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      DADAISMUS UND MARCEL DUCHAMP (1916ff.)

      Der Dadaismus, dieser kulturelle Nihilismus, diese provokante Antibewegung gegen alle Versionen einer sich als »ewiges« Kulturgut beweihräuchernden Literatur und bildenden Kunst, dieser Abgesang auf jeden Fortschrittsoptimismus der modernen Gesellschaft ist nur aus der Tatsache heraus zu verstehen, dass er 1916, also mitten im großen Krieg, entstand, und zwar in der neutralen Schweiz, in Zürich, dann wie ein Lauffeuer 1918 aufs besiegte Deutschland übergriff und sich schließlich ins Frankreich der Jahre 1919/20 ausbreitete, als der wie ein Messias erwartete Literat und maßgebliche Wortführer der Bewegung, der Rumäne Tristan Tzara, dorthin übersiedelte.

      Die Dadaisten waren die ersten Künstler des 20. Jahrhunderts, die bewusst Anti-Kunst betreiben wollten. In diesem Sinne hatten sich etliche Emigranten 1916 im »Cabaret Voltaire« in Zürich zusammengefunden. Dada war die anarchistische Empörung über das Völkermorden des Ersten Weltkriegs sowie über jene »Zivilisation, die das hervorgebracht hatte« (Max Ernst). Der Dadaismus hielt es mit dem Absurden, der Verfremdung, er veranstaltete chaotische und das Spießbürgertum schockierende Happenings, verwendete Flugblätter, Plakate und Reklamezettel, vor allem auch das Medium der Collage und der Fotomontage.

      In Berlin trat Dada ab 1918 in Erscheinung, und zwar politisch aggressiver als anderswo, man denke an George Grosz und John Heartfield. In Hannover erhielt er durch Kurt Schwitters ein ganz eigenes Gesicht. Keiner aber hat die Skepsis gegenüber der herkömmlichen Kunst so weit getrieben (nicht zu vergessen ist freilich Francis Picabia) wie der Franzose Marcel Duchamp, der Begründer der Objektkunst, der »Readymades«: das Fahrrad-Rad, das er 1913 auf einen Hocker montierte, der Flaschentrockner von 1914, die Fontäne – ein Pissoirbecken, das er 1917 für eine Ausstellung einreichte, schockierten das Publikum. Mit Duchamp beginnt die Frage, die die Kunst ab jetzt nie mehr loslassen wird: Was ist denn eigentlich noch Kunst? Welche Aufgaben kann sie in der Neuzeit überhaupt noch wahrnehmen? Ist sie gar an ihrem Ende angelangt?

      PITTURA METAFISICA UND SURREALISMUS (1911ff.)

      Ab etwa 1911 entstanden die Bilder des Italieners Giorgio de Chirico, die unter dem Sammelbegriff »Pittura metafisica« bekannt wurden: Formal sind sie der Renaissance verpflichtet, inhaltlich jedoch jenen poetisch-beklemmenden Traumsituationen und rätselhaften irrealen Welten, die durch die Psychoanalyse erschlossen wurden und zum Surrealismus hinführten.

      1924 fand in aller Form die Gründung der surrealistischen Gruppe in Paris statt, womit eine Übergangszeit von drei, vier Jahren, von Louis Aragon als »Mouvement flou« eingestuft, ihren Fokus fand. Einen Namen für die Bewegung hatte man ja schon, seit Guillaume Apollinaire 1917 revolutionären dichterischen Tendenzen statt des philosophisch vorbelasteten »Surnaturalismus« die Bezeichnung »Surrealismus« verlieh.

      In eben jenem Jahr 1924 wurde das erste Manifest des Surrealismus veröffentlicht, in dem Sigmund Freuds Theorien vom Unbewussten, die Rolle sexueller Fantasien, alle potentiell kreativen Triebkräfte als Mittel und Ziel der Kunst proklamiert wurden. Der Surrealismus, der mit dem spanischen Filmregisseur Luis Buñuel und mit Malern wie Salvador Dalí, Max Ernst, Joan Miró, René Magritte, Yves Tanguy und vielen anderen wahre Kultfiguren des 20. Jahrhunderts hervorbrachte, ist der, was weltweite Verbreitung und Lebensdauer betrifft, sicherlich erfolgreichste Stil der Moderne geworden.

      Zwar entstand er in Paris aus dem Zusammenschluss von nur zehn Leuten, indes blieb er nicht auf eine Pariser Clique oder auf Frankreich beschränkt, sondern wuchs unaufhörlich und gewann bald in England, Belgien, Spanien, der Schweiz, Deutschland, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, in Afrika, Asien (Japan), Amerika (Mexiko, Brasilien, USA) zahlreiche Anhänger. Im Januar und Februar 1938 nahmen schon Künstler aus vierzehn Ländern an der internationalen Surrealisten-Ausstellung in Paris teil. Keine Künstlergruppe zuvor war derart international.

      Der Surrealismus schob in radikalster Weise die ästhetischen Grenzen von Literatur, Malerei, Bildhauerei, Film und Fotografie in Neuland vor. Unter der Prämisse, alles könne zum legitimen Stoff des kreativen Schaffensprozesses werden, verwandelte sich – in einer an die Romantik, insbesondere an die deutsche Romantik um 1800 erinnernden Konsequenz – das Banale ins Wunderbare, das Harmlose ins Fantastische.

      Nicht umsonst wurde ein Stück Literatur, wurden die alles Gewohnte schockierend infrage stellenden »Gesänge des Maldoror« zum Leitfaden, den der Surrealismus nie aus der Hand gab, auch nicht, als man andere Ideale wie den Maler Giorgio de Chirico rücksichtslos aufgab. Der besagte Text stammt von Isidore Ducasse, der, unter dem Pseudonym »Comte de Lautréamont« erst fünfzig Jahre nach seinem frühen Tod (1846–1870) berühmt wurde, nämlich als André Breton die »Gesänge« 1919 im »Journal Littérature« publizierte. Die meistzitierte Passage daraus ist der Vergleich der Schönheit eines Knaben mit der »unvermutete[n] Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«.

      ZWISCHEN REALISMUS UND ABSTRAKTION (20ER-JAHRE–50ER/60ER-JAHRE)

      Formal waren in den 20er-Jahren im Kern alle Darstellungsmöglichkeiten bereitgestellt, die die Kunst in den nächsten Jahrzehnten bestimmen sollten: das gesamte Spektrum zwischen figurativer und ungegenständlicher Malerei beziehungsweise Plastik. An die figurative Komponente hielt sich der Verismus zwischen den beiden Weltkriegen und die seit 1923 so titulierte »Neue Sachlichkeit« (auch »Magischer Realismus« genannt).

      Parallel zum Beginn des Surrealismus stagnierten die progressiven, mittlerweile jedoch schon zum »Mainstream« gewordenen »Ismen« der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Italien, Frankreich, Russland, Deutschland. Die bis dahin fast unumschränkt gültige Überzeugung, dass die Moderne in der Malerei identisch sei mit der radikalen Abstraktion, war gegen Ende des zweiten Jahrzehnts ins Wanken gekommen. Es ist bezeichnend für die Kehrtwende um 1920, dass der französische Dichter Jean Cocteau zum »rappel à l’ordre« in der Kunst aufrief und sagte, es sei wichtig Stil zu haben, nicht einen Stil, und dass er zudem den Künstler aufforderte, sich intensiver mit den Traditionen auseinanderzusetzen – umso kühner würde er dann neuen Boden erobern.

      Kaum hatte Dada in Zürich, dann in Köln, Berlin, Barcelona, Paris und anderswo den alten Kunstbegriff zersetzt, kam, ganz im Sinne Cocteaus, der Gegenschlag. Giorgio de Chirico und Picasso stiegen zu dessen Leitbildern auf. Sie wandten sich wieder der unversehrten menschlichen Gestalt zu und schlossen sich den Traditionen an, als habe es weder Kubismus noch Kandinsky noch Dada gegeben. Picasso malte Bildnisse von klassischer Schönheit und, 1921 bis 1923, antikisch-wuchtige Frauenfiguren.

      Neben der Hinwendung Picassos zum Neoklassizismus ist der neue internationale Realismus der zwanziger Jahre zu verzeichnen. Nicht zu vergessen, dass Picasso die Kunstszene auch dadurch noch herausforderte, dass er mit der Rückkehr zur Gegenständlichkeit die gängige Vorstellung von einer linearen geschichtlichen Entwicklung unterbrach. Gegenständliche Kunst und abstrakte Kunst wurden von ihm als wahlweises Spiel mit Möglichkeiten einer düpierten Öffentlichkeit vor Augen geführt.

      Bei politischer Ausrichtung konnte sich die Orientierung am Gegenständlichen in einen sozialen Realismus verwandeln – etwa bei den drei großen mexikanischen Freskenmalern Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros. Auch die »American Scene« huldigte vielfach der figurativen Kunst, wofür Namen wie Grant Wood oder Edward Hopper stehen können.

      Im Sozialistischen Realismus der Sowjetunion und im peinlich altmeisterlichen »Blut-und-Boden«-Realismus der Nazizeit (wogegen das Italien Mussolinis den »modernen« Futurismus instrumentalisierte) erlebte das Figurative freilich seine katastrophale Perversion. Mit dem Ende des 2. Weltkriegs brach dann die große Zeit der abstrakt-expressiven Malerei an, die sich in Vielem auf Kandinsky zur Zeit des »Blauen Reiter« berufen konnte. Zentrum des Geschehens war zunächst Paris, eine Spielart war die 1948 gegründete Gruppe »Cobra«, eng verwandt war der um 1950 konstituierte »Tachismus« und das etwa gleichzeitig postulierte »Informel«. Die amerikanische Variante des »Tachismus« ist die »Actionpainting«, die 1947 Jackson Pollock in den USA kreierte. Auf die Farbstürme und vehementen

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