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die Tage. Dass sie in einer Pension wohnte, war ein großer Lichtblick für sie. So konnte sie wenigstens abends machen, was sie wollte. Zu Hause in Baden-Baden war dies nicht der Fall. Stets fragte ihre Tante ihr Löcher in den Bauch. Mit wem sie verabredet war, wo, warum, wann sie zurückkommen würde. Das nervte.

      Plötzlich unterbrach ein Geräusch, ein kurzer lauter Knall, die junge Frau in ihren Gedanken. Der Wagen wollte aus der Spur brechen. Instinktiv nahm sie den Fuß vom Gas und konnte die Limousine gerade noch am Straßenrand zum Stehen bringen.

      »Was war das denn?«, fragte ihre Tante sie mit panischem Blick.

      »Ich glaube, ein geplatzter Reifen«, murmelte Liane wie zu sich selbst, während sie ihren Sicherheitsgurt löste.

      »Ein geplatzter Reifen?« Ihre Tante sah sie entsetzt an.

      »Ich steige mal aus.« Liane öffnete die Tür und ging um das Fahrzeug herum.

      Tatsächlich. Der hintere rechte Reifen war platt. Mathilda stand inzwischen an ihrer Seite.

      »Ach, du meine Güte!«, rief sie aus. »Was machen wir jetzt?«

      »Warten, bis jemand kommt und uns hilft«, lautete Lianes gelassene Antwort.

      Sie hatte das ausgeglichene Gemüt ihrer Mutter geerbt, der Schwester ihrer Tante, und war das genaue Gegenteil von dieser.

      »Warten, bis jemand vorbeikommt?«, fragte Mathilda und riss dabei voller Empörung die schwarzen Augen auf. »Du rufst sofort Hilfe. Ich will nicht zu spät in der Miniklinik ankommen.«

      »Ich kann keine Hilfe rufen. Ich habe mein Handy nicht aufgeladen.«

      »Wofür bezahle ich es dir denn, wenn du es in einem Notfall wie diesem nicht gebrauchen kannst?«

      Liane verzichtete auf eine Antwort.

      »Und jetzt?« Mathilda stemmte die Arme in die breiten Hüften und sah sie herausfordernd an.

      »Setz dich am besten wieder in den Wagen. Denk an deine kranken Beine«, sagte sie ruhig. »Irgendwann wird bestimmt ein Auto vorbei kommen.«

      Während sie sich suchend umschaute, hielt sie das Haar aus der Stirn, das der warme Sommerwind ihr ins Gesicht wehte. Ein paar tiefe Atemzüge lang genoss sie die reine Luft hier oben auf der Anhöhe. Sie duftete nach Harz, nach gesunder Erde und den Blüten der Wiesenblumen. Ganz anders als in Baden-Baden, das in einem Talkessel lag.

      Weit und breit war niemand zu sehen, was sie nicht wunderte. Ihre Tante hatte über diese einsame idyllische Nebenstrecke fahren wollen statt auf direktem Weg nach Ruhweiler. Wenn kein Auto hier vorbeikommen würde, musste sie zu Fuß Hilfe holen.

      Sie sah sich noch einmal um.

      Nichts. Kein Auto, kein Fahrradfahrer, kein Pferdegespann.

      Während ihre Tante nicht müde wurde, ihr Vorhaltungen wegen ihres Handys zu machen, lehnte sie sich an den Wagen und verschränkte die Arme vor der Brust. So stand sie eine Weile herum und wartete auf ein Wunder.

      Was war das? Sie vernahm ein leises Brummen. Eindeutig Motorengeräusch. Da. Ein Auto kam aus dem Wald heraus. Ein dunkler Geländewagen, in gemächlichem Tempo. Als er sie erreicht hatte, bremste der Fahrer und parkte hinter der Limousine am Straßenrand. Die Fahrertür öffnete sich.

      Als erstes fielen Liane die beeindruckende Größe und gute Figur des jungen Mannes auf. Dann erst sein attraktives gebräuntes Gesicht mit dem markanten Kinn und den blauen Augen, in denen sich die Farbe des Himmels über den Schwarzwaldhügeln spiegelte. Sie schätzte den Autofahrer auf Ende zwanzig.

      »Entschuldigung«, sagte sie, während sie ihm entgegen eilte, »können Sie uns helfen?«

      Liane ahnte in diesem Moment nicht, wie bezaubernd sie aussah. In ihren großen Augen stand ein hilfloser Ausdruck, und ihr Lächeln wirkte so verzagt, dass kein Mann ihre Frage mit einem Nein beantwortet hätte.

      »Lassen Sie mich raten«, sagte der Fremde zu ihr. Dabei zwinkerte er ihr fröhlich zu. »Sie haben kein Benzin mehr. Stimmt's?« Sein Lachen klang belustigt und kam tief aus dem Bauch heraus.

      Sie schüttelte den Kopf und musste ebenfalls lachen.

      »Falsch geraten.«

      Die beiden sahen sich an. Sie fanden sich gegenseitig sympathisch, das hätte jeder auf den ersten Blick erkannt. Nein, es war sogar etwas mehr als nur Sympathie. Sie gefielen einander. Das verrieten ihre Blicke, die jetzt miteinander zu tanzen begannen. Und plötzlich lud sich die glasklare Luft zwischen ihnen elektrisch auf. Die Sonne strahlte noch wärmer, das Licht begann zu flirren, die Insekten in der Luft summten und brummten lauter als vorher.

      »Wir haben einen Platten, junger Mann«, durchschnitt nun die energisch klingende Stimme Mathildas das prickelnde Schweigen zwischen den beiden jungen Leuten.

      Die Industriellenwitwe war inzwischen wieder ausgestiegen, um sich ins Geschehen zu bringen.

      »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Reifen wechseln könnten«, sagte sie zu dem Jeepfahrer, der Liane immer noch mit bewunderndem Blick anschaute. »Der Reservereifen liegt im Kofferraum.«

      Der attraktive Fremde sah die Sechzigjährige an, als wäre sie gerade vom Himmel gefallen. Dann wanderte sein Blick wieder zu Liane, die schnell den Kopf senkte.

      »Wollen Sie uns nun helfen oder nicht?«, fragte Mathilda in ungeduldigem Ton. »Wir haben es nämlich eilig.«

      Manch einer wäre bei soviel Unhöflichkeit wieder in seinen Wagen gestiegen und hätte die beiden Frauen einfach stehen lassen. Doch dieser locker wirkende Autofahrer schien nicht sehr empfindlich zu sein. Er lachte Liane an, schob die aufgekrempelten Ärmel seines lichtblauen Sporthemdes noch höher und sagte in munterem Ton: »Na, dann wollen wir mal.«

      Der Reifenwechsel dauerte nur wenige Minuten. Mathilda verfolgte ihn mit Argusaugen. Auch Liane beobachtete jede Bewegung ihres Retters in Not, der in ein paar Meter Entfernung von ihr auf der Erde kniete. Er strahlte eine Sicherheit aus, eine Unbeschwertheit, die sie faszinierte. Noch nie war sie einem Mann begegnet, der ihr auf den ersten Blick so gut gefallen hatte. Jetzt stand er auf, wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und lachte sie an.

      »Das wäre geschafft«, meinte er zu ihr.

      Ihre Tante, die dicht neben ihm stand, schien er bewusst zu übersehen, was diese dazu bewog, sich vernehmlich zu räuspern.

      »Danke«, sagte Liane und lächelte zurück.

      Wieder verfingen sich ihre Blicke ein paar Herzschläge lang. Und beide spürten aufs Neue ganz deutlich das Knistern, das in diesen Augenblicken lag. Liane war es gewohnt, von Männern angesehen zu werden. Doch von Angesicht zu Angesicht mit diesem Fremden, der eine ganz besondere Ausstrahlung auf sie hatte, wurde sie unsicher. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass sie gerade durch diese Unsicherheit ganz besonders bezaubernd und anziehend wirkte.

      »Tja, dann …« In einer unschlüssigen Geste hob sie die Schultern.

      Wie gern hätte sie sich noch mit ihm unterhalten. Doch daran war im Beisein ihrer Tante ja nun wirklich nicht zu denken. Mathilda zerstörte dann auch prompt den Zauber, der dieser Situation inne lag, indem sie mit einem Geldschein vor der Nase des jungen Mannes hin und her wedelte, so dass dieser erschrocken ein paar Schritte zurücktrat und die ältere Frau verblüfft ansah.

      »Bitte, für Ihre Dienste«, sagte Mathilda in deutlich herablassendem Ton. »Nehmen Sie es. Wir müssen jetzt weiter.«

      Der Jeepfahrer zog die Brauen zusammen, so dass auf seiner gebräunten Stirn eine steile Falte entstand. Dann nahm seine Miene einen spöttischen Ausdruck an.

      »Vielen Dank, gnädige Frau, aber ich nehme kein Geld an. Den Reifen habe ich Ihrer Enkelin zuliebe gewechselt.«

      Mathildas vollwangiges Gesicht färbte sich dunkelrot. Dass jemand in diesem Ton zu ihr sprach, war eine Sache, die sie nicht kannte. Aber dass man sie für Lianes Großmutter hielt, war eine noch viel schlimmere. Tat sie nicht alles dafür, um jünger auszusehen?

      So

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