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rannte ich die Wendeltreppe hoch und spähte aus dem Fenster, das nach Süden liegt. Dort wollte ich warten, bis der Graf sich zeigt, und ihn genau überwachen. Denn irgendetwas ist im Gange. Die Cigány sind jetzt irgendwo im Schloss untergebracht und verrichten irgendeine Arbeit; das weiß ich bestimmt, denn immer wieder höre ich in einiger Entfernung den dumpfen Klang von Hacke und Spaten. Was immer hier vorgeht, eins steht fest: es dient einer skrupellosen Schurkerei.

      Knapp eine halbe Stunde geschah nichts; dann rührte sich etwas am Fenster des Grafen. Ich beugte mich sicherheitshalber zurück, beobachtete aber hinter meiner Deckung weiter und sah, wie der Mann nach und nach mit dem ganzen Körper herauskam. Und wieder traf mich ein Schock: der Graf trug meinen Reiseanzug! Über seinen Schultern hing jener Sack, in dem neulich die grauenvolle Abendgabe für die drei Frauen gesteckt hatte. Was sein Jagdgang bezweckte, war nur allzu klar und schlimm genug – aber er unternahm ihn auch noch in meiner Garderobe! Das ist also seine neue Strategie der bösen Tat: er will, dass die Bewohner der umliegenden Dörfer und Städte glauben, sie hätten mich gesehen. Gelänge dies, erreichte er zwei Ziele. Erstens: Die Menschen werden später bezeugen, dass ich selbst meine Briefe zur Post gebracht habe. Zweitens: Sämtliche Greuel, die der Graf in nächster Zeit verübt, werden die Leute mir zuschreiben.

      Und all dies kann er draußen ungehindert betreiben; mich aber hält er hier eingesperrt, wo ich ein Gefangener bin im wahrsten Sinne, freilich ohne den Schutz des Gesetzes, ohne jenes Recht, das selbst dem übelsten Verbrecher noch einen letzten Halt bietet. Wenn ich daran denke, möchte ich rasend werden!

      Ich wollte unbedingt die Rückkehr des Grafen mitbekommen und blieb daher beharrlich am Fenster stehen. Da machte ich eine seltsame Entdeckung. Vor mir, im strahlenden Mondschein, trieben merkwürdige kleine Flöckchen. Winzig wie Körner feinsten Staubes, wirbelten sie umher und sammelten sich zu nebelhaften Schwärmen. Ich wusste nicht warum, aber der Anblick milderte meine innere Spannung, mehr noch, es beschlich mich eine eigenartige Ruhe. Ich lehnte mich in der Laibung zurück; so saß ich bequemer und konnte den luftigen Reigen in seiner ganzen Anmut auf mich wirken lassen.

      Ich zuckte zusammen, denn plötzlich zerriss klägliches Hundegeheul die Stille. Es ertönte irgendwo tief unten im Tal, das meinem Blick verborgen lag, vorerst noch leise. Dann meinte ich, es würde immer lauter, und die flatternden Staubwolken bewegten sich zu diesem Klang und nähmen dabei ständig neue Formen an. Ich spürte, wie meine Instinkte mich warnten und wie ich darum kämpfte zu erwachen. Ich? O nein, meine Seele selbst war es, die da kämpfte, und endlich rappelte sich mein zwischenzeitlich matt gesetztes Empfindungsvermögen hoch und mühte sich schläfrig, dem Appell zu folgen. Fest stand nun: Ich wurde hier hypnotisiert! Schneller und schneller tanzte der Staub. Die Mondstrahlen schienen zu zittern, als sie an mir vorbei in das Dunkel hinter meinem Rücken fielen. Immer dichter drängten sich die Flöckchen zusammen, bis sich schließlich die Umrisse verschwommener Phantome abzeichneten. Ein zweiter Schreck durchzuckte mich; diesmal aber war ich hellwach. Im wiedererlangten Vollbesitz meiner Sinne erkannte ich meine Lage und rannte schreiend davon. Die Phantome, die sich dort langsam aus dem Mondlicht materialisierten, waren jene drei Geisterfrauen, denen ich anheimfallen sollte. Ich floh und fühlte mich erst in meinem Zimmer etwas sicherer, wo kein Mond schien, dafür aber die Lampe hell brannte.

      Ein paar Stunden vergingen, da hörte ich ein Geräusch aus dem Zimmer des Grafen; es klang wie ein schrilles Wehgeschrei, das rasch unterdrückt wurde. Dann wieder Stille, eine tiefe, grässliche Stille, die mich erschauern ließ. Mit pochendem Herzen probierte ich die Tür; aber ich war in meinem Gefängnis eingeschlossen und völlig machtlos. Ich setzte mich hin und konnte nur noch weinen.

      Während ich so dasaß, drang plötzlich wieder ein Leidenston an mein Ohr: unten im Schlosshof schallten die qualvollen Klagerufe einer Frau. Ich stürzte zum Fenster, stieß es auf und spähte durch die Gitter. Richtig, da stand eine Frau mit wirrem Haar und hielt die Hände auf die Brust gepresst; das schnelle Laufen hatte ihr wohl zugesetzt. Sie lehnte sich gegen einen Winkel in der Toreinfahrt. Als sie mein Gesicht am Fenster erblickte, stürzte sie vor und schrie mit einer Stimme, in der eine verzweifelte Drohung schwang: »Du Scheusal! Gib mir mein Kind!«

      Sie warf sich auf die Knie, hob die Hände und schrie noch einmal die gleichen Worte; der Klang zerriss mir das Herz. Dann raufte sie ihr Haar, hieb sich gegen die Brust und überließ sich ganz der Gewalt eines grenzenlosen Schmerzes. Endlich stürmte sie noch näher zum Schloss heran; jetzt sah ich sie nicht mehr, aber ich hörte, wie sie mit bloßen Fäusten gegen das Tor schlug.

      Irgendwo hoch über mir hörte ich die Stimme des Grafen. Wahrscheinlich stand er oben auf dem Turm und rief etwas herab, allerdings eher leise: ein hartes, metallisches Zischen. Als Antwort ertönte nah und fern das Heulen der Wölfe. Nur wenige Minuten später schoss ein Rudel in den Schlosshof wie aufgestautes Wasser durch geöffnete Schleusen.

      Die Frau schrie nicht, und auch die Wölfe heulten nur kurz auf. Bald zogen sie einzeln wieder davon, wobei sie sich die Mäuler leckten.

      Ich vermochte die Frau nicht einmal zu bedauern, denn ich wusste ja, welches Los ihr Kind getroffen hatte. So betrachtet war der Tod für sie eine Gnade.

      Was soll ich tun? Was kann ich tun? Wie entrinne ich dieser grässlichen Welt aus Nacht, Spuk und Angst?

      25. Juni, morgens. – Niemand, der nicht schon einmal unter der Nacht gelitten hat, weiß, wie süß und willkommen für Herz und Auge der Morgen sein kann. Als die Sonne heute früh das Dach des großen Torbogens erreichte, der meinem Fenster gegenüberliegt, strahlte die hohe Spitze derart hell, dass ich meinte, die Taube aus der Arche Noah hätte sich dort niedergelassen. Meine Furcht fiel von mir ab wie ein Gewand aus Nebeldunst, das sich in der Wärme auflöst. Ich muss irgendetwas unternehmen, solange mir die Tageshelle Mut eingibt. Gestern abend ging einer meiner vordatierten Briefe zur Post, der erste jener verhängnisvollen Reihe von Schreiben, welche die Spuren meiner Existenz auf Erden auslöschen sollen.

      Nicht daran denken! Handeln!

      Eines fällt mir jetzt erst auf. Wenn ich hier bedrängt oder bedroht wurde, wenn ich in Furcht oder Gefahr geriet, war es immer Nacht. Ich habe bis heute den Grafen noch nie bei Tageslicht gesehen. Vielleicht schläft er ja, während die anderen wachen, damit er wach ist, während die anderen schlafen? Könnte ich doch nur in sein Zimmer! Aber das geht eben nicht. Die Tür ist immer verschlossen. Nein, für mich führt da kein Weg hinein.

      Doch, es gibt einen Weg – wenn man ihn denn zu gehen wagt. Wo der Graf geklettert ist, kann doch auch ein anderer klettern. Ich habe ihn selbst aus seinem Fenster steigen sehen; warum sollte ich es ihm nicht nachtun und in sein Fenster steigen? Meine Chance ist verzweifelt gering, aber meine Lage ist noch verzweifelter. Ich werde es riskieren. Im schlimmsten Fall droht mir der Tod, aber dann stürbe ich wenigstens wie ein ganzer Mann und nicht wie ein Kalb auf der Schlachtbank. Und mir steht ja vielleicht noch das gefürchtete Jenseits offen. Gott helfe mir bei meinem Vorhaben! Adieu, Mina, wenn ich scheitere. Adieu, Mr. Hawkins, mein treuer Freund und zweiter Vater. Adieu, ihr alle, und ein letztes Mal: adieu, Mina!

      Gleicher Tag, später. – Ich habe mich getraut und es mit Gottes Hilfe unversehrt zurück in mein Zimmer geschafft. Aber der Reihe nach. Ich wollte aktiv werden, während mein Mut noch frisch war. Also ging ich entschlossen zum erwähnten Fenster, das nach Süden liegt, und stieg auf den schmalen Sims, der hier am Gebäude entlangläuft. Die Steine sind groß und roh behauen; den Mörtel zwischen ihnen hat die Zeit weggespült. Ich zog meine Stiefel aus und wagte mich an die verzweifelte Kletterpartie. Einmal schaute ich bewusst und gezielt nach unten, damit mich gleich nicht etwa ein zufälliger Blick in die grausige Tiefe überwältigte. Anschließend aber hielt ich die Augen abgewandt. Ich wusste recht genau, wo das Zimmer des Grafen lag und wie weit es bis dahin war. Also bewegte ich mich, alle vorteilhaften Umstände nutzend, in diese Richtung, so gut ich eben konnte. Schwindel spürte ich keinen; ich war wohl zu aufgeregt dazu. Es ging geradezu lächerlich schnell. Viel eher als gedacht stand ich auf dem Außenbrett des Fensters. Ich versuchte es hochzuschieben; auch dies gelang. Nervosität erfüllte mich jedoch, als ich mich bückte und Füße vorweg durch die Öffnung gleiten ließ. Sofort sah ich mich nach dem Grafen um, stellte aber zu meiner Überraschung und zu meiner Freude fest: Das Zimmer war leer! Die Einrichtung bestand aus seltsamen Möbeln,

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