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Londoner Straße. Vereinzelte Bauernwagen, die Gemüse nach der Weltstadt brachten, machten zwar einigen Lärm, aber die zahlreichen Landhäuser zu beiden Seiten des Weges lagen still und leblos da, wie eine in Traum versunkene Stadt.

      »Dieser Fall ist doch in mancher Beziehung recht merkwürdig«, sagte Holmes und trieb sein Pferd zum Galopp an. »Blind wie ein Maulwurf bin ich gewesen, das muß ich gestehen, doch ist es immer noch besser, man wird erst spät klug, als gar nicht.«

      In der Stadt sahen eben die ersten Frühaufsteher mit verschlafenen Augen zum Fenster heraus, als wir durch die Straßen des Surreyviertels fuhren. Durch die Waterloo-Brückenstraße hinab kamen wir über den Fluß, wandten uns dann zur Rechten und gelangten in die Bowstraße. Sherlock Holmes war auf der Polizei wohlbekannt, und die beiden Schutzleute vor der Tür begrüßten ihn. Einer hielt das Pferd, während der andere uns hineinführte.

      »Wer hat Dienst?« fragte Holmes.

      »Wachtmeister Bradstreet.«

      »Ei, guten Tag, Bradstreet, wie geht’s?«

      Ein großer, stattlicher Beamter kam in Dienstmütze und Uniform den mit Steinfliesen belegten Gang herab.

      »Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Bradstreet?«

      »Gewiß, Herr Holmes. Treten Sie nur hier in mein Zimmer ein.«

      Es war ein kleiner büromäßig ausgestatteter Raum, ein riesiges Hauptbuch lag auf dem Tisch, und ein Telephon ragte aus der Wand hervor. Der Wachtmeister setzte sich an sein Pult.

      »Womit kann ich dienen, Herr Holmes?«

      »Ich komme wegen jenes Bettlers, des Boone, wissen Sie, des Menschen, der im Verdacht steht, bei dem Verschwinden des Herrn Neville St. Clair aus Lee beteiligt zu sein.«

      »Ja, der wurde eingebracht und soll noch weiter verhört werden.«

      »Das ist mir gesagt worden. Haben Sie ihn hier?«

      »Ja, in einer Zelle.«

      »Ist er ruhig?«

      »Ja, der macht wenig Mühe, aber ein schmutziger Kerl ist er.«

      »Schmutzig?«

      »Freilich, und kaum können wir ihn dazu bringen, daß er sich die Hände wäscht, ein Gesicht hat er, so schwarz wie ein Kesselflicker. Nun, sobald einmal das Verfahren im Gang ist, bekommt er sein regelrechtes Gefängnisbad, und meiner Treu, wenn Sie ihn sähen, Sie würden mir beistimmen, daß er dessen bedarf.«

      »Sehr gern möchte ich ihn sehen!«

      »Wirklich? Das läßt sich leicht machen. Kommen Sie nur mit. Ihre Tasche kann hier bleiben.«

      »Nein, danke, ich nehme sie lieber mit.«

      »Auch recht. Hierher, bitte.« Er führte uns einen Gang hinunter, öffnete eine verriegelte Tür, stieg eine Wendeltreppe hinab und brachte uns auf einen weißgetünchten Korridor, an dessen beiden Seiten eine Reihe von Türen war.

      »Die dritte rechts führt zu ihm«, sagte der Wachtmeister. »Hier, diese ist’s«. Sacht zog er einen Schieber im oberen Teil der Tür zurück und blickte durch die Öffnung.

      »Er schläft«, sagte er. »Jetzt können Sie ihn bequem sehen.« Wir näherten uns beide und sahen durch das Gitter. Der Gefangene hatte das Gesicht uns zugewandt und lag in tiefem Schlafe da, langsam und schwer atmend. Er war ein mittelgroßer Mann, derb gekleidet, wie es für seinen Beruf paßte, und durch die Risse seines zerlumpten Rockes kam sein buntes Hemd zum Vorschein. Der Wachtmeister hatte recht gehabt, wenn er den Gefangenen außerordentlich schmutzig nannte, aber die dicke Schmutzkruste, die sein Gesicht bedeckte, war nicht imstande, seine abschreckende Häßlichkeit zu verhüllen. Eine alte Schramme lief in einem breiten Striemen vom Auge bis zum Kinn und hatte bei der Vernarbung die Oberlippe derart hinaufgezogen, daß drei Zähne unbedeckt blieben, was aussah, wie ein beständiges Grinsen. Ein dichter Busch gelbroten Haares fiel ihm tief über Augen und Stirne.

      »Ist er nicht der reinste Adonis?« spottete der Wachtmeister.

      »Jedenfalls ist er des Waschens bedürftig«, bemerkte Holmes, »und da ich dies vermutete, erlaubte ich mir, das hierzu Notwendige mitzubringen.« Damit öffnete er seine Ledertasche und zog zu meinem Staunen einen sehr großen Badeschwamm hervor.

      »Ha, ha!« lachte der Wachtmeister, »was für ein drolliger Mensch Sie sind!«

      »Wenn Sie jetzt die große Güte haben wollten, diese Türe recht vorsichtig zu öffnen, dann soll er uns bald ein anständigeres Gesicht schneiden.«

      »Nun, schaden kann’s nichts«, sagte der Wachtmeister. »Er macht sonst dem Zellengefängnis der Bowstraße wenig Ehre.« Er steckte den Schlüssel in das Schloß, und wir traten alle leise ein. Der Schläfer machte eine kleine Wendung, versank aber sofort wieder in tiefen Schlaf. Holmes ging zum Wasserkrug, tauchte den Schwamm ein und fuhr zweimal über das Gesicht des Gefangenen.

      »Meine Herren, gestatten Sie mir, Sie dem Herrn Neville St. Clair aus Lee in der Grafschaft Kent vorzustellen«, rief Holmes laut.

      Noch nie in meinem Leben habe ich solchen Anblick gehabt. Die Maske des Mannes schälte sich unter dem Schwamme ab, wie die Rinde vom Baume. Weg war die häßliche braune Farbe! Weg war die entsetzliche Schramme, und weg die verzerrte Oberlippe, die dem Gesicht den abschreckenden, hämischen Ausdruck gegeben hatte! Ein fester Griff entfernte das wirre, rote Haar, und vor uns saß auf dem Bette ein blasser, trauriger, fein aussehender Herr, mit schwarzem Haar und zarter Haut, der sich die Augen ausrieb und schlaftrunken um sich blickte. Dann wurde er sich plötzlich seiner Lage bewußt und begrub, laut aufschreiend, sein Gesicht in dem Kopfkissen.

      »Großer Gott!« rief der Wachtmeister aus, »das ist ja wirklich der Vermißte. Ich erkenne ihn der Photographie nach.«

      Der Gefangene wandte sich mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich in sein Geschick ergibt um. »So sei es denn«, sprach er. »Und nun, bitte, sagen Sie mir, wessen beschuldigt man mich?«

      »Herrn Neville St. Clair auf die Seite geschafft zu haben – doch wahrhaftig, dessen kann man Sie nicht mehr bezichtigen, es wäre denn, daß das Gericht eine Anklage auf versuchten Selbstmord aus dem Falle machen wollte«, sagte der Wachtmeister lachend. »Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich jetzt im Dienste, doch so etwas ist mir noch nicht vorgekommen.«

      »Wenn ich Neville St. Clair bin, so liegt es klar zu Tage, daß ich keinen Mord begangen habe, wohl aber, daß man mich widerrechtlich hier festhält.«

      »Kein Verbrechen, wohl aber ein großer Irrtum hat hier stattgefunden«, sprach Holmes. »Sie hätten besser daran getan, Ihrer Frau zu vertrauen.«

      »Nicht um meiner Frau, sondern um meiner Kinder willen ist’s geschehen«, stöhnte der Gefangene. »Wahrhaftiger Gott, sie sollten sich nicht ihres Vaters wegen schämen müssen. O Gott, welche Schmach! Was kann ich machen?«

      Sherlock Holmes setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihm freundlich seine Hand auf die Schulter.

      »Wenn Sie es dem Gerichtshof überlassen, die Sache zu erledigen«, sagte er »so wird sie natürlich an die Öffentlichkeit kommen. Vermögen Sie dagegen der Polizeibehörde zu beweisen, daß keinerlei Grund zu einer Anklage gegen Sie vorliegt, so weiß ich nicht, wie diese Geschichte ihren Weg in die Presse finden sollte. Wachtmeister Bradstreet wird gewiß bereit sein, alles niederzuschreiben, was Sie uns sagen wollen, und hernach Ihre Aussagen der betreffenden Behörde mitteilen. Auf diese Weise gelangt dann der Fall gar nicht an den Gerichtshof.«

      »Gott segne Sie!« rief der Gefangene leidenschaftlich aus. »Gefängnis, ja Hinrichtung hätte ich eher ausgehalten, als daß ich mein erbärmliches Geheimnis verraten und Schande über meine Kinder gebracht hätte.

      Sie sind die ersten, denen ich meine Geschichte erzähle.

      – Mein Vater war Schullehrer in Chesterfield, wo ich eine ausgezeichnete Erziehung erhielt. In meiner Jugend machte ich Reisen, ging zur Bühne und wurde schließlich Berichterstatter für ein Londoner Abendblatt.

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