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dass ich sie sofort aus ihrem Versteck holte, eingestaubt und vergilbt, wie sie da wer weiß wie lange schon lagen und darauf warteten, gelesen zu werden. Ich habe mir zunächst das Tagebuch vorgenommen. Es ist in rotbraunes Leder gebunden, mit Goldschnitt, prall gefüllt mit hauchfeinen Seiten und einer energischen, ebenmäßigen Handschrift. Es stammt noch aus dem letzten Jahrhundert und beginnt mit dem 16. Februar 1882. Fast achtzig Jahre ist das jetzt her! Die unbekannte Schreiberin ist anscheinend eine schon etwas ältere Londoner Wissenschaftlerin, die kurz vor der Hochzeit steht. Doch dann bringt ein plötzlich auftauchender ausländischer Graf, den sie von früher kennt und das Mysterium nennt, ihre Gefühle völlig durcheinander. Er ist von einer seltsamen Macht umgeben und manipuliert sein Umfeld, ohne dass dieses es überhaupt bemerkt. Nur sie durchschaut ihn und kann sich ihm trotzdem nicht entziehen. Schlimmer noch, sie fühlt sich zu ihm hingezogen, obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt.

      Der Graf stellt sich ein paar Zeilen später als Vater ihres Neffen und ihrer Nichte heraus, dem sie einst geholfen hat, diese großzuziehen. Doch das war in einem anderen Leben, mit dem sie abgeschlossen zu haben hoffte. Ein ominöses Amulett, welches sie in einer Silberschatulle vergraben hatte, die sie nun wieder ans Licht geholt hat, scheint der Schlüssel zu allem zu sein. Es birgt all ihre Erinnerungen, die in ihrem neuen Leben keinen Platz mehr haben dürfen. Sie weiß: wenn sie die Schatulle öffnet, öffnet sie eine Tür zur Vergangenheit – und damit zu ihm, den sie ebenso verabscheut wie begehrt. Der Zwiespalt, in dem sie steckt, ist furchtbar und droht sie zu zerreißen. Selbst ihre Heirat mit einem Neurologen, den sie zärtlich liebt, kann diesen Spuk nicht beenden. Immer größer wird ihre Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Grafen …

      Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie es weitergeht! Ich wünschte nur, ich könnte schneller lesen. Aber erstens habe ich Mühe, die geschwungene Handschrift im Kerzenschein zu entziffern, und zweitens muss ich viele Wörter in meinem Langenscheidt nachschlagen. Das hält ziemlich auf. Letzte Nacht habe ich gelesen, bis mir die Augen zufielen. Da wurde es bereits wieder hell.

       Später am Tag

      Ich habe in einem Tea-Room eine Tasse Tee getrunken und ein Sandwich gegessen. Anschließend bin ich auf der Promenade spazieren gegangen, denn es ist heute ein herrlicher Sommertag.

      Ich sollte mir einen Strohhut kaufen. Zu viel Sonne bekommt mir nicht. Das habe ich mit den Engländern gemeinsam. Sie laufen hier alle rot wie die Krebse herum.

      Ich habe mir den Guardian mitgebracht.

      Die heutige Schlagzeile: Das Ober- und das Unterhaus stimmen dem Beitritt Großbritanniens zur EWG zu.

      Na, also. Wir wachsen zusammen, zumindest wirtschaftlich. Dafür droht in Berlin die Zonengrenze geschlossen zu werden, wie ich dem winzigen Artikel auf der letzten Seite „Aus aller Welt“ entnehme. Die Flüchtlingszahlen aus Ost nach West sollen in den letzten Tagen weiterhin drastisch angestiegen sein.

      Komisch, diese Meldung scheint mit mir nicht mehr das Geringste zu tun zu haben. Berlin ist plötzlich so weit weg. Nicht nur geografisch.

      Ich muss zurück zu Judiths Tagebuch, denn so heißt die fleißige Tagebuchschreiberin.

       Am Nachmittag

      Was für Wechselbäder der Gefühle. Die Ärmste!

      Alles ist wieder im Lot, schrieb Judith am 4. März 1883. Sie hatte beschlossen, die Finger von der Schatulle zu lassen, und schien ihren Seelenfrieden wiedergefunden zu haben. Ein ganzes Jahr lang erfolgte kein Eintrag. Man kann also davon ausgehen, dass sie in dieser Zeit eine glückliche Ehe mit ihrem Edward führte, in der ihr entweder nichts Außergewöhnliches widerfuhr oder in der sie einfach keine Zeit fand, ihr Tagebuch zu führen. Seiten wurden jedenfalls keine herausgerissen.

      Zu meiner großen Überraschung hat sie nach der langen Zeit dann doch noch die Schatulle geöffnet – und damit all ihre Erinnerungen und Sehnsüchte freigesetzt.

      Warum tat sie das? Sie wusste doch um die Gefahr …

       Etwas später

      Sie wolle Gewissheit, schreibt sie, denn sie sei eine Frau der Wissenschaft – ungewöhnlich für die Zeit, in der sie lebte.

      Und prompt beginnt sie an ihrer Ehe zu zweifeln. Wie eine Droge wirkt das Amulett, sie kann einfach nicht davon lassen. Je häufiger sie es zur Hand nimmt, desto größer wird ihr Verlangen danach – und natürlich nach IHM, dem ominösen Grafen. Eine unbändige Liebe entbrennt in ihr, aufregend und verboten!

      Aber dies ist kein kitschiger Liebesroman aus viktorianischen Zeiten. Es ist das Tagebuch einer vernunftbegabten Frau Ende des letzten Jahrhunderts. Sie hat tatsächlich existiert.

      Wie können Erinnerungen so viel Macht über einen haben? Wie kann überhaupt etwas oder jemand so viel Macht über einen haben?

      Judith quält sich mit dieser Sünde und glaubt, ihren Mann jeden Tag gedanklich und in ihren Träumen zu betrügen, was er – der beste Ehemann aller Zeiten – nicht verdient habe. Trotzdem kann sie nicht anders. In ihrer Not wendet sie sich an ihre Freundin Jane, die in einem Cottage in der Grafschaft Kent wohnt.

      Mir stockte der Atem, als ich von einer losen Bodendiele las, in der einst die Briefe ihrer Schwester versteckt gehalten worden waren. Sollte etwa dieselbe Diele gemeint sein, in der ich nach achtzig Jahren ihr Tagebuch und das mir noch unbekannte Bündel Briefe gefunden habe? Hat sich die Szene zwischen den beiden Frauen womöglich genau hier, in dieser Bruchbude zugetragen?

      Und heißt die Kirche in diesem Ort nicht ebenfalls St. Mary’s? Davon ist in dem Tagebuch nämlich die Rede. Höchste Zeit, dass ich mir mal die Füße vertrete!

       Viel später

      So ist es.

      Ich habe einen Rundgang über den Friedhof gemacht und mir die Gräber angeschaut. Aber die Steine sind ziemlich verwittert, die Inschriften teilweise kaum zu lesen. Ich konnte jedenfalls keine Judith Williams darunter entdecken. Ein junger Vikar lief mir über den Weg. Er war so freundlich, mich einen Blick ins Innere der Kirche werfen zu lassen. Sie ist prachtvoll. Besonders der Altar. Stolz hat er mir von ihrer langen Historie erzählt. Ich konnte sein Englisch gut verstehen. Er fragte, ob ich hier Badeurlaub mache und woher ich komme. Ich bejahte, sagte ihm, dass ich aus Deutschland bin, und log, dass ich im Palace Hotel wohne.

      Ich weiß nicht, warum ich das tat. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich verbotenerweise im Cottage aufzuhalten. Als wäre es ein geweihter Ort. Oder als würden noch die Geister aus alten Tagen darin wohnen und ich diese in ihrem Frieden stören. Schließlich war das Tagebuch nicht für meine Augen bestimmt. Wie indiskret von mir!

      Anschließend trieb mich mein knurrender Magen hinunter zum Hafen. Dort fand ich eine Fish 'n' Chips Bude. Panierter Fisch mit Pommes in Zeitungspapier. Und dann kippen die Engländer auch noch Essig über das Ganze. Nun ja, ich muss zugeben, dass mir das fettige Zeug verdammt gut schmeckte. – Keine Kraftausdrücke! Entschuldige Mutti. – Auf jeden Fall dürfte es eine Weile vorhalten.

      Das Essen wird allmählich zum Problem. Hätte ich einen Kühlschrank, könnte ich mir Milch kaufen und mich von Cornflakes ernähren. Aber so etwas Modernes hat diese Hütte wahrscheinlich noch nie gesehen. Irgendwie sympathisch!

      Allmählich fange ich an, den alten Schuppen mit anderen Augen zu sehen. Das ging schnell.

       Abends

      Ich habe Judiths irische Großmutter Granny Bridget kennengelernt und Judiths Vater, den Vikar, sterben sehen. Er soll ihre Schwester getötet haben. Du lieber Himmel, was für eine Familie!

      Das Kerzenlicht flackert in einer Tour. Als ob Geister hier umherschleichen …

      Ich kann kaum noch die Augen offen halten und sollte mich besser schlafen legen. Nur noch ein paar Zeilen …

      Sie tut’s! Sie verlässt ihn!!!

      Nach drei Jahren Ehe und Selbstquälerei gesteht Judith sich endlich ihre wahre Liebe ein und reist zu ihm. GOTT SEI DANK. Nun kann ich

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