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die Grenzen seiner Partei hinaus. Er wurde als Bürgermeister zweimal wiedergewählt und bewarb sich erfolgreich um ein Abgeordnetenmandat, das er aber bei den letzten Parlamentswahlen knapp verlor. Sein Charisma macht ihn zu einem bekannten Vertreter seiner Partei. François Heurtevent ist mit der berühmten Sterneköchin Sylvie Desbruyères verheiratet.

      Hat die letzten Wahlen um das Bürgermeisteramt von Perisac verloren.

      → Link: Website Stadt Perisac.

      → Link: Website La Musarde***

      → Link: Website seiner Partei.

      Nach dieser absolut masochistischen Handlung lief ich durch meine Stadt. Ohne bestimmtes Ziel. Wie früher, wie ganz am Anfang. Als ich so allein durch die sonnigen Straßen wanderte, hatte ich das seltsame Gefühl, in der Zeit zurückzugehen. In der Altstadt besuchte ich einige Händler, die mir mit betroffener Miene versicherten, sie könnten meine Niederlage nicht begreifen. Der Chef einer neuen Weinbar ließ mich zwei auserlesene Weine verkosten. Er erwähnte die Wahlergebnisse nicht, wir plauderten über die Gerbsäure des Weins, die Preise und das Wetter.

      Vor dem Gymnasium Paul Valéry kam ich an unseren Wahlplakaten auf den zusammenklappbaren Metallständern vorbei, die man bald entfernen würde. Sie waren mit dicken Ketten verbunden, die an Motorradschlösser erinnerten. Die Kandidatin des Front National war wütend zerfetzt worden, jemand hatte kleine Hakenkreuze auf den blauen Hintergrund des Plakats gezeichnet. Nur der Kopf von Bernard Farnou, dem Kandidaten der Grünen, war unberührt, er hatte so wenig Stimmen erhalten, dass er bei den Einwohnern keinerlei Hass ausgelöst hatte. Ich bereute, kein Bündnis mit ihm eingegangen zu sein. Er war ein sympathischer Mann, pensionierter Biologielehrer, ein wenig überfordert von den Zielen seiner Partei. Wir hatten uns wegen einer kommunalen Mülldeponie entzweit, die, zugegeben, nicht gerade den Normen entsprach, aber es gab keinen anderen Standort. Streit über nicht recycelbare Abfälle und die Mülltrennung hatten unser Zusammengehen verhindert. Dem kommunistischen Kandidaten hatte jemand »Schwuchtel« auf die Stirn geschrieben, obwohl er meines Wissens nicht auf Männer stand. Ein gebildeterer Gegner hatte mit rotem Filzstift ergänzt: »Lass dich bei Putin wählen«. Die Liste der Revolutionären Kommunisten war zerrissen und flatterte im Wind, ich strich sie mit der flachen Hand glatt. Pierre-Marie Alphandon, mein Nachfolger, war auch bekritzelt worden, aber der Schmierfink hatte nur noch wenig Tinte in seinem Kuli gehabt, denn das Gesicht war verschont geblieben. Dafür hatte ein Spaßvogel mit schwarzem Filzstift einen Regenwurm gemalt, der ihm aus dem Ohr kroch. Ebenfalls mit schwarzem Filzstift hatte dieselbe Hand mein Porträt mit einem Schnurrbart à la Salvador Dalí und einem schwarzen Zahn versehen. Ich trat zurück, um mich zu betrachten, der Schnurrbart war nicht ohne Chic, der Zahn gefiel mir weniger. Erst bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass der Mann mit dem Kuli ohne Tinte eine Korrektur meines Slogans vorgenommen hatte: Aus »Eine Zukunft mit Heurtevent« hatte er »Keine Zukunft …« gemacht. Eine kleine, aber wirksame Infamie.

      Ein paar Jahre zuvor hatte ein Fotograf aus der Stadt eine Förderung bei der Kulturabteilung beantragt, um seine Fotoserie zerrissener und durch anonyme Hände verunstalteter Wahlkampfplakate herauszugeben. Ich fand die Idee lustig, aber der Gemeinderat war mir nicht gefolgt. Die Fotos zeigten so ziemlich alles, was sich an den Eingängen der Wahlbüros aufspüren ließ, entzückende Wörter wie »Schwanzlutscher«, »Kackvogel« oder »Schlitzohr« fanden sich neben anderen, weit poetischeren Kreationen. Seine Entschlossenheit, alles in seine Sammlung aufzunehmen, hatte die Publikation verhindert.

      »Herr Bürgermeister!«

      Ich drehte mich um und stand vor eben jenem Fotografen. Wie hieß er noch? Es gab eine Eselsbrücke, um sich seinen Namen zu merken … Guillaume Lux, das war es. Wie der Fernsehmoderator Guy Lux.

      »Guten Tag, Guillaume«, sagte ich.

      Er schien sich zu freuen, dass ich mir seinen Vornamen gemerkt hatte. Nachdem er einige Fotos von den letzten verunstalteten Plakaten gemacht hatte, unterhielten wir uns. Ich wunderte mich, dass er meins nicht fotografierte, war das ein Ausdruck von Takt, weil ich neben ihm stand? Aber er hatte es schon in der vorherigen Woche aufgenommen, und das Plakat hatte sich seitdem nicht verändert, wie er mir erklärte. Er bot in seinem kleinen Laden Hochzeitsfotos, Passbilder und Aufnahmen von Familienfeiern an. Das musste auf Dauer langweilig sein. Wir gingen ein Stück zusammen, und bevor wir uns trennten, fragte er schüchtern, ob er ein Foto von mir machen dürfe.

      »Kein Plakat, Sie selbst. Ein Porträt auf der Straße.«

      Gerne erfüllte ich ihm diesen Wunsch.

      Er machte mich darauf aufmerksam, dass ich keine Krawatte umgebunden hatte, erst da fiel mir auf, dass ich dieses Symbol seit der Niederlage nicht mehr trug. Ich lehnte mich in offenem himmelblauen Hemd und grauer Jacke an die Mauer des Gymnasium, sah ihn an und versuchte, ein Lächeln anzudeuten. Ein leichter Wind zerzauste meine Haare, mein Lächeln erlosch, er drückte zweimal auf den Auslöser seiner Leica. Dann beugte er sich vor und machte ein drittes Foto.

      »Danke«, sagte er sehr respektvoll. »Sie haben sich verändert.«

      »Wirklich?«, fragte ich.

      »Ja«, antwortete er ernst. »Da ist etwas in Ihren Augen …«

      Dann verschwand er, ohne zu versprechen, dass er mir die Bilder schicken würde.

      Der Amtsantritt von Pierre-Marie Alphandon war der Schlussakkord dieses Schwebezustands. Ich hatte die Übergabe der Macht auf sechzehn Uhr verschoben, um ausschlafen zu können. Natürlich hatte ich eine kleine Ansprache verfasst. Dabei hatte ich genug qualifiziertes Personal, das mir meine Reden schrieb, aber für diesen Anlass übernahm ich das selbst. Beim nochmaligen Durchlesen gefiel sie mir ziemlich gut. Die Lokalzeitung veröffentlichte sie im Wortlaut, mit einem Foto von mir beim Verlesen meiner Prosa. Vielleicht hätte ich mich öfter persönlich um bestimmte Aspekte meiner Kommunikation kümmern sollen. Mein Wahlkampfleiter, Franck Charmatan, und sein für den Kontakt mit den Medien zuständiger Stellvertreter waren gleich nach der verlorenen Wahl verschwunden. Ihren Slogan »Eine Zukunft mit Heurtevent« hatten sie mitgenommen. Ich hatte eingewandt, dass ich schlecht die Zukunft verkörpern könne, da ich schon die Gegenwart darstellte. Mit Kurven und Tabellen bewiesen mir die beiden Schwachköpfe das Gegenteil: »Die Verschmelzung Gegenwart-Zukunft, Sie verkörpern die Dialektik des Dialogs«, hatte mir Charmatan erklärt.

      Man brauchte nur einen Buchstaben seines Namens austauschen, um zu wissen, was er war.

      Nachdem ich meine kleine Ansprache unter Applaus beendet hatte, musste ich in drückender Stille die Hand meines Nachfolgers drücken, ich wünschte ihm viel Glück und dachte das Gegenteil. Die Kameras der Lokalpresse verewigten diesen schmerzlichen Moment auf ihren Speicherchips. Ich war nicht besonders betroffen, darüber war ich schon hinweg, eigentlich spürte ich nur unendliche Müdigkeit und Rückenschmerzen, dagegen hatten auch die beiden Paracetamol nicht geholfen, die ich am Morgen geschluckt hatte. Die Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die mich seit fünfzehn Jahren begleitet hatten, würden in den kommenden Wochen gefeuert werden. Ich war niemand mehr außer François Heurtevent, achtundvierzig Jahre, braunes Haar, an den Schläfen etwas grau, ein Meter fünfundachtzig, von nun an ein ganz normaler Bürger.

      Ein Monat war vergangen. Die Sonne schien durch die Vorhänge des Schlafzimmers, es war ungefähr elf Uhr, vielleicht auch schon zwölf. Meine Frau stand weiterhin um sechs auf, um ins La Musarde zu gehen. Für mich war das Aufstehen zum schwierigsten Akt überhaupt geworden, der mir neuerdings eine mehrstündige mentale Vorbereitung abverlangte. Zwischen neun und halb zwölf spielte ich flüchtig mit dem Gedanken und versank wieder im Halbschlaf, die Nase ins Kissen gebohrt, wie eine komatöse Katze auf einem Heizkörper. Während dieser leeren Stunden im stillen Haus kam nur Archipattes ab und zu vorbei, um meinen Schlaf zu kontrollieren. Der Familienkater war Frühaufsteher, er schlief erst ab dreizehn Uhr und wachte gegen zwanzig Uhr zu den Fernsehnachrichten auf.

      So wurden meine Vormittage unter der Bettdecke nur kurzzeitig durch das Trommeln der Krallen am Bettrahmen unterbrochen. Kleine Angelhaken, die sich gleich darauf mit Wut und Genuss in den Lakenstoff bohrten. Ich brauchte nur unter dem Kopfkissen hervor »Archipattes!« zu schimpfen, dann hörte er sofort auf; nach ein paar Sekunden Stille folgten ein wilder Galopp

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