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vor allem dich sehen …«

      »Darum geht es nicht.«

      Jasmin war eine zarte Blondine, deren feines Gesicht von veilchenblauen Augen beherrscht wurde. Diese Augen waren es, die den meisten Betrachtern zuerst auffielen. Es war nicht nur die ungewöhnliche Farbe, die Aufmerksamkeit erregte, sondern auch der intensive Blick, mit dem Jasmin andere Menschen zu betrachten pflegte: ganz so, als versuchte sie, ihnen auf den Grund der Seele zu blicken. Genau so sah sie jetzt Severin an, der sich unter ihrem Blick mit jeder Sekunde unbehaglicher fühlte.

      »Es geht darum«, fuhr Jasmin fort, »dass du mir erst so spät Bescheid sagst. Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr, den Besuch zu verlegen, und das weißt du auch ganz genau. Du hattest keine Lust, mit mir zu meiner Oma zu fahren, und hast deshalb nach einem Grund gesucht. Wahrscheinlich hast du dem Kollegen selbst angeboten, für ihn einzuspringen.«

      Das kam der Wahrheit so nahe, dass Severin es vorzog, darauf nichts zu erwidern. Er hatte tatsächlich keine Lust gehabt, Jasmin zu ihrer Oma zu begleiten. Für ihn waren das langweilige Stunden in diesem Nest in den Bergen, die er lieber anderweitig verbringen wollte. Er hatte ohnehin wenig Freizeit, da brauchte er sich nicht auch noch lästige Besuche bei Leuten aufzuhalsen, mit denen er nicht einmal verwandt war. Jasmin zuliebe hatte er sie einige Male begleitet, aber er fand, der Aufwand war einfach zu groß. Also hatte er zwar nicht direkt angeboten, für seinen Kollegen einzuspringen, aber doch deutlich durchblicken lassen, dass es ihm nicht besonders viel ausmachen würde …

      »Jetzt sei nicht mehr sauer«, sagte er. »Beim nächsten Mal komme ich ja wieder mit.«

      Er ging zu Jasmin und umarmte sie. Zuerst machte sie sich steif, doch dann gab sie nach und ließ ihren Kopf an seine Brust sinken. »Ich bin trotzdem immer noch sauer«, ließ sie ihn wissen.

      Er begann sie zu streicheln und zu küssen, aber damit kam er dieses Mal nicht durch. Sie befreite sich kurzerhand aus seiner Umarmung. »Ich muss packen«, sagte sie. »Ich bleibe über Nacht.«

      »Du bleibst über Nacht? Seit wann das denn?«, fragte er verwundert. »Das war doch gar nicht geplant. Man kann sehr gut an einem Tag hin- und auch wieder zurückfahren.«

      Sie ließ ihn nicht aussprechen, ihre schönen Augen blitzten ihn an und rieten ihm, besser den Mund zu halten. »Es war auch nicht geplant, dass ich allein fahre«, sagte sie. »Trotzdem ist es jetzt so. Mir ist das zu anstrengend an einem Tag, ich komme erst morgen zurück. Vielleicht auch erst am Wochenende.«

      »Du hast doch morgen gar keinen Urlaub!«

      »Doch, habe ich.« Sie funkelte ihn zornig an. Jasmin war Fremdsprachenkorrespondentin bei einer mittelständischen Firma. »Ich habe heute und morgen Urlaub genommen, weil ich dachte, dass wir beide vielleicht Lust hätten, noch in den Bergen zu bleiben.« Damit ließ sie ihn stehen.

      Severin biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Sie war echt sauer, damit hatte er nicht gerechnet. Jasmin war der sanfteste Mensch, den er kannte, sie schaffte es einfach nicht, jemandem länger böse zu sein, besonders dann nicht, wenn er sich bei ihr entschuldigt hatte. Und das hatte er schließlich getan! Außerdem: Wieso hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie zwei Tage Urlaub genommen hatte vor dem Wochenende?

      Er sah auf die Uhr und fluchte. Höchste Zeit, dass er ins Büro kam. Er würde Jasmin später eine Nachricht schicken und sich noch einmal entschuldigen, dann würde sie sich schon wieder einkriegen.

      Sein Abschiedsgruß wurde mit einem knappen Kopfnicken erwidert. Er entschied sich daraufhin, zu gehen und nicht sofort den nächsten Versöhnungsversuch zu unternehmen. Ganz offensichtlich brauchte sie noch Zeit, um sich wieder abzuregen.

      Als er das Haus verließ, war seine Laune im Keller. Kein Mensch brauchte solchen Ärger – und schon gar nicht am frühen Morgen!

      *

      »Aber du fährst vorsichtig!«, sagte Frederik Strasser zu seinem Sohn Philipp. »Du hältst dich an die vorgegebene Geschwindigkeit, du trinkst keinen Tropfen Alkohol, und dein Smartphone ist während der Fahrt tabu!«

      »Mann, Papa, das weiß ich doch alles, du musst mir das nicht vor jeder Fahrt erzählen.« Philipp hatte den Führerschein seit einem halben Jahr, und er war stolz darauf. Bei seinen ersten Fahrversuchen mit Führerschein hatte sein Vater darauf bestanden, ihn zu begleiten, mittlerweile vertraute er ihm immerhin so weit, dass er ihn kürzere Fahrten auch allein machen ließ. Philipp fehlte die Fahrpraxis, aber er verhielt sich, soweit seine Eltern das beurteilen konnten, am Steuer sehr vernünftig.

      An diesem Tag wollte er mit dem Auto zur Schule fahren, um direkt von dort einen Freund zu besuchen, der außerhalb von München wohnte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln würde die Fahrt viel zu lange dauern, das hatte auch Philipps Vater Frederik eingesehen, und so schließlich die Erlaubnis erteilt. Sie hatten nur ein Auto in der Familie, einen Kleinwagen, wie er in einer Stadt mit fehlenden Parkplätzen sinnvoll war. Philipp war mit dem Wagen vertraut, und er würde vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein, so war es ausgemacht. Frederik würde ausnahmsweise mit der Bahn in sein Büro fahren.

      »Können wir jetzt endlich fahren?« Philipps jüngere Schwester Mara stand an der Tür. Er würde sie mitnehmen zur Schule.

      »Ja, könnt ihr«, sagte Frederik. »Also dann, gute Fahrt, ich muss jetzt los, mit der Bahn brauche ich ja etwas länger als sonst.«

      »Danke, Papa!«

      Frederik verließ das Haus, seine Frau war schon weg, sie arbeitete am liebsten frühmorgens. In ihrer Behörde gab es eine Gleitzeitregelung, die ihr entgegenkam. Sie war immer die Erste im Büro und daher auch die Erste, die nachmittags wieder nach Hause kam.

      Wenig später brachen auch Philipp und Mara auf. Mara sagte kein Wort mehr, nachdem sie ihrem Bruder mitgeteilt hatte, dass sie gleich eine Mathearbeit schreiben würde, auf die sich nur höchst ungenügend vorbereitet hatte.

      Er sagte nichts dazu. Mara war ein Superhirn, niemand konnte ihr das Wasser reichen. Selbstverständlich war sie die beste Schülerin ihrer Klasse, sie fühlte sich immer ungenügend vorbereitet, das war nichts Neues. Trotzdem schrieb sie nur Einsen.

      Er war ganz froh darüber, dass sie keine Unterhaltung von ihm erwartete, er hatte eigene Probleme, die ihm zu schaffen machten. Die Fahrt zur Schule verlief ohne Zwischenfall, aber er musste noch die Sache mit Selina, seiner Freundin, in Ordnung bringen. Erst dann stand einem schönen Nachmittag bei seinem Freund Niko nichts mehr im Weg.

      Selina war sauer auf ihn, sie hatten sich am Tag zuvor heftig gestritten, weil er über eine neue Schülerin in ihrer Klasse, Alissa, gesagt hatte, er fände sie sehr attraktiv – was der Wahrheit entsprach. Aber seine Äußerung war bei Selina nicht gut angekommen, zumal sie bemerkt hatte, dass er der Neuen mehrfach hinterhergesehen hatte.

      »Sag doch gleich, dass du mit mir Schluss machen und mit Alissa gehen willst!«

      »Das will ich doch überhaupt nicht! Meine Güte, darf ich andere Mädchen nicht einmal mehr ansehen und attraktiv finden?«

      »Doch, das darfst du, aber nicht, wenn du darüber vergisst, dass ich auch noch da bin!«

      So war das hin- und hergegangen, bis sie ihn zum Schluss einfach hatte stehen lassen. Er hasste es, wenn sie Streit hatten, das konnte er nicht gut aushalten, und Selina wusste das natürlich. Deshalb ließ sie ihn jetzt zappeln, was ihn wütend machte: Sie wollte ihm, so sah er es, den Nachmittag mit Niko verderben, denn dass er sich mit seinem Freund verabredet hatte, passte ihr auch nicht. »Immer sind dir andere wichtiger als ich«, hatte sie geklagt.

      Sie war ihm wichtig, aber er schaffte es nicht, ihr zu sagen, dass er auch noch mit anderen zusammen sein wollte, nicht nur mit ihr. Warum mussten Mädchen so kompliziert sein?

      Als er den Klassenraum betrat, war Selina schon da. Sie unterhielt sich lebhaft mit einem anderen Mädchen. Obwohl sie ihn sicher hatte hereinkommen sehen, machte sie keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen. Sie wandte sich sogar ab, als wollte sie ihn warnen, sie anzusprechen.

      Auf einmal wurde er sauer. Er hatte nichts Falsches getan, und dafür sollte er sich schlecht

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