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gegenüberliegende Straßenseite erreicht und war in einen schmaleren Fußgängerweg eingebogen. In dem Bewusstsein, dass seine Handlung nun sowieso nicht mehr rückgängig zu machen war, ergab Ron sich ohne zu Zögern in sein Schicksal und folgte ihr in angemessener Entfernung. Diskret um Abstand bemüht, betrat er kurz nach ihr durch eine gläserne Eingangstür die städtische Bibliothek. Aus ihrem prallen Rucksack zog sie lächelnd einen sperrigen Stapel Bücher und legte ihn mit dankendem Kopfnicken auf die Theke am Rückgabeschalter.

      Ron schob seine lästige Befürchtung, sie könne seine Verfolgung bemerkt haben, bang beiseite und schlenderte ihr hinterher in die Romanabteilung. Zwischen den büchervollen Regalen verlor er sie immer wieder aus den Augen, denn es boten sich nur schmale Durchblicke an, durch die er ihren Weg erspähen konnte. Einer nur ihr bekannten unsichtbaren Spur folgend, schritt sie die zahlreichen Gänge ab, blieb immer wieder unerwartet stehen, zog mit ernstem Interesse einzelne Bücher hervor, um sie einer kurzen aber gewissenhaften Prüfung zu unterziehen. Nur selten zögerte sie und kam rasch zu ihrem Urteil. Egal ob Taschenbuchformat oder fester Einband, buntes Cover oder schlichte Aufmachung, unbeeindruckt von solchen Äußerlichkeiten vollzog sie gleich an Ort und Stelle ihren Richtspruch, schob die für uninteressant befundenen Werke mit hochgezogenen Augenbrauen rasch zurück in die Vergessenheit des Regals oder ließ die auserwählten Exemplare mit einem leichten Lächeln auf den Lippen in ihren Korb gleiten.

      Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er es ihr nach, gab vor, die Titel und Autoren zu studieren, bevor er sie in die Hand nahm, und stellte sie jedes Mal wieder schnell zurück auf ihren angestammten Platz, um ihr mit seinen Blicken und Schritten weiter nachzulauern, sobald sie sich wieder in Bewegung setzte.

      Konnte er es jetzt noch wagen sie unbefangen anzusprechen? Es wäre ein Leichtes, das Gespräch auf die Begegnung in der Straßenbahn zu lenken. Mit einer Bemerkung über das zufällige Wiedersehen in der Bibliothek wäre allerdings die erste Lüge gefallen und hätte seiner Geschichte vom Neu-in-die-Stadt-Gezogenen einen schalen Beigeschmack verliehen. So gut kannte er ihr Gesicht bereits, dass er sich vorstellen konnte, wie sie geringschätzig ihre Augenbrauen hochziehen und ihn mit der gleichen vernichtenden Kühle wie einen ihrer für langweilig befundenen Schmöker in die hinterste Ecke ihrer Aufmerksamkeit schieben würde.

      Ein glockenhelles Lachen riss ihn aus seinen Grübeleien. Seine Fremde hatte offensichtlich eine Bekannte getroffen, der sie ausführlich flüsternd einiges mitzuteilen hatte. Wispernd und tuschelnd flogen die Sätze hin und her, ohne dass er ihren Sinn erfassen konnte. In der verzweifelten Hoffnung besser lauschen zu können, wenn er alle visuellen Eindrücke ausblendete, schloss er für einige Sekunden die Augen.

      Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Ungläubig sah er sich wieder und wieder um. Keine Spur von ihr. Er lief in den Gang, in dem er sie vermutete. Nichts. Er eilte in Richtung Ausgang. Nichts. Er rannte zurück zu der Stelle, an der er sie eben noch sprechen gehört hatte. Nirgends war sie zu sehen. Aber auf dem Boden, mitten im Gang, lag direkt vor seinen Füßen ein Buch. Ganz sicher hatte sie es in der Hand gehabt. War es ihr heruntergefallen? Hatte sie es liegen lassen? Vielleicht sogar absichtlich? Er bückte sich, hob es auf und hetzte zurück zum Ausgang, um ihr das Buch zu bringen.

      War das nicht ihre grüne Bluse, die eben durch die Tür nach draußen verschwand? Ron rannte hinterher und wurde freundlich aber sehr bestimmt zurückgerufen.

      „Sie müssen mir erst Ihren Bibliotheksausweis zeigen, bevor Sie das Buch nach draußen mitnehmen können!“

      Eine junge Büchereiangestellte mit burschikosem Kurzhaarschnitt deutete streng auf das Buch, das er noch immer fest in seiner Hand hielt. Kopfschüttelnd erkannte sie, dass ihr mit Ron ein besonders begriffsstutziger Besucher gegenüberstand.

      „Haben Sie überhaupt einen Bibliotheksausweis zum Ausleihen?“

      „Ausleihen?“ Ron warf einen letzten sehnsüchtigen Blick nach draußen. Von seiner Fremden fehlte inzwischen jede Spur. Nur widerwillig wandte er sich der jungen Frau hinter der Theke zu, die geduldig darauf wartete, dass dieser Traumtänzer wieder zu sich kam. Rons felsengroße Hoffnung, die Fremde jemals wiederzusehen, schrumpfte in Sekundenschnelle zu einem mikroskopisch kleinen Staubkorn zusammen. Sie war ihm entwischt.

      „Okay, dann leihe ich mir wenigstens das Buch aus“, dachte er und ergab sich resigniert der notwendigen bürokratischen Prozedur, füllte ein Formular aus, zeigte seinen Personalausweis vor und leistete mehrere Unterschriften auf verschiedenen Dokumenten.

      Allmählich verschwand alle Strenge aus dem sommersprossigen Gesicht der Bibliothekarin. Verschmitzt lächelnd überreichte sie ihm seinen nagelneuen Bibliotheksausweis.

      „Willkommen als Leser in unserer Stadtbücherei, Herr Ron Hiker.“

      Mit einer feierlichen Geste legte sie ihm das Buch in die Hände. Erst jetzt las Ron den Titel, den ihm der Zufall in die Hände gespielt hatte. Eine hoffnungsvolle Millisekunde lang schlugen sein Herz und sein Verstand im Gleichtakt. Nein, an einen Zufall konnte er jetzt nicht mehr glauben. Er hielt Shakespeares Romeo und Julia in seinen Händen.

      „Auf Wiedersehen“, zwinkerte ihm die Büchereiangestellte verschwörerisch zu. „Und viel Spaß bei Ihrer Lektüre.“

      Nun hatte er mit der schönen Unbekannten wenigstens eine Gemeinsamkeit. Die Ausleihfrist der mitgenommenen Bücher würde auch sie an den Ausgangspunkt des Geschehens zurückführen. Dies war unbestreitbar seine Chance auf ein Wiedersehen.

      Darauf, dass sie ihm mit dem Titel Romeo und Julia eine besondere romantische Botschaft zuspielen wollte, wagte er kaum zu hoffen und tat es deshalb umso mehr. Wenn seine „Julia“ ihn bemerkt und ein wenig interessant gefunden hatte, dann konnte dieser literarische Wink doch das unverfängliche Einverständnis zu einer weiteren Begegnung bedeuten.

      Oder hatte sie in diesem schmalen Buch etwa eine konkrete Botschaft versteckt, vielleicht einen Zettel mit ihrer Telefonnummer hinterlassen? Sein Herz unternahm den nächsten hoffnungsvollen Luftsprung. Hektisch begann er das schmale Bändchen durchzublättern, zerrte an den einzelnen Seiten, packte es an seinem Rücken und schüttelte es rücksichtslos hin und her. Aber der so grob misshandelte Delinquent schwieg beleidigt und gab weder einen Zettel noch irgendein anderes Geheimnis preis. Vielleicht verbarg sich in dem Bühnenstück selbst eine geheime Botschaft? Bedeutete ihr dieses Werk persönlich besonders viel und sie hoffte, er würde diese sehr private Bedeutung erkennen?

      Zerstreut fiel sein Blick auf seine Armbanduhr. Über all dem hatte er völlig die Zeit und den auf ihn wartenden Magus vergessen. Selbst wenn sein Cousin ein Musterbeispiel an Geduld und Verständnis wäre, inzwischen hatte er sicher das Restaurant schon wieder verlassen. Ron gelobte, sich ausgiebig bei Magus zu entschuldigen und ihn in Form einer großzügigen Gegeneinladung für sein erfolgloses Warten zu entschädigen. Er nahm die nächste Straßenbahn und fuhr zurück in seine Wohnung.

      Hatte er Romeo und Julia jemals selbst gelesen? Das Drama gehörte zu den Klassikern, die man allgemein hin kannte, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Das Wissen um die tragische Liebesgeschichte war Allgemeingut und hatte bereits zahlreiche Kinofilme gefüllt. Plötzlich begann er daran zu zweifeln, dass diese Geschichte für ihn eine wünschenswerte Botschaft enthalten konnte. Romeo und Julia endeten tragisch. Es gab kein Happy End.

      Hatte sie ihm mit diesem Buch einen Korb zugespielt? Doch dann lag ihr zumindest so viel an ihm, dass er ihr den Aufwand einer Botschaft wert war. Es half nichts. Um eine Antwort auf diese quälenden Fragen zu erhalten, musste er sich in die Lektüre begeben und herausfinden, was Shakespeare wirklich geschrieben hatte. Zögernd schlug er das Buch auf, das er an diesem Tag schon so oft hinund hergedreht hatte, und begann zu lesen.

       2

       Zwei Häuser in Verona, würdevoll,

       Wohin als Szene unser Spiel Euch bannt,

       Erwecken neuen Streit aus alten Groll,

       Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand …

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