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Entwicklung des Geistes (der Wahrheit) begreifbar. Ganz so, wie Bruno Liebrucks und vor ihm Hegel jenen empfehlen, die gewillt sind, von der Philosophie etwas zu lernen, sucht Fischer »die Philosophen im Umhof ihrer Größe«35 auf, er stellt sich in der Darstellung der einzelnen Systeme ganz auf ihren Standpunkt. Mit unvergleichlicher Gestaltungskraft gelingt es ihm, die schwierigsten Gedankengänge herauszuarbeiten, indem er das philosophische Werk zunächst dekonstruiert, um es von seinem Mittelpunkt aus neu aufzubauen. Seine Darstellungen sind nicht Nacherzählungen, sondern systematische Nachschöpfungen, die Fischer als kongenialen Denker ausweisen, er macht die Systeme einsichtig, ohne sie im eigentlichen Sinn zu popularisieren, Klarheit und Durchsichtigkeit der Gedanken sind nie durch didaktische Konzessionen auf Kosten der dargestellten Position erkauft. Dass er auch die jeweilige Persönlichkeit in ihrer unverkennbaren Weise zu porträtieren und sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen lehrt, macht den unverkennbaren Reiz seiner als Monographien-Reihe konzipierten Philosophiegeschichte aus und zeigt uns Fischer als »den hervorragendsten unter den drei Lehr-Meistern der Philosophie, denen die Universität Heidelberg in der Geisteswissenschaft der Vorweltkriegszeit ihre führende Rolle verdankte.«36 Die Charakteristika, durch die sich Fischers Monographien insgesamt auszeichnen: die »Klarheit seiner Darstellung«, den »Reichtum seiner Diktion«, die »Feinheit der Antithesen«, die »erleuchtende Kraft seiner Bilder«, die »durchsichtige[…] Anordnung des Stoffs«37 – wird der Leser in der vorliegenden Schopenhauer-Monographie in meisterlicher Vollkommenheit verwirklicht finden und genießen dürfen. Fischers Werk lädt ein, die philosophischen Gipfel der neuern Philosophie zu besteigen, es gleicht darin einer Karte, die uns die Wahl des Zieles überlässt und den Weg dorthin zeigt, ohne ihn uns abzunehmen38. Seine Bücher sind keine leichte, dafür aber eine umso solidere Kost: ihr »Mißbrauch enttäuscht«39 – wer sie nicht ernsthaft studieren, sondern in der Manier manch gegenwärtiger Einführungen die dargestellte Position bloß überblicken, d. h. über sie hinwegsehen will, wird durch Büchlein, die philosophische Themata für Eilige, Angeber und Dummies40 aufbereiten, besser bedient sein.

      Fischers philosophisches Schaffen steht ganz im Schatten seines philosophiegeschichtlichen Monumentalwerkes – schon Johann Eduard Erdmann hat darauf hingewiesen, dass der gefeierte Philosophiehistoriker als Philosoph unterschätzt wird41. Bei aller Bedeutung, welche die Philosophiegeschichte als Schule des Philosophierens für Fischer hat, ist er doch weit davon entfernt, Philosophie in Philosophiegeschichte aufzulösen. Es ist Hans-Georg Gadamer zu danken, dass er Fischers systematisches Hauptwerk: »Logik und Metaphysik«42 wieder zugänglich gemacht hat. Da es ihm um Fischer als Repräsentanten der Gegenwart Hegels im philosophischen Denken um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging43, hat er der Neuherausgabe die erste Auflage von 1852 zugrunde gelegt. Bereits in der Vorrede zu dieser Erstauflage zeigt sich uns Fischer als eigenständiger Denker, indem er Wert auf die Feststellung legt, dass ihm die hegelsche Philosophie, an deren Form er sich anschließt, nicht als Kanon gilt. Wohl wissend, wie leicht dieses System dogmatisch missverstanden werden kann, macht er mit seinen Prinzipien nur deshalb »gemeinschaftliche Sache«, weil ihm »das Problem von Logik und Erkenntnistheorie« alleine vom Standpunkt der »Identitätsphilosophie« aus begreifbar und lösbar erscheint. War Fischer schon in dieser ersten Auflage des Werkes, angesichts der »unter den kritischen Gesichtspunkt« oder unter die Kontrolle Kants gestellten Identitätsphilosophie, die er vertritt, nur in sehr eingeschränktem Sinn als Hegelianer in Anspruch zu nehmen, so dokumentieren die Umgestaltungen der zweiten Auflage die Distanz zu Hegel mit aller Deutlichkeit.44 Wie wenig andererseits die Philosophie der Philosophiegeschichte gegenübergestellt werden kann, zeigt sich an Fischers Monumentalwerk selbst, am Kant-Band,45 der dem Neukantianismus Grundlage und Ausgangspunkt geworden ist, wie am Hegel-Band46, der in eben dem Sinn auf die Wiederbelebung der hegelschen Philosophie (Hegelianismus) bezogen werden kann, sehen wir die genuin philosophiegeschichtliche Leistung in den Entwicklungszusammenhang der Philosophie eingreifen und damit in ihr selbst unmittelbar zur Geltung kommen.

      Fischers Lebenswerk gehört in die Reihe jener großartigen wissenschaftlichen Errungenschaften, die das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie hervorgebracht hat. Voraussetzung für diese in Art und Ausmaß einmaligen Leistungen war eine Neubewertung der Philosophiegeschichte durch Hegel. In seinen »Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie« hat Hegel Philosophiegeschichte nicht länger als eine »Galerie der Meinungen«48, sondern als sinnvollen Entwicklungszusammenhang des Denkens vorgetragen und damit erstmals die Geschichte der Philosophie als integrierenden Bestandteil des philosophischen Systems begriffen. Hegels Nachfolger haben fortgeführt, was bei ihm systematisch grundgelegt war, im Geiste seiner Ausführungen waren sie um die Vertiefung seines Grundgedankens ebenso wie um Korrekturen inhaltlicher und formaler Art bemüht, wobei sie das Unzureichende der hegelschen Methode vor allem in ihrem konstruktiven Charakter gesehen haben.49 Ganz anders die Position Schopenhauers: Für ihn ist die Geschichte der Philosophie bloß Wissen, keine Wissenschaft. So war ihm auch stets der Hinweis auf die eigene Originalität wichtiger als die Einbindung in die Überlieferung oder der Anschluss an die Tradition. Er hat auch erst sehr spät eingeräumt, dass einzelne seiner philosophischen Ideen und Gedanken Vorgänger haben, und dort, wo er zu solchen Zugeständnissen bereit war, stets auf die Bemerkung Wert gelegt, in welch unzulänglicher Weise diese Vorgänger ihre Ideen gefasst hätten50. Sowenig das Genie als solches aus irgendwelchen Lebensumständen oder Familiengenealogien abzuleiten ist, sowenig ist das, was es denkt aus dem, was vor ihm gedacht wurde, zu erklären. Das Genie ist ein Original oder es ist gar nicht. Eigenes und fremdes Denken stehen sich bei Schopenhauer in größtmöglicher Distanz gegenüber – die Frühlingsblume (Leben) ist ihm das adäquate Bild des einen, das Fossil (Tod) das adäquate Bild des anderen.51 Von einer Verlebendigung der Tradition, dem sich zu eigen Machen fremder Gedanken durch denkende Aneignung, weiß Schopenhauer nichts. Wer die Gedanken anderer kennt, sieht entweder die eigene Meinung bekräftigt oder beglückwünscht sich dazu, die sichtbar werdenden Irr-, Ab- und Umwege des Denkens vermieden zu haben – das philosophiegeschichtliche Wissen dient einzig der Selbstbestätigung, dazu, sich zu überheben. Schopenhauer ist in seinen Stellungnahmen zu anderen Philosophen dieser Theorie gemäß verfahren, vor der Folie des eigenen Denkens lobt er das jeweils Übereinstimmende und tadelt das jeweils Abweichende.52 Auch das Lesen ist ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens53, das, von einem anderen am Gängelbande geführt, Zeit und Energie vergeudet – was auch sollte uns interessieren an den Überresten eines fremden Mahls54, als welches die gelesenen Gedanken erscheinen, wenn deren Wahrheit und Leben dem Verständnis transzendent bleiben? Schopenhauer übersieht dabei, dass die Kennzeichnungen »fremd« und »eigen« gerade auf das Allgemeine des Gedankens nur in einem sehr eingeschränkten Sinn, gewissermaßen bloß alltagssprachlich, angewendet werden können.

      Kuno Fischer legt in seinem Schopenhauer-Buch »die Geschichte des jüngsten und letzten Philosophen«55 der großen, unmittelbar von Kant ausgehenden Periode systematischen Denkens vor. Seine philosophische Bedeutung und sein unaufhaltsam sich ausbreitender Ruhm sind dabei gleichermaßen Motiv, Schopenhauer in die Reihe der Denker aufzunehmen, von denen Fischers philosophiegeschichtliches Monumentalwerk handelt. Die Aufgabe, vor die wir angesichts der im Rahmen der europäischen Geistesgeschichte singulären Erscheinung dieses philosophischen Originalgenies gestellt sind, hat Fischer in der Vorrede zur zweiten Auflage (1897) formuliert, sie hat bis heute nichts an Aktualität verloren: »Die Schopenhauer-Literatur floriert. Wenn man den Philosophen richtig zu verstehen und zu beurteilen vermag, was freilich etwas schwieriger ist, als seine Schriften lesen und loben, so wird die Beschäftigung mit ihm nicht bloß blühen, sondern auch Frucht tragen. Von Schopenhauer ist mehr zu lernen als von ›Zarathustra‹«.56

      Die Kennzeichnung Schopenhauers als eines philosophischen Außenseiters trifft nicht erst auf seine Philosophie, sondern bereits auf seine Biographie zu. Die von Kuno Fischer aus Selbstdarstellungen und Briefen sorgfältig recherchierte Vita zeigt uns Schopenhauers Werdegang in keinem Punkt mit dem eines deutschen Gelehrten des 18. Jahrhunderts vergleichbar. Dieser kommt typischerweise aus kleinen Verhältnissen, sein Bildungsweg beginnt

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