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hatte Helmut Schmidt auf die Formel gebracht: »Wie der Bulle pißt, eben mal so und mal so.«

      Hermann mißtraute den Beteuerungen der Union, den Frieden in Europa aufrechterhalten zu wollen: »Dem Kohl, dem nehm ich das vielleicht noch ab, daß er in Bonn nur gemütlich regieren will, aber dem Strauß? Dem brennen doch sofort die Sicherungen durch, wenn der Russe mit dem Säbel rasselt …« Das hätten inzwischen hoffentlich auch die Wähler kapiert.

      »Und was machst du, wenn die Union trotzdem ans Ruder kommt?«

      »Dann steck ich mich ins Rohr.«

      Die frühe 1:0-Führung der Eintracht bog Gladbach im Frankfurter Waldstadion durch Tore von Simonsen und Wittkamp in ein 1:3 um und blieb damit auch am achten Spieltag Nummer eins. Wohlan.

      Um fünf Uhr, gerade rechtzeitig zum Tee, den ich selbst gekocht hatte, weil Renate dafür zu k.o. war, kamen Mama und Papa zurück.

      Unterwegs, erzählte Mama, sei der Peugeot kaputtgegangen, und deswegen hätten sie am letzten Sonntag die Wahlkampfrede von Strauß auf dem Marienplatz in München versäumt, »aber das kann ich verschmerzen!« Ihr, also Mama, sei die penetrante CSU-Reklame in ganz Bayern sowieso schon auf den Wecker gegangen. »Ist ja ganz nett, da mal reinzuschnuppern, aber ewig wollt’ ich da nicht leben.« In Bad Tölz habe irgendein Bauer seine Kuhherde über die Straße getrieben, mitten in der Stadt, wie im Mittelalter. »Geschadet hat’s nix, nur gestunken.«

      Ohne Kinder zu verreisen, das sei eigentlich der ganze Witz. »In Salzburg haben wir das Mozarthaus besichtigt, in der Getreidegasse, und zwar in ruhigerer Gangart als vor elf Jahren.« Was allein ich da 1965 für ein Theater gemacht hätte! »Und denkt mal an – im Hof vom Deutschen Museum in München hat ’n Starfighter aus Upjever gestanden, von der Luftwaffenschule. Da hat Papa natürlich sofort seinen Kopp in den Auspuff gesteckt.«

      Wiebke erhielt ein Halstuch, Renate ein mit rosa Steinchen besetztes Armband, Volker ein Buch über Militärflugzeuge und ich einen Bayern-München-Wimpel.

      Das Armband würde gut zu ihrem einen Ring von Olaf passen, sagte Renate, aber mein Wimpel paßte absolut nirgendwohin.

      Am Sonntagvormittag zogen Mama und Papa sich fein an, bevor sie zum Wahllokal gingen, und anschließend gab’s Gulasch mit Kartoffeln und Wirsing und dann fast auch noch Streit, weil Wiebke ein zerkautes Stück Fleisch auf ihren Teller gehustet hatte.

      »Was ist denn das für ein Benimm?«

      Volker hatte keinen Bock, aber Renate, Wiebke und ich fuhren freiwillig mit, als Mama Oma und Opa Jever nach dem Essen einen Besuch abstatten wollte.

      Auf der Hinfahrt bat ich alle darum, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn ein Briefkasten in Sichtweite komme. Ich hatte Michael Gerlach einen fünfzehn Seiten langen Brief geschrieben, den längsten meines Lebens, und den wollte ich loswerden.

      In Jever fragte Oma uns beim Tee, ob auch wir im Fernsehen verfolgt hätten, wie in Damaskus drei Verbrecher öffentlich gehenkt worden seien, und da mischte sich Gustav ein: »Aus deiner Annahme, liebes Großmütterchen, daß es sich bei den Delinquenten um Verbrecher gehandelt hat, spricht nicht nur ein gesundes Grundvertrauen in die syrische Rechtspflege, sondern auch eine profunde Kennerschaft auf dem Gebiet der Kriminalität im Nahen Osten, und wenn du darüber wirklich soviel weißt, dann solltest du dich den dortigen Justizorganen fürderhin als Gutachterin in Strafprozessen zur Verfügung halten.«

      »Ach was«, sagte Oma, »nun red doch nicht so’n Tühnkram daher!«

      In den fünfziger Jahren war die SPD noch im Dreißig-Prozent-Turm gefangen gewesen, aber der Genosse Trend war ihr seit 1953 treu geblieben, und sie hatte bei jeder Bundestagswahl ein bißchen zugelegt und es zuletzt auf satte 45,9 % gebracht.

      Wie sich schon um kurz nach sechs herausstellte, war diesesmal jedoch die CDU als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen, und es zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der sozialliberalen Koalition und den Oppositionsparteien ab, sehr zum Verdruß von Oma und Mama, die Helmut Kohl nicht ausstehen konnten.

      »Wartet’s mal ab«, sagte Gustav. »Wenn Helmut Kohl erst regiert, dann wachsen dem mit der Amtswürde auch Charisma und eine irisierende erotische Ausstrahlung zu, und am Ende der nächsten Legislaturperiode werdet ihr beide Feuer und Flamme sein für diesen Mann …«

      »Da luer up!« rief Oma aus, was soviel hieß wie: Darauf kannst du lange warten.

      An die absolute Mehrheit kam die Union nach den jüngsten Hochrechnungen aber doch nicht ganz heran, und damit war die Sache bereits nach gut dreißig Minuten entschieden, mehr oder weniger.

      Früher sei das spannender gewesen, sagte Mama. Da hätten sich diese Geschichten über viele Stunden hingezogen. »Und wir haben oft bis weit nach Mitternacht gezittert, wenn die Ergebnisse aus irgendwelchen gottverlassenen Wahlkreisen bekanntgegeben worden sind!«

      Als mündiger Bürger wollte Gustav von seinem Recht Gebrauch machen, in einem Wahllokal die Auszählung der Stimmen zu beobachten, und ich durfte mitkommen.

      In einem Grundschulklassenzimmer brachten Wahlhelfer Ordnung in das Durcheinander der Stimmzettel. Wir sahen eine Weile zu, und dann fiel mir auf, daß oben auf dem FDP-Häufchen einer abgelegt worden war, der nicht gültig sein konnte, weil der Wähler weiter unten in der Zweitstimmenspalte außerdem noch die rechtsextremistische NPD angekreuzt hatte.

      »Oh, vielen Dank«, sagte einer der Wahlhelfer und sortierte diesen Stimmzettel aus. Der kam auf das noch kleinere Häufchen mit ungültigen Stimmen von Wählern, die Hakenkreuze aufs Papier gekrakelt oder alles durchgestrichen hatten.

      Eine der zur Wahl stehenden Parteien hieß AUD (»Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher«). Wer die wohl gegründet hatte? Und mit welchen Hoffnungen? Da konnte doch nie was draus werden.

      Vor den Splitterparteien brauche man sich nicht zu fürchten, meinte Gustav. »Bonn ist nicht Weimar!« Von denen werde keine auf einen grünen Zweig kommen.

      Danach begaben wir uns wieder vor den Fernseher. Der nervtötend näselnde Reporter Ernst-Dieter Lueg fragte Willy Brandt, wie die SPD die Probleme jugendlicher Wähler zu lösen gedenke, und Brandt erwiderte, er könne sich jetzt nicht »bei Petitessen aufhalten«.

      Petitessen? Das Wort hatte ich noch nie gehört. Es stand auch weder in Opas Duden noch in Gustavs Fremdwörterlexikon.

      Alles in allem hatten die Koalitionsparteien zwar viele Zweitstimmen verloren, aber nicht genug für einen Regierungswechsel. Da konnte Helmut Kohl noch so trotzig blaffen: »Ich will Bundeskanzler werden!«

      Franz-Josef Strauß war aus München zugeschaltet worden und saß also nur in einem Fernsehgerät mit am Tisch der ARD.

      Renate erhielt einen Anruf von Olaf, und hinterher erzählte sie, der sei schon betüdelt, aber einfach süß. In genau 109 Stunden werde sie wieder bei ihm sein. Und dann zog sie mit Gustav zu einer Wahlparty der Jusos los.

      Mama, Volker und Wiebke fuhren zurück nach Meppen. Ich selbst hatte mir gewünscht, mal wieder eine Woche lang in Jever bleiben zu dürfen, und ich teilte mir das Kellerzimmer mit Renate, die allerdings erst spät und nicht gerade nüchtern angetorkelt kam.

      Vorläufiges amtliches Endergebnis: SPD 42,6 %, CDU/CSU 48,6 %, FDP 7,9 %, Sonstige 0,9 %. Die Koalitionsregierung hatte eine Mehrheit von acht Sitzen, und Helmut Kohl, der sich trotzdem als Wahlgewinner betrachtete, war sauer auf die Freidemokraten, weil die sich nicht mit ihm an den Verhandlungstisch setzen wollten.

      Ein besseres Ergebnis hatte die Union bisher tatsächlich nur ein einziges Mal erreicht, in der Ära Adenauer. Wie es damals zugegangen war, konnte man einem alten, in Opas Bücherschrank vorrätigen Sammelband mit den denkbar drögsten Adenauer-Anekdoten entnehmen. Einmal hatte Konrad Adenauer sich im Bundestag mit dem kommunistischen Abgeordneten Heinz Renner gefetzt. »Da lachen ja die Hühner, Herr Bundeskanzler«, hatte Renner ausgerufen und darauf von Adenauer zu hören bekommen: »Dann lachen Se mal, Herr Renner.«

      Vollkommen hirnrissig war schon

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