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rigide Kulturepoche mit einer autoritären Wertegemeinschaft, in der das Ich des Einzelnen in seinem Eigenrecht stark bedroht war. Diese Zeit stand extrem unter dem Wertezwang: Gehorsam als eine unbedingte militärische preußische Disziplin, Ehre als ein extremer Korpsgeist der Offiziersklasse, Vaterland als ein chauvinistisches Nationalbewusstsein. Von diesen drei Stoßrichtungen her wurde von oben, von Gottes Gnaden, in die Gesellschaft hinein und damit auf den Einzelnen in seinem täglichen Alltag durchregiert.

      Noch heute lohnt es sich, Literatur dieser Zeitepoche zu lesen, um den damaligen kollektiven Zwangsgeist zu erfassen, etwa EFFI BRIEST von Theodor Fontane aus dem Jahr 18956: Wie in einem Spiegelbild zeichnet Fontane in Effis Ehe die Verhältnisse der preußischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach: Von Instetten, älterer Karrieremann im Staatsdienst, Heirat mit der noch unmündigen, aber standesgemäßen jungen Effi, Aufstiegsjahre in Hinterpommern, in denen sich Effi langweilt, schließlich berufliche und gesellschaftliche Anerkennung in Berlin und auch persönliches Glück mit seiner wenn nicht geliebten, so doch hochverehrten Frau.

      Per Zufall entdeckt von Instetten Liebesbriefe an Effi aus den frühen Aufstiegsjahren. Die Intensität dieser Affäre bleibt im Dunkeln, vielleicht waren es nur einige Spaziergänge aus Langeweile. Von Instetten hält die Angelegenheit deshalb persönlich auch für eine Komödie. Doch gesellschaftlich sieht er sie sofort als Katastrophe. Zwar könnte er sie selbst noch abwenden, denn nur er allein weiß ja um die Existenz dieser Briefe. Doch ich habe keine Wahl, ich muss. Dem Ehrenkodex seines Standes opfert er in unerbittlicher Staatsraison seine Frau und mit ihr das gemeinsame persönliche Glück.

      Dieser Ehrenkodex damals war die geballte Wucht der Werte und Normen dieser kaiserlich guten Gesellschaft. Sie lebte gegenüber der Obrigkeit in der absoluten Pflicht strengster Verhaltensvorschriften. Durch Erziehungsdrill von klein auf war das äußerliche Verhalten im Standesbewusstsein voll verinnerlicht, das heißt, die Rolle, die Mann und Frau zu spielen hatten, war gerade auch in ihren Begrenzungen genau vorgegeben. Abweichungen führten ohne Rücksicht auf den Einzelnen unweigerlich in die gesellschaftliche Katastrophe.

      Die Bedürfnisse des Einzelnen als Mensch wurden entsprechend völlig ignoriert und damit unterdrückt. Dies eben macht Fontane mit Effi besonders an der Rolle der Frau sichtbar. Die Frau funktioniert an der Seite ihres Mannes. Vor der Ehe wird die junge Frau weder gefragt noch aufgeklärt, es wird über sie verfügt. In der Ehe nimmt sie alles fast wortlos duldend hin, hat keine Meinung zu haben. Im Konflikt selbst kommt sie nicht einmal zu Wort, weder zur Erklärung noch zur Rechtfertigung, sie wird ganz einfach ausgestoßen. Nach der Katastrophe ringt sie sich durch zur Einsicht, dass alles schon so seine Richtigkeit hätte. Ergebenheit als Selbstaufgabe aller Eigenrechte des Ich.

      Die Loslösung von einem derart überspitzten Kulturdruck auf den Einzelnen ist gesellschaftspolitisch ein höchst komplizierter und langwieriger sozialer Wandlungsprozess. Er geschieht nicht unmittelbar durch den einzelnen Menschen, denn der ist in der manipulierten Masse viel zu schwach, um alleine Veränderungen herstellen zu können. Er geht gewöhnlich als Opfer unter. Wandlungen vollziehen sich eher durch neue Einsichten und Theorien, die sich immer stärker gegen die herrschende Kultur durchsetzen. Prinzipiell kann man sagen: Auf Dauer zermürbt die Natur des Ich eine Kultur, in der sich das Ich immer weniger entfalten kann. In dem Maße, in dem die Kultur das Leben verengt, bricht sich die Natur des Menschen neue Bahnen, schafft neue Theorien zur Korrektur der Kultur und damit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

      Konkret entwickelt sich dieses Prinzip in langwierigen und komplizierten Prozessen. Damals in der wilhelminischen Zeit kam die Kritik aus drei unterschiedlichen Stoßrichtungen:

      1. Kulturkritik von Karl Marx

      Sie entstand aus der sozialen Verelendung breiter Menschenmassen heraus gegen die herrschende Klassengesellschaft, damit gegen politische und wirtschaftliche Machtstrukturen. Marx hatte ökonomisch erkannt, dass das Kapital der herrschenden Klasse, speziell ihr exklusiver Besitz der Produktionsmittel in der expandierenden Zeit der Industrialisierung, Ursache der Verelendung der lohnabhängigen Arbeiter war.

      Seine Kritik zielte deshalb politisch besonders auf die wirtschaftliche Veränderung der Gesellschaft von Grund auf, notfalls durch revolutionären Umsturz im Klassenkampf. Seine Stoßrichtung kam deshalb von unten, als Kampf vom unterdrückten Volk aus. Die kommunistische Arbeiterbewegung war insofern auch eine Kulturrevolution7, weil sie für die neue Gesellschaft zugleich einen neuen Menschentyp schaffen wollte8.

      2. Kulturkritik von Sigmund Freud

      Sie entwickelte sich gleichsam von innen gegen das damals herrschende Menschenbild, speziell gegen die christliche Sexualmoral. Freud ging dabei aus von einem psychologisch-psychotherapeutischen Ansatz, indem er die psychische und psychosoziale Beschaffenheit des Menschen völlig neuartig definierte. Alle bis dahin geltenden Vorstellungen über die Ganzheitlichkeit des Menschen gingen anhand einer Fülle von Detailerkenntnissen über Triebstruktur und daraus entstehenden Verhaltenszwängen und -mustern zu Bruch.

      Freuds säkular-anthropologischer Ansatz löste – abgesehen von seinen umsturzartigen humantherapeutischen Wirkungen – speziell eine Kunstrevolution aus. Viele Künstler nahmen Freuds revoltierendes Menschenbild auf in Literatur, in Malerei und Musik, insbesondere in der Opernwelt, aber auch im Film und überall im modernen Lifestyle des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken durchbrachen sie alle bisherigen alten Normen9.

      3. Kulturkritik von Friedrich Nietzsche

      Sie brach mitten heraus aus der Philosophie gegen die Philosophie, gezielt gegen den geistigen Stau des gesamten christlich-abendländischen Denksystems. Nietzsche durchlöcherte die liberal-konservative Bürgerfront nicht nur mit seinem Aufschrei Gott ist tot10, sondern auch mit seinen nihilistischen Attacken generell gegen die christliche Religion.

      Mit seiner Ankündigung der Umwertung aller Werte jenseits von gut und böse11 – zerlegte er nicht nur ihre religiöse Sklavenmoral, sondern propagierte zugleich einen neuen Menschentypus, der, sich autonom erhebend, völlig neue Maßstäbe und Zukunftsziele setzt, insgesamt einen Herrenmenschen, der in der Lage ist, die Welt einzureißen und sie von Grund auf neu aufzubauen. Wirkung erzielte Nietzsche mit seinen mythischen Visionen am Anfang vor allem bei den kritischen geistigen Eliten, die eine Neuerung herbeisehnten.

      Alle drei Kulturkritiken von Marx, Freud und Nietzsche – jede für sich und im Zusammenspiel – machten den politischen Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches 1918/19 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Auflösung des Kaiserreiches darüber hinaus zu einem gesellschaftspolitisch-kulturellen Zusammenbruch mit der Auflösung aller bis dato als absolut geltenden Kunst- und Moralvorstellungen und des Menschenbildes.

      Dieser Zusammenbruch wird allerdings insofern oft zu überhöht gewertet, als er keineswegs zugleich die Herstellung einer neuen freiheitlichen Epoche zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass die nachfolgenden Zeitepochen auf Restauration zielten, also nicht etwas wirklich Neues wollten, sondern nur die Wiederherstellung des Alten. Konkret waren sie unbedingt darauf aus, das Zerstörte, das Verlorene, das Alte in neuer Gestalt wieder zur Geltung zu bringen:

      – Die Hitlerzeit von 1933 bis 1945 (Das Dritte Reich) war eine derartige Restauration des chauvinistischen Staates in Fortsetzung mit anderen Mitteln: die Alleinherrschaft der Diktatur anstelle der Alleinherrschaft der Monarchie. Man kann die Hitlerzeit verstehen als säkularisierte Restauration der wilhelminischen Monarchie mit entsprechenden Werteprinzipien, Ritualen und Symbolformen des absoluten Obrigkeitsgehorsams, des Korpsgeistes des Volkes und des faschistischen Vaterlands als Reichsidee.

      – Die Nachkriegsgesellschaft des Zweiten Weltkrieges von 1949 bis 1968 war ebenfalls kein wirklicher Neuanfang, sondern eine Tradierung deutscher Grundverhältnisse – auch hier wieder nur mit anderen Mitteln, diesmal mit einem demokratischen Modell. Auch hier herrschte aufgrund von allgegenwärtiger Personenkontinuität vor allem in den Politik-, Bildungs- und Wirtschaftsschichten immer noch ein starkes Gehorsamsprinzip, ein Lobbyismus der Amtshörigkeit, ein deutsches Nationalbewusstsein

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