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Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
Читать онлайн.Название Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf
Год выпуска 0
isbn 9788027207015
Автор произведения Selma Lagerlöf
Издательство Bookwire
Aber als er an den Tisch herantrat, entdeckte er etwas Wunderliches. Es war doch unmöglich, daß die Stube größer geworden war. Woher konnte es denn aber nur kommen, daß er viel mehr Schritte machen mußte als sonst, um an den Tisch zu gelangen? Und was war denn in den Stuhl gefahren? Er sah nicht aus, als wenn er größer wäre als früher, aber er mußte erst auf die Sprosse zwischen den Stuhlbeinen steigen und dann klettern, um auf den Sitz zu gelangen. Und ebenso war es mit dem Tisch. Er konnte nicht über die Tischplatte sehen, ohne auf die Stuhllehne zu klettern.
»Was in aller Welt ist das nur?« sagte der Junge. »Der Kobold wird doch nicht den Lehnstuhl und den Tisch und auch das ganze Haus verhext haben!«
Die Postille lag auf dem Tisch, und sie sah so aus wie früher, aber auch damit mußte etwas nicht in der Ordnung sein, denn er konnte nicht dazu kommen, ein Wort zu lesen, ohne daß er geradezu mitten auf dem Buch stand.
Er las einige Zeilen, aber dann sah er zufällig auf. Dabei fiel sein Auge in den Spiegel, und da rief er plötzlich ganz laut: »Aber da ist ja noch einer!«
Denn im Spiegel sah er ganz deutlich einen winzig kleinen Burschen in Zipfelmütze und Lederhose.
»Der ist ja genau so gekleidet wie ich,« sagte der Junge und schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Aber da sah er, daß der kleine Bursche im Spiegel dasselbe tat.
Da zupfte er sich selber im Haar und kniff sich in den Arm und drehte sich rund herum, und augenblicklich machte der im Spiegel es ihm nach.
Der Junge lief ein paarmal rund um den Spiegel herum, um zu sehen, ob sich ein Männlein dahinter versteckt hielt. Aber da war keins, und da begann er vor Angst zu zittern. Denn nun begriff er, daß der Kobold ihn verhext hatte, und daß der kleine Bursche, dessen Bild er im Spiegel sah, er selber war.
Die wilden Gänse
Der Junge konnte sich nun gar nicht bequemen, zu glauben, daß er in einen Kobold verwandelt war. »Es ist wohl nichts weiter als Traum und Einbildung,« dachte er. »Wenn ich nur ein wenig warte, werde ich wohl wieder ein Mensch.«
Er stellte sich vor den Spiegel und schloß die Augen. Er öffnete sie erst wieder, nachdem ein paar Minuten vergangen waren, und erwartete dann, daß es vorübergegangen sei. Aber das war es nicht; er war und blieb gleich klein. Sonst glich er sich selbst, er war ganz so wie früher. Das flachsgelbe Haar und die Sommersprossen über der Nase und die Flicken an der Hose und die Stopfstelle an dem Strumpf, das war alles genau so, wie es zu sein pflegte, nur daß alles kleiner geworden war.
Nein, es konnte nichts nützen, stillzustehen und zu warten, das merkte er wohl. Er mußte etwas anderes versuchen. Und er fand, das klügste, was er tun konnte, war, daß er versuchte, den Kobold zu finden und Frieden mit ihm zu schließen.
Er sprang an die Erde herab und machte sich daran, zu suchen. Er guckte hinter Stühle und Schränke, und unter die Bettbank und hinter den Herd. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher hinein, aber es war ihm nicht möglich, den Kobold zu finden.
Die ganze Zeit, während er suchte, weinte er und betete und gelobte alle möglichen Dinge. Er wollte nie wieder jemand das Wort brechen, er wollte nie wieder boshaft sein, er wollte nie wieder bei der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder ein Mensch werden könne, dann wollte er auch tüchtig sein und ein guter und gehorsamer Junge. Aber was er auch versprach, es half nicht im geringsten.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er die Mutter hatte sagen hören, die Kobolde hielten sich mit Vorliebe im Kuhstall auf, und er beschloß, gleich da hinauszugehen und zu sehen, ob er den Kobold nicht finden könne. Zum Glück stand die Tür nur angelehnt, denn er hätte das Schloß nicht erreichen und sie öffnen können, aber nun gelangte er ohne Schwierigkeit hindurch.
Als er auf den Flur hinauskam, sah er sich nach seinen Holzschuhen um, denn drinnen in der Stube ging er natürlich auf Socken. Er überlegte gerade, was er mit den großen, klotzigen Holzschuhen anfangen sollte, aber im selben Augenblick sah er ein Paar kleine Schuhe auf der Türschwelle stehen. Als er sah, daß der Kobold auch die Holzschuhe verwandelt hatte, wurde ihm noch beklommener zumute. Es sah ja so aus, als wenn dies Elend lange währen sollte.
Auf der alten Eichenplanke, die vor der Haustür lag, hüpfte ein Spatz. Kaum hatte der den Jungen erblickt, als er »Tit, tit! Tit, tit!« rief. »Nein, seht doch nur den Gänsejungen Niels! Seht den Däumling! Seht den Däumling Niels Holgersen!«
Sogleich wandten sowohl die Gänse als auch die Hühner die Köpfe herum und es entstand ein schreckliches Gegacker. »Kickerikih!« krähte der Hahn, »das ist gut genug für ihn; Kickerikih, er hat mich an meinem Kamm gezupft.« – »Gut, gut, gut, gut, das ist gut genug für ihn!« riefen die Hühner, und so blieben sie dabei bis ins unendliche. Die Gänse flogen in einem dichten Haufen zusammen, steckten die Köpfe zusammen und fragten: »Wer kann das doch nur getan haben? Wer kann das doch nur getan haben?«
Aber das Sonderbarste bei dem Ganzen war, daß der Junge verstand, was sie sagten. Er war so erstaunt, daß er still auf der Treppenstufe stehen blieb und lauschte. »Das muß daher kommen, weil ich in einen Kobold verwandelt bin,« sagte er. »Darum kann ich die Sprache der Vögel verstehen.«
Er fand, es war unleidlich, daß die Vögel nicht aufhören wollten zu sagen, daß es gut genug für ihn sei. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: »So schweigt doch still, ihr Lumpengesindel!«
Aber er hatte vergessen, daß er nicht so groß war, daß die Hühner bange vor ihm zu sein brauchten. Die ganze Hühnerschar fuhr auf ihn los und stellte sich rund um ihn herum auf und schrie: »Gut, gut, gut, das ist gut genug für dich!«
Der Junge versuchte zu entkommen, aber die Hühner liefen ihm nach und schrien, so daß die Ohren ihm beinahe abgefallen wären. Er wäre ihnen wohl nie entronnen, wenn nicht die Hauskatze des Weges gekommen wäre. Sobald die Hühner die Katze sahen, schwiegen sie still und taten so, als dächten sie an nichts weiter, als nach Würmern in der Erde zu scharren.
Der Junge lief schnell zu der Katze hin. »Liebe kleine Miez,« sagte er »du kennst ja alle Winkel und Schlupflöcher hier auf dem Hofe? Willst du mir nicht erzählen, wo ich den Kobold finden kann?«
Die Katze antwortete nicht sogleich. Sie setzte sich hin, legte den Schwanz hübsch in einen Kranz vor ihre Pfoten und starrte den Jungen an. Es war eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Ihr Haar war glatt und glänzend im Sonnenschein. Die Krallen hatte sie eingezogen, und die Augen waren ganz grau bis auf einen kleinen schmalen Spalt in der Mitte. Die Katze sah aus wie die personifizierte Frömmigkeit.
»Ich weiß recht gut, wo der Kobold wohnt,« sagte sie mit sanfter Stimme, »aber darum ist es nicht gesagt, daß ich es dir erzählen will.«
»Liebe Miez, du mußt mir wirklich helfen,« sagte der Junge. »Siehst du denn nicht, daß er mich verhext hat?«
Die Katze öffnete die Augen ein wenig weiter, so daß die grüne Bosheit herauszulugen begann. Sie spann und schnurrte vor Wohlbehagen, ehe sie antwortete: »Soll ich dir vielleicht helfen, weil du mich so oft am Schwanz gezogen hast,« sagte sie schließlich.
Da wurde der Junge wütend und vergaß ganz, wie klein und machtlos er war. »Ich kann dich noch einmal am Schwanz ziehen!« sagte er und fuhr auf die Katze los.
Im selben Augenblick war die Katze so verändert, daß der Junge kaum glauben konnte, es sei dasselbe Tier. Jedes Haar auf ihrem Leibe sträubte sich. Der Rücken krümmte sich, die Beine streckten sich, die Krallen kratzten in der Erde, der Schwanz wurde kurz und dick, die Ohren legten sich zurück, der Mund fauchte, die Augen standen weit offen und funkelten wie glühende Kohlen.
Der Junge wollte sich nicht von einer Katze bange machen lassen, sondern ging noch einen Schritt vor. Aber