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Fluch der verbotenen Stadt. Manuel Lippert
Читать онлайн.Название Fluch der verbotenen Stadt
Год выпуска 0
isbn 9783347026735
Автор произведения Manuel Lippert
Жанр Триллеры
Серия Tim Beck ermittelt in
Издательство Readbox publishing GmbH
Anschließend gingen sie ins Dachgeschoss des Hauses. Rainer stieß sich im Schlafzimmer den Kopf an der Dachschräge und fluchte. Tim musste lachen, denn Rainer war mindestens zehn Zentimeter kleiner als er und schaffte es dennoch sich hier den Kopf zu stoßen. „Respekt, das muss man erst einmal hinbekommen. So klein und trotzdem stößt du dir den Kopf. Was würde erst passieren, wenn du so groß wie ich wärst?“ Rainer rieb sich vor Schmerzen den Hinterkopf. „Frag lieber, ob ich mir wehgetan habe. Nicht dass ich eine Beule bekomme und meine Attraktivität darunter leidet.“ Rainer ahmte mit seinen Händen seine Figur nach.
Durch die Dachschräge wirkte das Schlafzimmer beengt. Mit dem Bett und dem Schrank an der Wand war es bereits vollgestellt. Dies schien das Schlafzimmer von Günther Ludwig zu sein. Im Schrank fand Tim - säuberlich aufgereiht - mehrere Hemden, Anzüge und verschiedene dunkle, gestreifte Krawatten. ‚Er zog sich zumindest etwas moderner an, als die Einrichtung im Haus vermuten ließ‘, dachte Tim. Rainer stand neben ihm und musterte die Anzüge. Sie waren erleichtert, dass die Kleidervorschrift bei der Polizei im Laufe der Jahre lockerer geworden war. Beide bevorzugten Jeans und Hemden, wobei Tim dienstlich immer ein modisch geschnittenes Jackett trug. Rainer blieb dagegen seiner persönlichen Kleiderordnung treu: Kariertes Hemd und abgewetzte braune Lederjacke.
Im nächsten Raum fühlte sich Tim wie in einem Museum. Dies schien das Kinderzimmer von Günther Ludwigs Schwester zu sein. Neben Jugendbüchern für Mädchen standen mehrere gerahmte Fotos von ihr herum. Rainer nahm eins in die Hand, worauf sie in Rock, weißer Bluse und blauem Halstuch zu sehen war. „Ein Thälmann-Pionier. Da muss sie dreizehn oder vierzehn gewesen sein.“ Als Tim ihn erstaunt anschaute, erklärte ihm Rainer, dass in der DDR spätestens ab der achten Schulklasse die Schüler in die FDJ aufgenommen worden waren. Er wusste woher Rainer dieses Wissen hatte. Schließlich war er in Brandenburg an der Havel geboren und aufgewachsen und hatte bis heute nie an einem anderen Ort gelebt. Rainer redete selten über seine Jugend in der DDR und die anschließende Wende. ‚Vielleicht sollte ich Rainer bei Gelegenheit mal darauf ansprechen‘, dachte er.
Nachdem sie den Keller durchgesehen hatten, der als Lagerraum zu dienen schien, gingen sie wieder zurück in den Raum mit den Dokumenten und Artikeln an der Wand. Tim bekam den Eindruck, dass dieser Raum der Lebensmittelpunkt für Günther Ludwig in diesem Haus gewesen war. Während sich in den anderen Räumen nicht wirklich einen Hauch von Wohnlichkeit oder regelmäßiger Nutzung zeigten, hatte Günther Ludwig hier viel Energie in die Dokumentation seiner Recherchen hineingesteckt. Tim malte sich aus, wie er hier nächtelang vor der Wand stand, Zusammenhänge suchte und Postits beschrieb. Die Recherchen zum Tod seiner Schwester schienen ihn sehr beschäftigt und angetrieben zu haben.
Es klingelte an der Haustür. Die Kriminaltechnik war eingetroffen. „Schön, euch wiederzusehen. Dann kommt mal rein in die gute Stube.“ Mit diesen Worten ließ Rainer sie hinein und gab ihnen eine kurze Führung durch das Haus. Tim und Rainer wussten, dass sie jetzt ihren Kollegen nur im Weg stehen würden. Doch gerade als Tim das Haus verlassen wollte, fiel ihm im Arbeitszimmer von Günther Ludwig etwas auf. Dort stand zwischen Drucker und Bildschirm eine Dockingstation für einen Laptop. Aber er konnte in dem Raum keinen sehen. Auch in den anderen Räumen hatte er keinen Laptop gefunden. Vielleicht hat Günther Ludwig es zur Arbeit mitgenommen und dort stehen lassen. „Hast du im Haus einen Laptop gesehen?“ Rainer schüttelte den Kopf, „Nein, aber vielleicht finden die Kollegen der Kriminaltechnik ja etwas.“ Tim nahm sich vor, andernfalls dem bei der späteren Durchsuchung des Arbeitsplatzes von Günther Ludwig nachzugehen.
Als beide das Haus verlassen hatten, blickten sie auf der Straße in beide Richtungen. Gegenüber dem Haus konnte Tim zwischen hohen Laubbäumen die weiß verputzte Dorfkirche von Wünsdorf sehen. Die sie umgebende hüfthohe alte Steinmauer passte nicht ganz in das Bild, störte aber auch nicht. Tim stellte sich vor, wie hier früher Dorffeste veranstaltet wurden und Günther Ludwig als Kind mit seiner Schwester mit all den anderen Kindern hier getobt hatte. Dabei musste er an seine eigene Kindheit und sein enges Verhältnis zu seiner Schwester denken. Rainer riss ihn abrupt aus seinem Tagtraum. „Tim, ich übernehme die beiden Häuser rechts. Mal schauen, was uns die Nachbarn zu Günther Ludwig sagen können. Bis gleich.“ Somit blieben für Tim die beiden Häuser zur Linken übrig.
Zunächst ging Tim zum frisch gestrichenen Nachbarhaus mit einem äußerst gepflegten Vorgarten. Hier hatte er vorhin die Bewegung der Gardine aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Dieses stand im direkten Kontrast zum Haus von Günther Ludwig. Während sich das Gebäude hier über die Jahrzehnte immer weiterentwickelt zu haben schien, hatte das von Günther Ludwig irgendwie den Anschluss verpasst und war wortwörtlich in der Vergangenheit stehengeblieben. Dies galt sowohl für das Äußere als auch das Innere des Hauses. Nachdem Tim geklingelt hatte, vergingen keine zwei Sekunden, bis sich die Haustür einen Spalt öffnete. Er wurde wohl erwartet. Nachdem er seinen Dienstausweis gezeigt hatte, öffnete die Nachbarin die Tür ein Stück weiter. Auf der anderen Seite der Tür stand eine ältere Frau mit Brille auf der Nase, die ihn misstrauisch ansah.
Tim teilte ihr mit, dass ihr Nachbar Günther Ludwig tot sei und die Polizei jetzt Nachforschungen vornehme. Ihre Augen blitzen kurz neugierig auf. „Bitte wie? Der Günther soll tot sein? Das kann ich gar nicht glauben. Sind Sie auch ganz sicher? Ist er etwa der Tote, der heute Morgen in der Waldstadt gefunden wurde? Eine meiner Freundinnen hat mir gerade eben am Telefon davon berichtet.“ Er hatte den Eindruck, dass die Frau bestürzt über den Tod von Günther Ludwig war, aber gleichzeitig auch diese Sensation als Abwechslung vom tristen Alltag zu genießen schien. Tim ging auf ihre Fragen nicht ein, sondern stellte seinerseits die Frage, wann sie ihn das letzte Mal gesehen habe. „Warten Sie, das letzte Mal habe ich Günther gestern Abend mit seinem Fahrrad wegfahren sehen. Es muss kurz vor dem Heute Journal gewesen sein. Das schaue ich nämlich jeden Abend im Fernsehen. Wissen Sie, heutzutage kommt im Fernsehen ja nichts Vernünftiges mehr, nur Gewalt und diese neumodischen Shows. Früher gab es so viele romantische Filme im Fernsehen.“, seufzte sie. Tim nickte: „Was können Sie mir zu Günther Ludwig sagen? Hat er noch Familienangehörige und wissen Sie, wem er nahe stand?“ Die Hintergrundermittlungen zu ihm liefen bereits auf Hochtouren. Sven Ziegler wertete in diesem Augenblick alle Datenbanken aus, um jegliche vorhandenen Informationen zu Günther Ludwig zusammenzutragen. Trotzdem stellte Tim die Frage ganz bewusst, weil keine Datenbank alle relevanten Informationen über eine Person und erst recht nicht über seine Beziehungen enthielt. Außerdem konnte man mit solch einer Frage einen guten Eindruck über die Beziehung zwischen Opfer und dem Befragten gewinnen. „Der Günther und seine Familie hatten sehr viel Pech im Leben, wissen Sie? Kein Wunder, dass er so zurückgezogen lebte. Er konnte den frühen Tod seiner Schwester einfach nicht überwinden. Genau wie seine Eltern.“ Sie schaute ihn traurig und mit einer Spur Theatralik an. Tim verdeutlichte ihr mit seinem Blick, dass sie fortfahren sollte. „Beate war ein sehr hübsches und lustiges Mädchen, einfach wundervoll. Jeder hier in der Nachbarschaft schwärmte geradezu von ihrer liebenswürdigen Art. Sie war so beliebt bei allen. Die arme Beate! Es heißt sie wurde grausam von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Diesen Dreckskerlen! Danach sah sie immer sehr traurig und in sich gekehrt aus. Ich habe sie kaum noch gesehen, da sie sich scheinbar gar nicht mehr aus dem Haus traute. Ein paar Wochen später fand man sie hier in der Nähe am See erhängt auf. Darauf hin zog sich die Familie Ludwig immer mehr aus dem Dorfleben zurück. Die Eltern müssen so in etwa vor zwanzig Jahren an Krebs verstorben sein. Seitdem lebte der Günther alleine in dem Haus.“ Damit beendete sie ihre Ausführungen. Tim hatte erst einmal genug gehört. „Vielen Dank für Ihre Informationen. Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte.“
Nachdem Tim im zweiten Haus niemanden angetroffen hatte, ging er langsam wieder zurück zu Günther Ludwigs Haus. Die Vergewaltigung der Schwester schien die Familie zerstört zu haben und hatte ihn selbst dreißig Jahre später nicht zur Ruhe kommen lassen. Er konnte das auf eine gewisse Weise nachvollziehen.