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und Alexander sahen einander kurz an. Sascha hatte nicht zu viel gesagt. Marietta war ein reizendes Mädchen. Langes blondes Haar fiel ihr glatt bis auf die Schultern herab. Auf der Stirn war das Haar zu einem Pony geschnitten. Dadurch umrahmte es das ganze Gesicht. Und dieses Gesicht wirkte versonnen, verträumt und voller Wehmut. Das drückten besonders auch die blauen Augen aus. Der Anblick dieses ernsten Kindes musste jedem ans Herz greifen. Um wie viel mehr noch Denise, die kein Kind leiden sehen konnte. Sie verstand nun, dass sich Elisabeth Winkler Sorgen um die kleine Schwester machte.

      Alexander von Schoenecker zeigte auf einen Beutel, den Marietta am Arm hängen hatte. »Sag mal, Marietta, ist dein Eichhörnchen wirklich so zahm, dass du es in der Tasche spazieren tragen kannst?«

      Marietta nickte. Sie hob den Stoffbeutel hoch. Er war oben ein wenig zusammengezogen. Durch die kleine Öffnung steckte das Eichhörnchen seinen Kopf. Die schwarzen vorstehenden Augen kullerten. Doch jetzt schoben sich auch die Vorderpfötchen aus der Tasche heraus, und dann hatte sich das Eichhörnchen mit einem Sprung befreit. Es landete mit einem kühnen Satz auf Mariettas Schulter, als wollte es beweisen, wie zahm es war.

      »Tuck, mein Tuck«, lockte Marietta und drehte den Kopf zur Seite. Das Eichhörnchen schob sich noch ein Stückchen vor, als wollte es in die Augen des Kindes sehen. Das wirkte so possierlich, dass alle lachen mussten.

      »Ja«, sagte Elisabeth und legte den Arm um die Schwester, »Marietta und Tuck sind die dicksten Freunde. Sie würden sich nie voneinander trennen.«

      Denise benutzte diese Gelegenheit sofort, Marietta mit dem Kinderheim Sophienlust vertraut zu machen. Sie erzählte, wie sehr die Kinder dort Tiere liebten und dass sie sie auch zu ihren Spielkameraden gemacht hätten.

      Aber erst als Denise von dem Tierheim »Waldi & Co.« erzählte, horchte Marietta auf. Dass es dort Hunde, Katzen, Füchse, einen Esel, ja sogar eine Bärenmutter mit zwei Jungen und Schimpansen gab, schien sie zunächst nicht glauben zu wollen. Erst als sich Alexander von Schoenecker einmischte und mehrere lustige Streiche der Tiere von »Waldi & Co.« zum Besten gab, lächelte Marietta ein wenig.

      Doch es dauerte noch einen ganzen Tag, bis das kleine Mädchen etwas zutraulicher wurde. Erst danach wagte Elisabeth ein Gespräch wegen Sophienlust. Sie malte Marietta aus, dass sie es in dem Kinderheim viel schöner haben würde, dass sie dort Spielgefährten finden und geborgener leben würde als hier im Hotel.

      »Marietta, für einige Wochen vielleicht, bis es bei uns ein wenig ruhiger geworden ist, bis ich mehr Zeit für dich habe«, bat Elisabeth schließlich. »Ich werde dich am Wochenende sicher mal besuchen können, oder jemand bringt dich zu mir. Nächstes Jahr musst du zur Schule gehen. Dann kannst du nicht mehr für längere Zeit aus Seewiesen fort.«

      Marietta hatte der großen Schwester still zugehört. Ihre Augen hatten sie beim Sprechen nicht losgelassen. Jetzt sagte sie: »Wenn du das so willst, Elisabeth, fahre ich mit.« Ihre Stimme klang dabei jedoch so traurig wie immer.

      Elisabeth spürte einen Stich im Herzen. Hatte das nicht so geklungen, als ob sie die kleine Schwester aus dem Haus haben wollte?

      »Aber Marietta, kannst du dich nicht ein klein wenig darauf freuen?«, meinte sie verzweifelt. »Schau, alle meinen es so gut mit dir. Es wird dir bestimmt in Sophienlust gefallen. Und wenn nicht, dann kommst du wieder zu mir zurück. Das werde ich mit Frau von Schoenecker abmachen.«

      »Ja, Elisabeth. Soll ich meine Sachen schon packen?« Marietta ging zur Tür. Doch dort blieb sie stehen. »Aber ich gehe nicht ohne meinen Tuck.«

      »Nein, das brauchst du auch nicht, Marietta. Frau von Schoenecker sagt, du kannst Tuck in Sophienlust behalten. Du brauchst ihn nicht einmal in das Tierheim zu geben. Aber du wirst mit den anderen Kindern oft dorthin zu Besuch gehen und dich sicher auch über die anderen Tiere freuen.«

      Marietta nickte und verließ das Zimmer.

      Elisabeth presste die Hände auf das Herz. Tat sie jetzt das Richtige? fragte sie sich. Tränen liefen ihr über die Wangen. Warum musste gerade sie ein so schweres Schicksal haben und eine so erdrückende Last tragen, wie es die Verantwortung für die kleine Schwester war? Am liebsten hätte Elisabeth in dieser Stunde gesagt: Ich verkaufe doch das Hotel und nehme irgendeine Arbeit an, mit der ich Marietta und mich durchbringen kann. Vielleicht könnte ich sie aus ihrem stupiden Verhalten herauslocken, wenn ich mich mehr um sie kümmern könnte. Aber nun war die Entscheidung gefallen. Denise und Alexander von Schoenecker nahmen Marietta mit. Vielleicht würde sich später doch herausstellen, dass das ein wenig Glück für Marietta bedeutete. Elisabeth hatte viel Vertrauen zu Denise.

      *

      Elisabeth ahnte in der Abschiedsstunde nicht, welchen Kummer ihr dieser Entschluss noch bringen würde.

      Als sie sich zwei Tage später mit Jost Balthoff traf, war er sehr zurückhaltend. Erst auf Elisabeths Drängen nannte er den Grund dazu. »Alle im Ort reden darüber, dass du deine Schwester in ein Heim gegeben hast, Elisabeth. Für meine Mutter ist das auch wieder Öl ins Feuer. Ein bisschen vorsichtiger könntest du schon sein, wenn du willst, dass wir sie umstimmen.«

      Elisabeth war sehr erschrocken.

      »Aber die Gelegenheit, Marietta in ein so gutes Kinderheim zu geben, hätte ich so bald nicht wieder gefunden, Jost. Es war ein glücklicher Zufall, dass Sascha von Schoenecker bei uns im Hotel war. Er ist der Sohn der Dame, die das Kinderheim Sophienlust leitet.«

      »Ja, das mag alles so sein.« Josts Stimme klang so unleidlich, wie Elisabeth sie noch selten gehört hatte. »Aber ist in eurem Hotel nicht genug Platz für deine kleine Schwester?«

      »Das schon, Jost, aber du weißt ganz genau, wie wenig ich mich um Marietta kümmern konnte. Meiner Mutter fiel das schon manchmal schwer. Sie sagte immer, sie sei so glücklich über unseren Nachzügler Marietta, aber sie müsste mehr Zeit für das Kind haben. Damals konnten Vater und ich noch gelegentlich einspringen, doch heute bin ich allein mit der ganzen Verantwortung. Du solltest mir wirklich nicht auch noch das Leben schwermachen.« Elisabeth hatte Tränen in den Augen. »Da freue ich mich auf die abgestohlene Stunde mit dir, aber du machst mir Vorwürfe. Dabei wollte ich dir mein Herz ausschütten, weil mir der Entschluss so schwer geworden ist, mich von meiner Schwester zu trennen.«

      Jost nahm Elisabeth in seine Arme. »Ich habe es nicht böse gemeint, Elisabeth, aber wenn meine Mutter dauernd stänkert, werde ich eben auch mal misstrauisch.«

      Elisabeth zuckte zusammen. Sie machte sich aus Josts Armen frei. »Was willst du damit sagen?«, fragte sie. »Misstrauisch?«

      Es war Jost anzumerken, wie sehr ihn Elisabeth nun in Verlegenheit gebracht hatte. »Ja, meine Mutter sagt, das Kind sei dir nur im Weg gewesen. Du hättest dich von Marietta zu sehr beobachtet gefühlt. Gerade auch am Abend, wenn du vielleicht noch mit Klaus Rauscher beisammen sein kannst.« Jost hielt Elisabeth ganz fest. »Ich muss dir doch die Wahrheit sagen, Elisabeth. Es hat keinen Sinn, dass ich dir etwas verschweige. Mich quält es ja selbst am meisten, dass diese Gerüchte umgehen.«

      »Welche Gerüchte?«, fragte Elisabeth mit tonloser Stimme.

      »Dass du deinen Hoteldirektor gern magst. Die Leute würden nicht viel dabei finden, wenn du ihn heiraten würdest. Er kann dir ja am besten beistehen, das Hotel zu halten.«

      »Dass gerade du mir so etwas sagen musst, Jost!« Elisabeth schüttelte den Kopf. »Muss ich diese Enttäuschung jetzt auch noch schlucken? Du warst der einzige, an den ich mich gehalten habe. Auch wenn wir nicht oft beisammen sein konnten, waren unsere abgestohlenen Stunden doch mein ganzes Glück.«

      Jost war sehr betroffen. »Sei mir nicht mehr böse, Elisabeth. Ich habe dir von diesen Gerüchten ja nur erzählt, weil sie mich selbst so sehr ärgern. Und das weiß Mutter. So dumm ist sie nicht, dass sie nicht längst gemerkt hätte, wie ich zu dir stehe. Ich glaube, davor hatte sie immer Angst. Aber ich werde in Zukunft den Unsinn, den man sich erzählt, nicht mehr nachreden, Elisabeth. Das verspreche ich dir. Komm, sei nicht mehr so traurig.«

      Jost küsste das Mädchen. Immer wieder, bis es ruhiger wurde. Doch er spürte genauso wie Elisabeth, dass ihre junge Liebe an

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