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1.2Die Diagnose in der Psychotherapie

      Stellt der Therapeut im Rahmen einer Psychotherapie eine Diagnose, so sollte er sich von anderen Funktionen der Diagnose (z. B. von statistischen oder mit dem Erhalt von Leistungen im sozialen oder medizinischen Bereich zusammenhängenden Funktionen), mit denen der Diagnoseprozess und die Auswirkungen dieses Prozesses verknüpft sind, befreien. Wichtig ist es dagegen, die spezifischen diagnostischen Aspekte, die in der Psychotherapie von Bedeutung sind, zu stärken.

      Die Arbeiten von Milton H. Erickson lassen ein pragmatisches Konzept bezüglich der Diagnostik erkennen. Die Probleme des Klienten werden auf eine Weise definiert und beschrieben, die eine praktische Lösung dieser Probleme ermöglicht (Reichport-Haley a. Carlson 2010).

      Die Diagnose, mit der wir es für gewöhnlich in der Psychologie und vor allem in der Psychiatrie zu tun haben, unterliegt hinsichtlich des psychotherapeutischen Prozesses drei wesentlichen Einschränkungen:

      •Sie konzentriert sich auf Defizite des Klienten (sie beschreibt Krankheit und nicht Gesundheit, Symptome und nicht Ressourcen).

      •Sie konzentriert sich übermäßig auf die Vergangenheit.

      •Sie bezieht sich auf den Einzelnen und ignoriert das soziale System.

      Die Diagnose im traditionellen Sinne konzentriert sich also auf die Psychopathologie. Sie bezieht sich auf die Symptome, deren Genese und Gegebenheiten. Das Wissen um Symptomatik und Defizite ist jedoch nicht ausreichend, um eine Psychotherapie zu beginnen. Der Therapeut benötigt breitere Kenntnisse, die sowohl die Defizite als auch die Chancen und Möglichkeiten des Klienten, sein Entwicklungspotenzial und seine Perspektiven einbeziehen.

      Der zweite Punkt benennt die Konzentration der Diagnose auf die Vergangenheit. Ein auf die Vergangenheit bezogenes Narrativ ergibt nur dann einen Sinn, wenn das Erzählte auch Entwicklungsmöglichkeiten und Potenzial des Einzelnen (und des Systems) aufzeigt. Auf diese Weise wird deutlich, welche Strategien erfolgversprechend sind und welche der Klient besser meiden sollte, da sie sich in der Vergangenheit als nicht wirksam herausgestellt haben.

      Erickson meint

      »… in der Therapie geht es vor allem darum, dass die Menschen lernen, adäquat zur Wirklichkeit, in der sie leben, zu funktionieren. Die Rahmenbedingungen der Wirklichkeit werden durch simple Tätigkeiten bestimmt, die sowohl die Gegenwart berücksichtigen, als auch die Zukunft, die erwartet wird. Diese Tätigkeiten beziehen sich auf den Alltag und sind mit dem Leben verbunden, wie zum Beispiel die Nahrungsaufnahme« (Haley 1985, p. 8).

      Nutzt der Therapeut einen Teil seiner Arbeit dazu, die Vergangenheit des Klienten zu untersuchen, so richtet sich seine Aufmerksamkeit – und damit auch die Aufmerksamkeit des Klienten – auf Vergangenes. In den seltensten Fällen beginnen Klienten eine Therapie, um zu verstehen, welche Vorfälle und vergangenen Ereignisse ihr Leiden verursacht haben. Solche Anforderungen werden dagegen im Verlauf von Lehrtherapien oft vonseiten des Therapeuten gestellt. Personen, die sich für von einer Krankheit betroffen halten mit einer bestimmten Diagnose zur psychotherapeutischen Behandlung überwiesen werden, erwarten eine Verbesserung ihres Befindens, möchten gesund werden und, nachdem sie die Therapie abgeschlossen haben, ein besseres Leben führen.

      Die meisten Ausbildungssysteme und Zertifizierungscurricula verlangen eine Therapie des Therapeuten selbst. Dies gründet in der Annahme, dass das Kennenlernen der eigenen Person, der eigenen Einschränkungen und des eigenen Potenzials eine notwendige Erfahrung und die stetige Selbstreflexion in diesem Beruf unverzichtbar sind. Um diese Aktivitäten von einer Therapie zu unterscheiden, die ein Klient beginnt, werden hierfür Begriffe wie Lehrtherapie oder Selbsterfahrung verwendet. Therapeuten hegen zwar zu Beginn ihres Berufslebens oft eine innere Abneigung gegen diese Anforderungen, geben ihnen aber formal dennoch nach. Sie haben diesbezüglich auch keine Wahl. Eine mögliche Strategie, sich dem Druck dieser von außen auferlegten Anforderungen zu widersetzen, besteht in der Flucht in Vergangenheitsbezüge. Es scheint viel unverfänglicher zu sein, Vergangenes zu analysieren, als sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Ein Therapeut mit über dreißigjähriger Berufserfahrung beschrieb nach vielen Jahren seine eigene Therapie so:

      »Einmal pro Woche ging ich zu meiner eigenen Therapie. Dies war langwierig. Es hat sich nichts geändert, wir haben viel analysiert – vor allem die Vergangenheit. Ich war sehr frustriert. Ich hatte den Eindruck, meine Therapeutin ebenso. Einmal sagte sie: ›Eric, ich habe eine gute Nachricht für dich, in drei Monaten gehe ich in Rente. Ich habe nicht die Absicht, auch nur einen Tag länger zu arbeiten. Um dich zu ändern, bräuchte man wahrscheinlich eine Atombombe.‹ Ich ging nach Hause. Die Worte der Therapeutin ließen mir keine Ruhe und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, was ich selbst von der Therapie erwartete. In den nächsten drei Monaten machte ich mehr, als in den vorhergehenden sieben Jahren« (Greenleaf 2015).

      Das hier beschriebene Beispiel illustriert auch gut, welche Rolle die Motivation im Veränderungsprozess spielt. Dieser Frage widmet sich Kapitel 6.

      Martin Seligmann (2009) betont, dass die Vergangenheit in der Psychotherapie auch deshalb überbewertet wird, weil wissenschaftliche Instrumente fehlen, um mögliche zukünftige Ereignisse vorherzubestimmen, während umgekehrt unzählige Untersuchungen dazu existieren, wie Ereignisse aus der Vergangenheit das spätere Funktionieren beeinflussen.

      All denen, die mit Kindern, Jugendlichen und Familien zusammenarbeiten, dürften die Schwierigkeiten, die dabei auftreten, wenn man sich auf ein Individuum konzentriert, wohlvertraut sein. Im Entwicklungsprozess lässt sich keine Störung als Norm oder Krankheit an sich beschreiben, alles muss im Kontext der Familie und der Situation betrachtet werden. Manchmal weicht das Verhalten eines Kindes, das laut psychiatrischer Diagnose als krank gilt, im Schulalltag überhaupt nicht vom Verhalten der anderen Kinder ab. Das Kind erzielt gute Leistungen und zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Dagegen verhält es sich zu Hause und außerhalb der Schule aggressiv oder autoaggressiv. Ärzte und Lehrer können den Erzählungen der Eltern kaum glauben. Natürlich gibt es auch die umgekehrte Variante: Das Kind verhält sich zu Hause völlig unauffällig, zeigt jedoch im schulischen Umfeld ein von seinen Altersgenossen derart abweichendes Verhalten, dass es bei den Pädagogen Besorgnis und Unruhe hervorruft. Die Eltern dagegen sind erstaunt, was die Lehrer über ihr Kind zu berichten haben. Ohne den situationsbedingten und sozialen Kontext ist dies nur schwer zu verstehen. Jay Haley beschreibt Erfahrungen von Therapeuten, die mit Familien zusammenarbeiten, folgendermaßen:

      »Die Symptome einer einzelnen Person sind adäquat zur aktuellen Familiensituation. Das ist ein überzeugendes Argument dafür, diese Situation zu ändern« (Elkaim 2007, p. 138).

      Hier ist eine Diagnose erforderlich, die das gesamte familiäre System einbezieht.

      Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Diagnose bei einer, zwei oder mehreren Personen gestellt werden soll, die zur selben Zeit leiden und derselben Familie angehören. Sobald der Therapeut gezwungen ist, einen breiteren Kontext als nur den einer Einzelperson zu berücksichtigen, stellt sich die Frage, was in den Diagnoserahmen fällt: Die Familie, ein über die Familie hinausgehendes System, oder auch die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen beiden Elementen.

       1.3Diagnose und Suggestion

       »Möchten Sie den Klienten bereits bei der zweiten Therapiesitzung zu seiner Vergangenheit befragen, dann sollten Sie dafür einen wirklich triftigen Grund haben.«

      Norma Barretta

      Die Beziehung zwischen der Person, die die Diagnose stellt und der Person, bei der die Diagnose

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