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Sie mir, es war SCHINDLERS LISTE:

      ein Holocaust-Matineefilm über einen Mann namens Schindler (oder Szyndler)

      und seine Liste – Musik von Williams, der im 19. Jahrhundert ein großer Komponist gewesen wäre, Geigensolos von meinem Freund, dem poliomyelitischen Wunderkind, Maestro Itzhak Perlman, meine Damen und Herren:

      der Sound ist bombastisch, schwitzig und gichtgeschwollen, dabei ist die Musik noch nicht mal das Schlimmste daran.

      Passen Sie auf: Ich möchte gar nicht erst in die Debatte einsteigen, ob das nun eine Dokumentation – oder ein Doku-Drama, wie man das heute wohl nennt – oder reine Unterhaltung ist. WAHR oder FALSCH oder einfach bloß Fiktion, wie Spinoza die Sache kategorisiert; der Wert einer Schilderung des Holocaust von einem, der nicht darin gelitten hat, darunter, danach, aus erster Hand, für Leute wie mich, und im Gegensatz zu Schneidermann, der, wir haben den Terror nie erfahren, wir können also auch alle zusammen nur Annäherungen schaffen, unweigerliche Verfälschungen, und dann geben wir das Entsetzen auf der Leinwand weiter, das Entsetzen dessen,

      was geschah, dessen,

      was geschehen war – nein, ich werde all diese sinnlosen und so zeitlosen Kontroversen garantiert nicht wieder aufwärmen, und warum? habe ich Angst?

      weil sie wertlos sind, weil das ein Film war, weil er so schlecht und so gut wie alle Filme war, weil alle Filme und speziell alle Matineefilme ästhetisch unmittelbar zu Gott sind, zumindest unmittelbar zu mir – dieser Film eroberte und zerstörte über sieben Stunden meines Lebens:

      die Laufzeit des Films plus die U-Bahn-Fahrt zum Kino und nach der Vorführung noch mal drei Stunden im Regen von New York, Verschwinden im polnischen Schnee auf der Suche nach dem verschwundenen Schneidermann in Uptown und Downtown,

      Erkundigungen bei Platzanweiserinnen, Management, Kartenverkäuferin,

      raus aus dem Kino und immer wieder um den Block, aber an welcher Stelle ist Schneidermann denn gegangen, fragen Sie oder auch nicht?

      in der Szene mit dem verloren herumlaufenden Mädchen in der roten Jacke?

      der Szene, in der Untersturmführer Amon Göth Knall auf Fall anfängt, von der Terrasse seines Hauses in Płaszów aus wahllos auf Menschen zu schießen?

      der Szene an jenem prachtvollen Frühlingsmorgen 1943, an dem das Ghetto aufgelöst wird, ein SS-Mann auf dem Klavier eines Juden spielt, ein anderer SS-Mann die behelmte Fresse zur Tür reinstreckt und als der Idiot, der er vom Drehbuch her nun einmal ist, fragt:

      Was ist das? Ist das Bach?

      lautet die Antwort, Nein, Mozart, dabei ist es die Englische Suite Nr. 2 in a-moll,

      aber es war nichts so Dramatisches, nichts mit so bombastischer Tragweite:

      es war eine vertrauliche Szene mit dem, ich glaube, das ist ein Ire, und dem glatzköpfigen Tommy, Ben Kingsley, der seinen besten Gandhi raushängen lässt und die Liste abtippt, da ist er gegangen.

      Hudes, Isak, stand auf der LISTE,

      Feber, Ludwig, stand auf der LISTE, und Schneidermann, er ging,

      denn warum hätte Schneidermann sich das ansehen sollen? Er musste das leben. Er hatte das überleben müssen, um das zu leben. Aber ein Paar hinter uns – nein, nicht am Rumknutschen –, die einzigen Kinobesucher außer uns, sie mussten das nicht leben, und daher war die Inkarnation oben auf der Leinwand so entsetzlich,

      und erhoffen Sie sich von mir keine Erbaulichkeit, nein, ich werde nicht einmal meinen eigenen Schmerz preisgeben:

      Schneidermann, er war nicht in Tränen aufgelöst, nein, Schneidermann, er war nicht einmal aufgewühlt – Tatsache war, dass Schneidermann einfach aufstand und ging, Tatsache war, dass wir beide die einzigen Kinobesucher waren,

      Matineejunkies,

      die zwei Zeugen, die der Talmud für die erfolgreiche Anklage eines Straftäters vorschreibt (aber der eine war gegangen, und SPIELBERG lebt drüben in L.A.),

      in Wahrheit habe ich das Paar hinter uns erschaffen, um eine Reaktion zu erschaffen, ein Gegenüber: wir brauchen immer ein Publikum.

      Schneidermann und ich gingen jeder für sich zu dem letzten Matineefilm, sahen ihn aber zusammen am Ende seiner Wiederaufführung zum zehnjährigen Jubiläum, als er wieder in ausgewählte Kinos kam, keine Ahnung, nach welchen Kriterien sie die auswählen, aber,

      um seine zehn Jahre als Film zu feiern, seine zehn Jahre des Filmseins, der Filmizität, seine zehn Jahre als Kunstwerk, als OSCARGEWINNER,

      OSCAR, übrigens auch Schindlers Vorname, nur anders buchstabiert, urheberrechtlich geschützt, Markenartikel, egal – neun Jahre nachdem er gewonnen und abgesahnt hatte, alles abgeräumt, oder fast alles, glaube ich, sogar den Oscar für die MUSIK, glaube ich oder bilde ich mir ein, weil es meiner Beweisführung dienen würde, der Film etablierte Mittelmäßigkeit als Standard,

      etablierte den Dreck, den Scheiß als nicht nur für uns erwartbar, sondern sogar preiswürdig,

      und tatsächlich könnte das Schneidermann umgebracht haben, falls er überhaupt tot ist: das Zehnjahresvirus dieser Musik, wenn nicht aller Matineefilmmusik, die Schneidermann, er fand sie lächerlich, alle gleichermaßen lächerlich, (natürlich) unendlich viel schlechter als seine eigenen verbissenen, ernsten und dabei auch genialen Versuche, und es waren wahrhaftig Anstrengungen, die er in seinem Tintenfleck von Zimmer unternahm und aus dem Tintenfleck seiner Erinnerungen, mutterseelenallein – er komponierte oder rekomponierte die Musik eines Matineefilms, den Schneidermann, er, wir hatten ihn gerade erst am Nachmittag auf der Leinwand gesehen, o Gott, das machte er laufend! orchestrierte oder reorchestrierte sie, ob nun auf Papier (Milchproduktverpackungen, Eindollarscheine, Pornoheftabonnementpostkarten)

      oder im Kopf, am endlosen Ende wahrscheinlich Aberhunderte von Matineefilmen, und vielleicht ist Schneidermann aus diesem Matineefilm, diesem letzten Matineefilm also rausgegangen (aber wohin?),

      um einer Idee nachzugehen, die sich ihm plötzlich aufgedrängt hatte, inspiriert vom oder als Reaktion auf den Soundtrack (aber wie?),

      denn Schneidermann, immer wenn wir aus einem Matineefilm egal welchen Genres herauskamen, er überhörte von Anfang an meine zugegebenermaßen oft durchgeknallten, hyperkritischen, nörgeligen Äußerungen zu Plot, Dialogen, Schauspielkunst, Kulissen und so weiter und so fort, und stattdessen diskutierte oder besser dozierte er über die Musik des Matineefilms, fast immer beschränkte er sich auf die Musik des Matineefilms, zergliederte sie, summte sie, sang sie mit seiner Schepperstimme (das Zwerchfell hatte man ihm anscheinend an den Nasensteg verpflanzt),

      demonstrierte auf einer Klaviatur, die unsichtbar einen Schritt vor seinem Humpeln in der Luft von Midtown schwebte, wie er bestimmte, wenn auch wertlose Passagen neu harmonisieren würde,

      und Gott im Himmel! Schneidermann ist nun nicht mehr da, um das zu machen, ist hinterher ab etwa 18.00 nicht mehr da, wenn der Matineefilm uns entlässt und er zu meiner Verblüffung die Musik von diesem und für diesen letzten Matineefilm überarbeitet, dem letzten Matineefilm, den auch ich besucht habe, und dem letzten Matineefilm, den ich je zu besuchen gedenke (ich bleib zu Hause und bestell mir die Filme, ich bin jetzt ein Mensch des neuen Jahrtausends),

      und so obliegt es mir, o Gott, jetzt bin ich dafür verantwortlich, mich um diese Musik zu kümmern, die Musik dieses Amerikaners Williams für diesen jüdischsten Film von SPIELBERG (den Schneidermann, er sprach den Namen immer deutsch aus),

      diese Musik für SCHINDLERS LISTE,

      ab jetzt ist es mein Los, mein Zuständigkeitsbereich, zu erläutern, zu analysieren, zu interpretieren,

      aber erwarten Sie jetzt keine Schenkerismen (Heinrich Schenker, dem wollte Schneidermann von seinem reservierten Tisch im Berliner Café Canard mal einen Stift gestohlen haben),

      nein, ich werde sie nicht vorspielen, ich werde nur darüber reden, sie durchleuchten, sie einer fairen und ausgewogenen Kritik unterziehen,

      einer logisch begründeten Einschätzung, wie es

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