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überlegte, ob ich durch eines der offenen Fenster in die Wohnstube klettern und von dort aus versuchen sollte, in das Atelier zu schlüpfen, als Addi plötzlich mitten im Lied abbrach und hinfiel wie einmal schon, und wie einmal schon mit den Beinen stieß und zuckte, sich aufbäumte und mit den Zähnen knirschte. Ich flitzte sofort zu ihm, aber vor mir war Hilke schon da, und wie in den Dünen kniete Hilke neben ihm und befreite ihn zuerst von der Last des ausgezogenen gekrümmten Instruments, das seine Brust umschloß gleich einer Schwimmweste.

      Geht weg, sagte sie, geht weg, aber die andern kamen von allen Seiten heran, drängten näher, bildeten einen Kreis aus Betroffenheit, aus Staunen und wohl auch Furcht, denn sie sagten nichts, stießen sich nicht einmal an, sondern wechselten nur Blicke über Addi hinweg, dessen Gesicht sich verfärbt hatte, dessen Lippen fest aufeinandergepreßt waren. Alle standen sie da mit vorgeschobener Schulter: die Holmsens, die eben noch getanzt hatten, Pastor Treplin und der Vogelwart Kohlschmidt und der Deichgraf Bultjohann. Mein Großvater stand schweigend da, desgleichen Plönnies und Kapitän Andersen. Und hoch aufgerichtet, weniger betroffen als in herrischer Gleichgültigkeit, stand meine Mutter etwas außerhalb des Rings und beobachtete nicht Addi, sondern Hilke.

      Nur einer zwängte sich durch den Kreis mit leisen, dringenden Worten, und das war Doktor Busbeck. Er wartete nicht. Er brauchte sich nicht zu erkundigen. Er bat um Durchlaß, kniete sich gegenüber von Hilke hin, zog sein Taschentuch und trocknete das schweißbedeckte Gesicht, wobei Addi selbst schon wieder die Augen öffnete und freundlich, vor allem verständnislos um sich sah.

      Hei mutt wat to äten hebben, rief der Kulturfilm-Kapitän. Niemand stimmte ihm zu. Jetzt geht es, sagte Hilke, jetzt ist es vorbei, während Addi sich mühsam aufstützte, sich mit Doktor Busbecks Hilfe erhob und verwirrt den Kreis musterte, der ihn umgab. Da konnte Hilke doch gar nichts Besseres einfallen, als seinen Arm zu nehmen und lächelnd mit ihm zunächst zur Schaukel hinunterzugehen, dann auf dem äußeren geschwungenen Weg weiter zum Gartenhaus, so daß der Versammlung einfach nichts anderes übrigblieb, als sich zu zerstreuen, obwohl einige, und besonders Per Arne Scheßel, nicht aufhörten, unter schweren Lidern auf die Stelle zu blicken, wo Addi gelegen hatte. Und dann sah ich, wie Addi meinen Stock am Gartenhaus aufhob, ihn Hilke zeigte und zu Hilke offensichtlich sagte: Das ist doch Siggis Stock, worauf ich hochsprang mit emporgeworfenen Armen und: Hier, hier! rief, und nachdem Addi mich entdeckt hatte, warf er den Stock durch den Garten unter die Schaukel, wo ich ihn mir holte.

      Ich wollte ihm zuwinken, doch ich tat es nicht, als ich sah, daß meine Mutter ihnen den Weg abschnitt und versuchte, sie am entlegenen alten Brunnen zu stellen, dort bei der Laube aus Flieder. Unter der Schaukel setzte ich mich hin, entfaltete mein blaues Taschentuch und befestigte es mit den Reißnägeln am Stock, und mit flatternder, blauer Fahne marschierte ich zurück, mitten in den Geburtstag hinein, immer wieder an Bänken, Tischen und Stühlen vorbei, wo man zuhauf saß, rauchte und flüsterte, nachdenklich zischte. Ich ließ meine Fahne flattern, ich warf sie hoch in die Luft, obwohl doch niemand in Rugbüll war, der es hätte erkennen und daraus seine Schlüsse ziehen können.

      Bis hierher, einstweilen nur bis hierher, denn ich kann nicht verschweigen, daß es in dem Augenblick, in dem ich meine blaue Fahne hoch in Luft warf, an meine Zellentür klopfte, sehr scheu, sehr verhalten klopfte, aber immer noch deutlich genug, so daß ich aus meiner Erinnerung regelrecht herausgeklopft wurde, mein Heft schloß und mich ärgerlich zur Tür drehte. Hinter dem Guckloch bewegte sich etwas, Braun löste Weiß ab. Ein glühender Knopf begann da zu rotieren. Blitzend sprangen einige Lichtpfeile zu mir herein. Ich stand wider Willen auf, als die Tür unerträglich langsam geöffnet wurde, wie in einem Kriminalfilm tat sie sich auf, gleichmäßig, eindringlich knarrend, jedenfalls mit einer Verzögerung, die auf keinen guten Besuch schließen läßt – da hätten nur noch wehende Gardinen gefehlt und ein Buch, das sich selbst aufblättert –, und weil ich dem Geburtstag in Bleekenwarf nicht zu lange fernbleiben wollte, sagte ich höflich: Komm rein, es zieht.

      Er trat schnell ein, steppte zur Seite und überließ es Karl Joswig, den ich hinter ihm auf dem Korridor entdeckte, die Tür von außen zu schließen. Er war offensichtlich verlegen, seine Mundwinkel zuckten; er kam mir, wenn ich heute daran denke, wie ein junger Tierpfleger vor, der sich zum ersten Mal in den Käfig gewagt hat. Unsicher, doch sympathisch lächelte der junge Psychologe, tänzelte auf der Stelle hin und her. Die knappe Verbeugung, zu der er ansetzte, konnte ihm nicht gelingen, da er zu nah an der Tür stand. Er war drei, vielleicht fünf Jahre älter als ich, feingliedrig, sehr blaß. Seine Kleidung gefiel mir: sie war sportlich und etwas nachlässig. Ich konnte mir nicht erklären, warum er die linke Hand krampfhaft geschlossen hielt – vielleicht hielt er dort, sozusagen, ein Stück Zucker für mich bereit, vielleicht aber auch eine Waffe. Da ich ihn nicht gerufen hatte, begnügte ich mich damit, ihn schweigend zu mustern, wobei ich ihn mit einem Blick maß, in dem ärgerliches Erstaunen lag; mein Blick forderte ihn auf, sich kurz zu fassen.

      Herr Jepsen? fragte er liebenswürdig, worauf ich nach kurzem Zögern ziemlich zugeknöpft antwortete: Allerdings. Diese Antwort schien ihn keineswegs zu entmutigen, er drückte sich mit dem Gesäß von der Tür ab, bot mir eine kraftlose Hand an und sagte: Mackenroth, Wolfgang Mackenroth; es freut mich, Ihnen zu begegnen. Er lächelte mir freundlich zu, zog seinen Mantel aus, legte ihn auf den Tisch, und mit einer Vertraulichkeit, die durch nichts gerechtfertigt war, legte er eine Hand auf meinen Ellenbogen, sah mich zuversichtlich an und fragte mich mit einer Geste, ob er meinen Stuhl haben könne. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte den Stuhl nicht haben. Falls Sie es nicht wissen, sagte ich, hier wird gearbeitet: ich befinde mich mitten in einer Strafarbeit.

      Das war ihm bekannt. Der junge Psychologe wußte, was mir zugestoßen war, sparte nicht mit Anerkennung für mein Unternehmen, entschuldigte sich sogar für die Störung und berief sich auf eine Sondererlaubnis, die Direktor Himpel ihm ausnahmsweise gegeben hatte. Bitte, sagte er, bitte Herr Jepsen, Sie müssen mir helfen, es hängt einiges von Ihnen ab. Ich zog die Schultern hoch, ich murmelte höflich: Schmier ab, Junge, mir hilft auch keiner, und um ihm zu zeigen, daß ich keine Zeit für ihn hatte, setzte ich mich auf den einzigen Stuhl in meiner Zelle und spielte mit dem Taschenspiegel. Mein Taschenspiegel borgte sich Licht bei der elektrischen Birne, ließ den Lichtstrahl über Ofen, Ausguß, Fenster wandern, unterhielt sich kurz mit dem Guckloch, hinter dem Joswigs Auge Wache hielt, dekorierte die Decke mit ein paar flüchtigen Lichtgirlanden und schnitt lautlos die Zellentür in schmale Streifen. Da der junge Psychologe immer noch nicht ging, putzte ich mir zuletzt mit dem Lichtstrahl die Schuhe und tat alles, was man tut, wenn man sich allein fühlt. Ich übersah meinen Besuch, ich schlug mein Heft wieder auf und versuchte, mich lesend dem Garten von Bleekenwarf zu nähern. Wolfgang Mackenroth blieb. Er blieb und betrachtete mich aufmerksam und freundlich wie ein gerade erworbenes Eigentum, möchte ich mal sagen, einen noch ungewohnten Besitz, den man erst entdecken muß, und weil ich gegen meinen Willen spürte, daß dieser Wissenschaftler mir einfach durch sein kumpelhaftes Verhalten auf unerwünschte Weise sympathisch zu werden begann, fragte ich ihn, ob er sich nicht in der Tür geirrt habe. Sie, sagte er, Sie, Herr Jepsen, und ich, wir sollten uns verbünden, und dann fing er an, mich mit seinen Absichten bekannt zu machen. Der junge Psychologe war gezwungen, eine Diplomarbeit zu schreiben. Das Unternehmen, das er seine freiwillige Strafarbeit nannte, sollte ihn wissenschaftlich weiterbringen. Geschickt für uns beide Zigaretten drehend, seinen Hals massierend, schlug er mir vor, Objekt seiner Diplomarbeit zu werden. Ich sollte eingehen in seine Diplomarbeit, wie er sagte, sollte sorgfältig verarbeitet werden. Ein wissenschaftliches Begräbnis erster Klasse sollte ich also erhalten. Mein kompletter Fall, so schlug er mit sympathischer Selbstironie vor, sollte von ihm aufbereitet werden, mit allen Höhen und Tiefen und so weiter. Einen Titel hatte er schon in der Tasche: Kunst und Kriminalität, so sollte die Arbeit heißen, dargestellt am Fall des Siggi J. Damit aber diese Diplomarbeit nicht nur gelinge, sondern in der wissenschaftlichen Welt geziemende – er sagte: geziemende Beachtung finde, sei meine Hilfe unerläßlich. Dafür bot er mir zwinkernd eine witzige Entschädigung an: ein sehr seltenes Angstgefühl, das, wie er meinte, die wahre Triebfeder meiner einmaligen Aktionen gewesen sei, wollte er die Jepsen-Phobie nennen – was mir die Möglichkeit bot, eines Tages das Wörterbuch der Psychologie zu erreichen.

      Nachdem so der junge Wissenschaftler, mit der Sondererlaubnis von Direktor Himpel, all seine Pläne freimütig vor mir ausgebreitet

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