen Erinnerungen erhärtete. Ich hatte die tausenden Unterrichtsstunden nicht geträumt, von denen ich heutzutage keine einzige Minute wiedergeben könnte, ebenso wenig die Orte: Klassenräume, Flure, Schulfoyers, Pausenhöfe, die wie unscharfe Dias auftauchten. Nach all den Jahren waren sie nicht realer als die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Traum.

      Ich erkannte das Gesicht unserer Philosophielehrerin, und ihr Name fiel mir so schnell ein, als würde ihn mir jemand ins Ohr flüstern: Mademoiselle Marsille. Damals kam sie uns alt vor, dabei dürfte sie höchstens fünfunddreißig gewesen sein. Mademoiselle Marsille ist heute über sechzig, dachte ich, und es war wie eine Offenbarung. Das schien mir unmöglich, und irgendwie war es das auch: Mademoiselle Marsille war für ewig fünfunddreißig, ihre braunen Locken konnten nicht grau geworden sein. Sie hatte immer eine goldene Kette über ihrem Rollkragen um den Hals getragen. Daran erinnerte ich mich, und ich hielt das Foto vor die Augen, um es zu überprüfen. Ein Herz aus Gold, in der Mitte zerschnitten, wie von einem Blitz gespalten. Hatte sie mit dem Mann, der die andere Hälfte besaß, ihr Leben verbracht? Trug sie die Kette noch? Oder lag sie seit langer Zeit in der Tiefe einer Schublade, und sie selbst hatte sie vergessen?

      Dominique Pierson, ein großer Junge, viel größer als wir anderen, mit langen Haaren und dem Blick einer wütenden Möwe. Was war aus ihm geworden? Delphine Poisson mit ihrer Goldrandbrille, dem blonden Pony und dem Lächeln eines amerikanischen college girl. Wir hatten uns immer gefragt, ob sie etwas mit Sébastien Beauchy hatte, dem Blonden in der zweiten Reihe mit den lachenden Augen und der ins Hemd geklemmten Sonnenbrille. Dann gab es noch Clément Jacquier mit halblangen Haaren und einer vagen Ähnlichkeit mit Bonaparte, er wollte damals zum Film. Marjorie Levart, Daniel Célac, Cédric Pichon, und der da, dessen Gesicht mir etwas sagte, dessen Name mir aber nicht einfiel. Auch das Mädchen, ich erinnerte mich gut an ihre Gestalt, aber ihr Vorname? Sabine? Valérie? Nathalie?… Irgendwas mit i.

      Ich drehte das Foto um. Hinter dem weißen Passepartout standen mit Maschine geschrieben alle Namen und Vornamen. Dazu Jahr und Klasse.

      1977–78. Abiturklasse A. Mademoiselle F. Marsille. Philosophielehrerin.

      Erste Reihe (sitzend, von links nach rechts): Marjorie Levart, Franck Alèsse, Éric Larmier, Béatrice Bricard, Delphine Poisson, Jérôme Auberpie, Daniel Célac, Marie Farnoux, Jean-Marc Lacaze.

      Zweite Reihe (stehend, von links nach rechts): Cédric Pichon, Aude Gerfon, François Heurtevent, Dominique Pierson, Gilles Dervet, Nathalie Dirand, Audrey Desnois, Pascale Genvrier, Clément Jacquier, Stéphane Crestin, Pierre Lecoq, Jérémie Pedrini, Sébastien Beauchy.

      Foto: Ets. Tourte et Petitin. 53, rue Paul Vaillant-Couturier. 92300 Levallois-Perret.

      Schließlich hatte ich nachgegeben. Ich würde zum Arzt gehen, aber nicht zu Doktor Houdard. Ich entschied mich für den erstbesten, den ich im Internet fand. Am Tag des Termins stand ich früher auf als in letzter Zeit üblich. Unterwegs frühstückte ich auf der Terrasse des Rendez-vous de Jean Bart in der Sonne. Ein hartes Ei und einen Milchkaffee. Im Licht dieses Morgens geschah etwas Unerwartetes: Ich hätte traurig sein müssen, aber ich war glücklich, es kam mir vor, als hätte ich dieses Gefühl nicht mehr verspürt seit … seit wann? Es war unmöglich, den Moment festzulegen, auf jeden Fall lag er ziemlich weit zurück. Wie ein Geschmack, ein Duft, den man vergessen hat und der einen plötzlich in andere Jahre versetzt. Entfaltete die Entdeckung des Klassenfotos bereits ihre Wirkung in der Chemie meines Unterbewusstseins? Mir ging die verschwommene Gestalt des jungen Mannes, der ich gewesen war, durch den Sinn, ohne dass ich seine Züge deutlich erkennen konnte, wie ein Name, der einem auf der Zunge liegt. Ich fand den beruhigenden Gedanken wieder, dass das Leben ziemlich einfach ist, wenn es voller Begegnungen und Zufälle vor einem liegt. Dass es lang ist, wie die Tage der Kindheit. Erst später zieht sich die Zeit zusammen. In meinem Alter sind die Tage schon kürzer; je weiter es geht, desto schneller werden sie vergehen. Als Kind dauerte ein Tag ein Jahrhundert. Zwischen dem Frühstück vor der Schule und dem Abendessen mit den Eltern floss ein Ozean von Zeit. Die Stunden zählten doppelt, ja dreifach.

      Der Geschmack des hart gekochten Eis mischte sich mit dem des Milchkaffees und führte mich irgendwie zurück in die Zeit vager Erinnerungen, voll sonnendurchfluteter Nachmittage. In Wirklichkeit war der Himmel vielleicht grau gewesen. Das Barometer des Gedächtnisses ist anders, gute Erinnerungen richten die Nadel immer auf »warm und trocken«. Der Begriff »große Ferien« kam mir in den Sinn, dabei gab es keine Verbindung zwischen hartem Ei und Milchkaffee und den großen Ferien meiner Kindheit. Ich dachte an die Analytiker, die genüsslich die hunderttausend Rädchen des menschlichen Geistes zerlegen. Die verrücktesten Assoziationen enthüllen tiefe Geheimnisse, die in den Schichten der Persönlichkeit vergraben sind. Ja, die großen Ferien dauerten ewig, wenn die schönen Tage anfingen, war das Ende des Sommers so weit weg. Inzwischen habe ich kaum Zeit, ein paar schöne Julitage zu genießen, da beginnt schon der September.

      Nur alte Menschen erleben, wie sich die Zeit erneut dehnt. Sie stehen mit den ersten Sonnenstrahlen auf, schlafen nur noch vier, fünf Stunden pro Nacht. Ein Ministerschlaf für leere Tage. Der verfliegenden Zeit ein paar Stunden zu stehlen ist vielleicht die Vollendung jedes Lebens, dachte ich beim Anblick einer Frau, die mit ihrem Stock vorbeiging und die ich gegen die Sonne kaum erkennen konnte. Ihr Schatten zog sich auf dem Rathausvorplatz ins Unendliche.

      Ich bat den Kellner, mir noch ein Ei zu bringen.

      »Dieser Anblick ist doch ein Jammer«, sagte er, als er mir ein paar Minuten später mein Ei servierte.

      Ich dachte, er spreche von den Eierschalen, die ich auf der Marmortischplatte verstreut hatte.

      »Wo Sie sich solche Mühe gegeben haben! Das ist nun der Dank der Stadt. Und dieser Alphandon liegt in Ihrem Büro auf der faulen Haut. Die Leute sind undankbar, das sage ich Ihnen, Herr Bürgermeister.«

      Ich wollte ihm eine beruhigende Antwort geben, einen jener sybillinischen Sätze, von denen die Politiker Hunderte in Reserve haben, aber er ließ mir keine Zeit, sondern fuhr entschieden fort: »Ganz genau, sie sind undankbar und erkennen die Anstrengung der anderen nicht an, das sage ich Ihnen. Ihr Schicksal erinnert mich an meine erste Stelle in der Brasserie du Renard. Ich habe mir solche Mühe gegeben, um die Gäste zufriedenzustellen, und keine sechs Monate später hat mich Guichaud entlassen, ohne Grund, ohne Anlass, einfach so und nicht anders. Genau wie bei Ihnen, Herr Bürgermeister. Perisac ist eine Brasserie du Renard in groß! Das hab ich am Abend der Wahl zu meiner Frau gesagt. Aber wir setzen auf Sie, Sie müssen die Festung wieder einnehmen«, verlangte er mit inzwischen hochrotem Gesicht. »Obwohl ich Sie gern auf meiner Terrasse bediene, dort will ich Sie sehen, für mich sind Sie unser Bürgermeister! Ich möchte wirklich wissen, wer die zweihundert Weicheier sind,

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