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Der ferne Glockenton eines unter Bäumen versteckten Dorfkirchleins rührt die Phantasie; dieser gedämpft über das Wasser herdringende Klang nimmt die Farbe süßer Schwermut und Entsagung an und scheint dem Menschen zuzuflüstern: Das Leben flieht dahin. Sei darum nicht allzu wählerisch im Glück, das sich dir darbietet! Eile, es zu genießen!‹

      Die Sprache dieser entzückenden Landschaft, die ihresgleichen nirgends auf Erden hat, machte das Herz der Gräfin wieder jung wie damals, als sie sechzehn Jahre zählte. Sie begriff nicht, wie sie so lange Zeit hatte verbringen können, ohne den See wiederzusehen. ›Hat sich also mein Glück auf die Schwelle des Alters geflüchtet?‹ fragte sie sich. Sie kaufte eine Barke, die sie mit Fabrizzio und der Marchesa eigenhändig ausschmückte, denn trotz aller fürstlichen Herrlichkeit hatte man für nichts Geld. Seit der Marchese del Dongo in Ungnade gefallen war, hatte er seinen aristokratischen Aufwand verdoppelt. Zum Beispiel hatte er, um dem See zehn Schritt Land abzugewinnen, an der berühmten Platanenallee nach Cadenabbia einen Damm aufwerfen lassen, der achtzigtausend Lire kostete. Am Ende dieses Dammes erhob sich, nach Plänen des berühmten Marchese Cagnola, eine Kapelle aus Granitquadern, in der ihm Marchesi, der Modebildhauer von Mailand, ein Grabmal erbaute, dessen zahlreiche Reliefs die Taten seiner Vorfahren rühmten.

      Fabrizzios älterer Bruder, der Marchesino Ascanio, zeigte Lust, an den Ausflügen der Damen teilzunehmen; aber seine Tante goß ihm Wasser über sein gepudertes Haar und hatte täglich eine neue kleine Neckerei, um ihn aus seiner Schwerfälligkeit herauszubringen. Endlich befreite er die lustige Schar, die in seiner Gegenwart nicht zu lachen wagte, vom Anblick seines dicken, bleichen Gesichts. Man hielt ihn für den Spion seines Vaters, des Marchese, und man mußte sich vor diesem, der seit seiner unfreiwilligen Verabschiedung ein strenger und allzeit wütiger Despot geworden war, in acht nehmen.

      Ascanio schwur dem Fabrizzio Rache.

      Bei einem Unwetter geriet man in Gefahr; obgleich das Geld äußerst knapp war, belohnte man die beiden Ruderknechte reichlich, damit sie vor dem Marchese ihren Mund hielten, der schon genug murrte, daß man ihm immer seine beiden Töchter entführe. Sie wurden ein zweites Mal vom Sturm überfallen. Unwetter sind auf diesem schönen See von furchtbarer Plötzlichkeit; ganz jäh brechen Windstöße aus zwei entgegengesetzten Gebirgsschluchten hervor und kämpfen über den Fluten.

      Die Gräfin wollte landen, während der Sturm tobte und der Donner krachte. Sie behauptete, von einem einsamen Felsen in der Seemitte, der kaum die Größe eines Zimmers hatte, genösse man ein einzigartiges Schauspiel; man sähe sich ringsum von wilden Wogen umbraust. Aber beim Herausspringen aus der Barke fiel sie ins Wasser. Fabrizzio sprang ihr sofort nach, um sie zu retten, doch wurden beide ziemlich weit weggetrieben. Zweifellos ist es kein Vergnügen, beinahe zu ertrinken, aber es bannte die Langeweile ganz erstaunlich aus der Ritterburg.

      Die Gräfin hatte sich für das altfränkische Wesen und für die Astrologie des Abbaten Blanio begeistert. Das wenige Geld, das ihr nach Ankauf der Barke verblieben war, hatte sie dazu verwendet, ein kleines Spiegelfernrohr zu kaufen, und fast allabendlich stellte sie es mit Fabrizzio und ihren Nichten auf der Plattform eines der gotischen Schloßtürme auf. Fabrizzio mußte den Gelehrten spielen, und man verlebte da droben, fern von Spionen, manche höchst heitere Stunde.

      Es muß zugegeben werden, daß es Tage gab, da die Gräfin mit keinem Menschen ein Wort sprach. Dann sah man sie unter den hohen Kastanien hinwandeln, in düstere Träumereien versunken. Ihr Geist war zu rege, als daß sie nicht bisweilen den Mangel an Gedankenaustausch empfunden hätte. Aber anderntags lachte sie wieder wie sonst. Besonders waren es die Klagen ihrer Schwägerin, der Marchesa, die ihre von Natur so tatenlustige Seele schwermütig machten.

      »Sollen wir denn den Rest unserer Jugend in diesem traurigen Schloß verbringen?« jammerte die Marchesa. Vor der Ankunft der Gräfin hatte sie nicht einmal den Mut zu solchen Klagen gehabt.

      So verlebte man den Winter von 1814 auf 1815. Zweimal ging die Gräfin ungeachtet ihrer Armut auf ein paar Tage nach Mailand. Der Zweck war, ein köstliches Ballett von Viganò zu sehen, das in der Scala gegeben wurde, und der Marchese hatte nichts dagegen, wenn seine Frau ihre Schwägerin begleitete. Sie hob den Vierteljahrsbetrag der kleinen Pension ab, und so war es die arme Witwe des zisalpinischen Generals, die der steinreichen Marchesa del Dongo ein paar Zechinen borgte. Diese kleinen Reisen waren entzückend. Die Damen luden sich alte Freunde zum Mittagsmahl ein und trösteten sich wie Kinder, indem sie über alles lachten. Diese italienische Heiterkeit, voller Leidenschaft und Laune, ließ sie die düstere Trübsal vergessen, die ihnen in Grianta die Blicke des Marchese und seines ältesten Sohnes bereiteten. Der kaum sechzehnjährige Fabrizzio spielte seine Rolle als Familienhaupt vorzüglich.

      Am 7. März 1815 waren die Damen gerade den zweiten Tag von solch einem herrlichen kleinen Ausflug nach Mailand zurück. Sie lustwandelten in der schönen Platanenallee, die neuerdings bis unmittelbar an das Seegestade verlängert worden war. Eine Barke tauchte aus der Richtung von Como auf und machte sonderbare Zeichen. Ein Agent des Marchese sprang auf den Damm: Napoleon sei im Golf von Juan gelandet. Europa in seiner Gutmütigkeit war ob dieses Ereignisses überrascht, der Marchese del Dongo ganz und gar nicht. Er schrieb an seinen kaiserlichen Gebieter einen überschwenglichen Brief, bot ihm seine Talente und mehrere Millionen an und wiederholte ihm, seine Minister seien Jakobiner und stäken unter einer Decke mit den Pariser Rädelsführern.

      Am 8. März, um sechs Uhr früh, ließ sich der Marchese, seine Orden auf der Brust, von seinem ältesten Sohne den Entwurf einer dritten politischen Depesche diktieren und brachte sie würdevoll in seiner wohlgepflegten Handschrift ins reine. Das Papier trug als Wasserzeichen das Bildnis des Kaisers. Zur selben Stunde ließ sich Fabrizzio bei der Gräfin Pietranera melden.

      »Ich gehe fort,« sagte er zu ihr, »ich will zum Kaiser, der auch König von Italien ist. Er hat deinem Gatten so viel Gutes erwiesen. Ich reise durch die Schweiz. Mein Freund Vasi, der Barometerhändler in Menaggio, hat mir seinen Paß gegeben. Gib mir jetzt ein paar Napoleons, denn ich besitze nur zwei. Aber wenn es sein muß, gehe ich auch zu Fuß!«

      Die Gräfin weinte vor Freude und Schrecken. »Mein Gott,« rief sie aus und faßte ihn bei den Händen, »warum mußtest du auf diesen Einfall kommen?«

      Sie stand auf und holte eine kleine, perlenbestickte Börse aus dem Wäschespind, wo sie sorglich versteckt lag; sie enthielt alles, was sie auf der Welt besaß.

      »Nimm das!« sagte sie zu Fabrizzio. »Aber, um Gottes willen, laß dich nicht töten! Was bliebe uns dann noch, deiner unglücklichen Mutter und mir, wenn du nicht wiederkämst? An Napoleons Erfolg kann ich nicht glauben, mein armer Junge; die Unseren werden ihn bald unterkriegen. Hast du nicht vor acht Tagen in Mailand die Geschichte von den dreiundzwanzig ausgeklügelten Mordanschlägen gehört, denen er nur durch ein Wunder entgangen ist? Und damals war er allmächtig! Auch hast du gesehen, daß es unseren Feinden nicht am Willen fehlt, ihn zu verderben. Frankreich war nichts mehr seit seiner Abdankung.«

      Und im Ton der lebhaftesten Erregung sprach die Gräfin vom künftigen Schicksal Napoleons. »Wenn ich dir erlaube, zu ihm zu gehen,« sagte sie, »bringe ich ihm mein Liebstes auf der Welt zum Opfer.« Fabrizzios Augen wurden feucht. Er umarmte die Gräfin unter Tränen, aber sein Entschluß wurde nicht einen Augenblick erschüttert. Das Herz ging ihm über, als er seiner teueren Freundin die Gründe auseinandersetzte, die ihn dazu bestimmten und die recht töricht zu finden wir uns erlauben.

      »Gestern abend, es war sieben Minuten vor sechs, gingen wir, wie du weißt, in der Platanenallee unterhalb der Villa Sommariva am See spazieren. Wir wanderten südwärts. Da gewahrte ich als erster in der Ferne das Boot, das von Como kam und uns eine so bedeutsame Kunde brachte. Gar nicht an den Kaiser denkend, war ich beim Anblick des Schiffes nur neidisch auf alle, denen das Schicksal zu reisen erlaubt, und ganz plötzlich ergriff mich eine tiefe Bewegung. Das Schiff legte an. Der Bote sprach leise mit meinem Vater. Der wurde blaß und nahm uns beiseite, um uns die ›schreckliche Nachricht‹ mitzuteilen. Ich schaute nach dem See hinaus, ohne andere Absicht, als meine Freude zu verbergen, von der mir die Augen überliefen. Plötzlich, in unendlicher Höhe, rechter Hand von mir, sah ich einen Adler, den Vogel Napoleons; er flog majestätisch dahin, in der Richtung nach der Schweiz, also auf Paris zu. Auch ich, sagte ich mir sofort, will die Schweiz mit Adlerschnelle durcheilen und hingehen und dem großen Mann alles darbieten, was

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