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machte Sieglinde eine Pause, bevor sie weitersprach. »Das geht mir zu Herzen, weißt du? Dass alles, was die beiden noch gemeinsam tun können, das Singen ist. Nein, das stimmt nicht, manchmal gehen sie auch spazieren, Hand in Hand, wie früher. Aber viel mehr ist da nicht. Sie waren so lebensfrohe Menschen früher, sind gereist, waren neugierig auf die Welt, hatten viele Freunde und Bekannte, haben gerne gefeiert. Und das ist davon übriggeblieben. Das ist schon hart.«

      »Für uns auch«, sagte Pia. »Wobei ich sagen muss, dass Valentin manchmal besser mit der Situation fertig wird als ich. Er nimmt Papa einfach so, wie er ist, aber das hängt natürlich auch damit zusammen, dass er sich an die Zeit, als er noch gesund war, gar nicht mehr erinnert. Er kennt seinen Vater eigentlich nur so, wie er jetzt ist. Bei mir ist das anders, ich habe noch so viele Bilder von früher im Kopf …«

      »Am schlimmsten ist es sicherlich für eure Mutter«, erwiderte Sieglinde leise. »Ihr Mann verschwindet Stück für Stück vor ihren Augen. Ich stelle mir das sehr, sehr schwer vor.«

      Das Gespräch ging Pia noch lange, nachdem sie sich von ihrer Tante verabschiedet hatte, durch den Kopf, aber als ihr Bruder von einem Fußballspiel nach Hause kam, erzählte sie ihm nichts davon, denn er hatte eine klaffende Wunde an der Stirn, das Blut lief ihm über das Gesicht, und er war außer sich vor Zorn, weil es ihm nicht gelungen war, dem Jungen, der ihn so zugerichtet hatte, eine ähnliche Verletzung zuzufügen.

      Pia säuberte die Wunde, wies ihren Bruder an, ein Stück Mullbinde fest darauf zu pressen, und fuhr mit ihm zu Frau Dr. Laurin in die Praxis – nicht zum ersten Mal.

      *

      Leon Laurin, Nachfolger von Professor Joachim Kayser als Leiter der Kayser-Klinik, Gynäkologe und Chirurg, steuerte auf ein Patientenzimmer in der Neurologie zu, als sich dessen Tür öffnete und seine Kollegin Linda Erdem herauskam. Sie lächelte ihn an. »Du wirst mit dem Patienten zufrieden sein«, sagte sie. »Es geht ihm mit jedem Tag besser, ich denke, wir können ihn bald entlassen.«

      »Ich habe noch immer jede Nacht diesen Albtraum, dass er in die Klinik eingeliefert wird und wir ihm nicht helfen können, Linda.«

      »Und dann wachst du auf und bist erleichtert?«

      »Nicht sofort, es dauert immer ein paar Augenblicke, bis ich begreife, dass ich nur geträumt habe. Zuerst wirkt der Albtraum noch nach.«

      »Wenn er nicht allmählich verschwindet, hol dir Hilfe dagegen«, sagte Linda. »Diese ganze Geschichte war schlimm, ihr standet ja alle unter Schock. Sind Herrn Daumes Schwestern noch immer bei euch?«

      »Ja, und da werden sie auch bleiben, bis er wieder richtig fit ist. Das kann also noch ein Weilchen dauern. Aber die beiden sind keine Belastung für uns, im Gegenteil.« Leon lächelte. »Wir haben halt für eine Weile sechs Kinder statt vier.«

      »Ich bewundere euch«, erwiderte Linda. »Und jetzt geh hinein und überzeug dich davon, dass Herrn Daumes Genesung rasante Fortschritte macht.« Sie eilte davon.

      »Wie geht es Ihnen heute, Simon?«, fragte Leon Laurin, als er das Zimmer des jungen Mannes betrat, der seiner Familie den Haushalt führte und sie mit seiner Kochkunst verwöhnte. Das tat er, seit Leons Frau Antonia beschlossen hatte, noch einmal in ihren Beruf als Kinderärztin zurückzukehren, nachdem sie sich mehr als fünfzehn Jahre lang ausschließlich der Familie gewidmet hatte. Simon Daume war erst zweiundzwanzig Jahre alt, hatte sich aber in kürzester Zeit ›zum besten Haushaltsmanager der Welt‹ gemausert – so jedenfalls drückte es Leons jüngerer Sohn Kevin aus.

      ›Diese ganze Geschichte‹, die Linda Erdem angesprochen hatte, war ein Überfall gewesen: Es hatte morgens an der Haustür von Laurins geklingelt, Simon hatte geöffnet und war mit einem heftigen Schlag auf den Kopf niedergestreckt worden. Der oder die Räuber – die Fahndung der Polizei lief noch – hatten Bargeld, Schmuck und Wertsachen mitgenommen und waren anschließend spurlos verschwunden.

      Da Simon zwei minderjährige Schwestern hatte, Lili und Lisa, für die er verantwortlich war, seit sie in kurzem Abstand beide Eltern verloren hatten, waren Leon und seine Frau Antonia übereingekommen, den beiden Mädchen anzubieten, für die Dauer von Simons Genesungszeit zu ihnen ins Haus zu ziehen. Lili war sechzehn, Lisa zwölf Jahre alt, sie hatten das Angebot ohne zu zögern angenommen. Seitdem mussten Hausarbeit und Kochen von allen gemeinsam übernommen werden, was bislang erstaunlich reibungslos klappte. Zwar waren die Mahlzeiten deutlich einfacher als das, was Simon kochte, und insgeheim sehnten sich alle nach seinen interessanten und abwechslungsreichen Menüs, aber niemand beklagte sich. Alle waren froh, dass Simon sich keiner Operation hatte unterziehen müssen – diese Möglichkeit hatte zunächst durchaus im Raum gestanden, aber jetzt war klar: Er würde auch ohne OP wieder ganz gesund werden, das allein zählte.

      »Eigentlich könnten Sie mich entlassen«, antwortete Simon auf Leons Frage. »Ehrlich, ich fühle mich wieder fit, und ich möchte gern so schnell wie möglich wieder arbeiten. Es liegt mir nicht, den ganzen Tag nichts zu tun, das macht mich nur nervös.«

      Leon lachte. »Sie wollen mir doch aber nicht erzählen, dass Sie sich nicht wenigstens neue Rezepte ausdenken, jetzt, wo Sie so viel Zeit haben?«, fragte er.

      Simon lächelte verlegen. »Doch, das mache ich natürlich, aber ich kann sie ja nicht ausprobieren, deshalb ist das ziemlich unbefriedigend. Wenn ich jetzt eine Küche hier hätte und ein bisschen herumprobieren könnte, würde ich garantiert schneller wieder vollständig gesund.«

      »Und die Kopfschmerzen?«

      »Na ja, die habe ich manchmal noch«, gab Simon zu. »Wenn ich zu lange aufbleibe oder mich zu sehr anstrenge, tut mir der Kopf weh. Aber auch das wird besser.«

      »Es zeigt aber, dass Ihr Kopf noch Ruhe braucht. Dr. Erdem hat Ihnen das doch sicher auch schon gesagt.«

      »Ja, klar, sie sagt immer, nach einer ziemlich schweren Kopfverletzung muss man Geduld haben, sonst holt einen das später ein. Das will ich natürlich nicht.«

      »Wenn wir sicher sein könnten, dass Sie sich nicht gleich wieder in die Arbeit stürzen würden, hätten wir wahrscheinlich nichts dagegen, Sie bald zu entlassen. Aber wenn Sie sich dann stundenlang in Ihre Küche stellen und alles ausprobieren, was Ihnen hier an Ideen gekommen ist, wird sich das langfristig negativ auswirken. Und das wollen wir vermeiden.«

      »Ich verstehe das schon, und die Gefahr, dass ich gleich zu viel mache, besteht ja auch«, gestand Simon überraschend. »Ich merke selbst, dass ich mich zwar morgens fit fühle, dass das aber nicht sehr lange anhält. Ich werde schneller müde, ich kann mich nicht lange konzentrieren, und körperliche Anstrengung vertrage ich überhaupt nicht. Es muss alles ruhig und langsam vor sich gehen.« Er lächelte verlegen. »Ich kann noch nicht wieder bei Ihnen arbeiten, will ich damit sagen. Dieser Aufgabe bin ich noch nicht gewachsen. Ich könnte ab und zu kochen, das schon, aber putzen …« Er schüttelte den Kopf.

      »Das sollen Sie ja auch gar nicht. Meine Schwester hat uns jetzt ihre Putzhilfe vermittelt, die kommt zwei Mal pro Woche, das hilft schon. Aber sie kocht natürlich nicht.«

      »Meine Schwestern helfen aber schon mit, oder?«, fragte Simon besorgt. »Ich vergesse Ihnen das nie, dass Sie die beiden bei sich aufgenommen haben.«

      »Wir halten das für selbstverständlich, Sie müssen das bitte nicht mehr erwähnen. Die beiden übernehmen vieles, sie haben schon mehrfach gekocht. Natürlich können sie das nicht so gut wie Sie, aber sie machen das sehr ordentlich. Und unseren Kindern tut es ganz gut, dass sie mal wieder etwas mehr mit anfassen müssen, glauben Sie mir. Wir sind alle ein bisschen verwöhnt worden von Ihnen, das merken wir jetzt wieder so richtig.«

      »Ich bin auch verwöhnt«, stellte Simon ganz ruhig fest. »Ich habe einen schönen Arbeitsplatz, darf lauter Dinge tun, die ich gern tue, und ich werde noch ordentlich dafür bezahlt. Das ist Luxus.«

      »Aber Sie putzen doch nicht im Ernst gern, oder? Ich weiß, wir haben schon darüber gesprochen, aber ich kann es einfach nicht glauben, dass jemand gerne putzt. Kochen ja, das verstehe ich, aber putzen …«

      »Ich habe das schon immer gern gemacht, ehrlich. Wissen Sie, was ich daran toll finde?«

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