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fragte Jemi, und ihre Wangen röteten sich leicht, aufgeregt wie ein kleines Kind.

      »Ja«, sagte Nick. »Du wirst das Meer sehen. Es ist aber nur ein ganz kleines Meer. Eher so eine Art breiter Fluss, nicht so wie das Meer, an dem wir gestern waren.«

      Nach dem Streit mit Merle waren sie weiter südlich gefahren und hatten an einem Campingplatz in den Dünen haltgemacht. Der Platz war verlassen, sie hatten im Pick-up geschlafen, sich gegenseitig mit ihren Körpern gewärmt. Als sich am Morgen der Vorhang der Nacht hob, hatten sie durch das beschlagene Fenster graue See gesehen. Ein endloses Grau in Grau, Himmel und Wasser verschmolzen zu einer Decke aus flüssigem Blei. Aber Jemi war außer sich gewesen, das erste Mal hatte sie eine Ahnung von der Weite der Welt bekommen.

      Sie hatte neunzehn Jahre mit begrenztem Horizont gelebt.

      Wald war überall dort gewesen, wo sie hatte hinblicken können. Schwarzer Wald, ein paar Felder, das war ihr Leben.

      Aber nun würde alles anders werden.

      Nick legte Geld auf den Tisch, schenkte der Kellnerin ein Lächeln und zog Jemi hinter sich her aus dem Laden. Die große Fähre lag bereits am Kai, sie war von weitem zu sehen, und Nick spürte, dass alles gut werden würde.

      Ganz sicher.

      Alles.

      Gut.

      Frederikshavn

      Ole hatte den Wagen in der Einfahrt geparkt und blieb darin sitzen, bis er gebraucht würde. Er hörte ein Hörspiel, Sherlock Holmes, ausgerechnet. Helle stand vor dem Haus und rauchte. Sie hatte noch das Päckchen Gauloises und dachte an Bengt. Und Emil. Und dass sie um so vieles lieber mit ihren Männern in den durchgesessenen Polstern ihres alten Volvos durch die Schweiz oder Österreich juckeln würde, anstatt in dieses Haus zu gehen.

      In das Trauerhaus.

      Das Totenhaus.

      Das Haus, in dem Inez und Fredrick Brabant saßen wie in einem gläsernen Sarg.

      Aus dem modernen Holz-Glas-Kubus drang warmes Licht nach außen und gaukelte die Idylle eines gemütlichen Heims vor. Doch das würde es auf lange Jahre nicht mehr sein bei der Familie Brabant. Es würde keine gemütlichen und unbeschwerten Abende geben.

      Wie macht man das, fragte sich Helle, mit dieser monströsen Trauer, die den Raum bis in die letzten Ritzen ausfüllte, mit einem Verlust, der Körper und Geist lähmte, umzugehen? Als Paar. Was tat man? Konnte man sich an den Händen fassen, sich Trost geben, aneinander Halt finden?

      Oder war man in all dem Horror zuletzt nicht einfach nur allein.

      Die Brabants hatten Helle eingelassen und nun saßen sie versprengt auf der teuren Sitzgruppe in dem übergroßen Wohnbereich, Fredrick und seine Frau Inez in größtmöglichem Abstand. Helle versank dazwischen in den tiefen Roche-Bobois-Sitzelementen, deren Knuddeligkeit und leuchtende Farbgebung ein allzu grelles Licht auf die dunkle Trauer der beiden Menschen, die hier nun weiterleben mussten, warf. Auf dem Sofatisch wartete eine Flasche Rotwein darauf, geöffnet zu werden, aber niemand machte Anstalten. Helle hatte um ein Glas Wasser gebeten.

      Merles Eltern mussten beide viel geweint haben, Fredrick, ein hochgewachsener, sportlicher Mann mit markanten Gesichtszügen und nun grauem Haar, hatte ebenso wie seine spanischstämmige Frau Inez – klein, dunkel, drahtig, nicht minder attraktiv – rot geschwollene Augen. Merle war die einzige Tochter des Paares gewesen.

      Nachdem Helle beide kurz in den Arm genommen und ihr Beileid ausgedrückt hatte, schwiegen sie zusammen. Helle fühlte sich, als wäre sie niemals zuvor in diesem Haus gewesen, als wäre sie fremd. Sie fühlte sich von den beiden Menschen, zwischen denen sie saß, distanziert. Als hätte es niemals die Kindergeburtstage gegeben, die Grillfeste, gemeinsame Ausflüge, die mit einem Lagerfeuer im Garten, Stockbrot und Gesängen, bis sie heiser waren, geendet hatten. Es war, als hätte Merles Tod durch eine Leere, die man greifen konnte, all das abgeschnitten.

      »Ich kann euch im Moment kaum etwas Neues sagen«, begann Helle. »Eure Aussagen habe ich gelesen. Ich wollte kommen und bei euch sein.«

      Fredrick nickte, Inez fasste hinüber zu Helle und drückte einmal kurz ihre Hand, als wäre ihr Gast diejenige, die getröstet werden musste.

      Helle guckte zu Boden. Die Tatsache, dass Merle an einer Tankstelle in Aalborg in ein fremdes Auto gestiegen war, wollte sie noch für sich behalten. Sie war ganz sicher, dass die Eltern davon nichts wussten, die beiden hatten ausgesagt, dass Merle mit dem Zug fahren wollte. Und solange Helle und ihre Kollegen über den jungen Mann und das Mädchen, die mit dem Pick-up an der Tankstelle waren, nicht mehr in Erfahrung gebracht hatten, wollte sie Merles Eltern nicht noch weiter erschüttern. Etwas an dem jungen Pärchen, das Merle mitgenommen hatte, war seltsam. Der Tankstellenbesitzer, der sich als gewissenhafter Zeuge herausstellte, hatte ausgesagt, dass die junge Frau sich auffällig benommen habe, als sie zahlen wollte. Als hätte sie nicht gewusst, was zu tun sei, der Mann mutmaßte, dass sie unter Drogen stand, weil sie vollkommen neben der Spur wirkte. Auf den Bändern der Überwachungskameras an der Tankstelle konnte man außerdem erkennen, dass der junge Mann, der getankt und am Auto stehen geblieben war, sich bemühte, sein Gesicht unter der Kapuze seines Sweaters zu verbergen.

      Etwas war mit den beiden also ganz und gar nicht in Ordnung. Aber auch wenn es im Moment so aussah, als hätte Merle ihr Unglück mit dem Einsteigen in den Pick-up besiegelt – noch besaß Helle keinerlei weiterführenden Erkenntnisse. Sie hätte es nicht richtig gefunden, Inez und Fredrick mit verwirrenden Informationen falsche Bilder in den Kopf zu setzen. Sie wollte abwarten.

      »Ich habe Merle seit der Abi-Feier letztes Jahr kaum gesehen«, setzte sie an. »Was hat sie gemacht? Ist sie gereist? Wollte sie studieren?«

      Das Ehepaar sah sich an. Inez antwortete als Erste. »Ihre Arbeit für Fridays for future hat sie völlig in Beschlag genommen«, sagte sie. »Eigentlich hatte Merle vor herumzureisen. Aber dann kam fliegen ja nicht mehr infrage. Darüber hat sie sich mit Mette und Colleen gestritten. Sie wollten zusammen nach Australien.«

      Helle nickte. »Ich weiß. Das hat mir Leif erzählt. Der ist ja auch nicht gerade klimafreundlich in Thailand und so unterwegs gewesen.«

      »Sie war ein bisschen besessen«, presste Fredrick nun hervor und knetete seine Hände. »Wir mussten uns zu Hause ziemlich umstellen.«

      Inez schluchzte. »Jetzt tut es mir so leid«, brachte sie unter Tränen hervor. »Wir sind am Freitagmorgen, bevor sie fuhr, noch aneinandergeraten.«

      Ihr Mann stöhnte und verbarg sein Gesicht in den Händen.

      »Wollt ihr mir erzählen, weshalb?«, tastete sich Helle behutsam vorwärts.

      »Nichts wirklich Dramatisches«, Fredrick hob das Gesicht und blickte Helle aus glasigen Augen an. »Es war eher immer das gleiche Lied. Ganz egal, ob es das Frühstücksei war oder eine Ledertasche oder …«

      »… dein Job«, warf Inez ein.

      Helle sah zwischen beiden hin und her.

      »Habt ihr Auseinandersetzungen deswegen gehabt?« Sie wusste, dass Fredrick ein hohes Tier bei DanEnergi, einem der größten dänischen Energieversorger, war – ausgerechnet der einzige Betreiber der letzten Kohlestromwerke.

      »Wir hatten Diskussionen«, nickte Fredrick. »Ich kann sie ja verstehen. Wir gehen seit einigen Jahren sehr erfolgreich den Weg der regenerativen Energien. Aber es war ihr nicht schnell genug, zu wenig konsequent.«

      »Merle war ungeduldig«, bestätigte Inez. »Manchmal naiv und sehr radikal. Sie hat Forderungen gestellt, die …«

      »… so schnell einfach nicht umzusetzen sind.« Fredrick stöhnte. »Eigentlich war das phantastisch! Ohne diese Kraft würde sich gar nichts bewegen! Ich …« Er breitete die Arme aus und zuckte hilflos mit den Schultern. Sein Gesicht verzog sich und er begann zu weinen wie ein kleiner Junge.

      Helle beschloss, an dieser Stelle nicht nachzubohren. Sie wusste ohnehin, dass dieses Thema sie bei der Aufklärung des Todes nicht weiterbringen

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