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wie früher so oft, von tiefen und seltsamen Dingen sprechen, die über dem Schicksal des gemeinen Tages sind. Und abends werden sie auf dem Balkon sitzen wie früher, den dunklen Himmel über sich, der so still und groß ist; werden da zusammen plaudern bis in die späte Nachtstunde, wie sie es ja auch früher so oft getan, wenn sie, die in ihrem frischen und hastigen Wesen an ernsteren Gesprächen wenig Gefallen fand, ihnen schon längst lächelnd gute Nacht gesagt hatte, um auf ihr Zimmer zu gehn. Wie oft haben ihn diese Gespräche über die Sorgen und Kleinlichkeiten der Alltäglichkeit emporgehoben; – jetzt aber werden sie mehr, jetzt werden sie Wohltat, Rettung für ihn sein.

      Immer noch geht Richard im Zimmer hin und her, bis ihn endlich der gleichmäßige Ton seiner eigenen Schritte zu stören anfängt. Da setzt er sich vor den kleinen Schreibtisch, auf dem die blaue Kerze steht, und betrachtet mit einer Art von Neugier die hübschen und zierlichen Dinge, die vor ihm liegen. Er hat sie doch eigentlich nie recht bemerkt, hat immer nur das Ganze gesehen. Die elfenbeinernen Federstiele, das schmale Papiermesser, das schlanke Petschaft mit dem Onyxgriff, die kleinen Schlüsselchen, welche eine Goldschnur zusammenhält; er nimmt sie nacheinander in die Hand, wendet sie hin und her und legt sie wieder sachte auf ihren Platz, als wären es wertvolle und gebrechliche Dinge. Dann öffnet er die mittlere Schreibtischlade und sieht da im offenen Karton das mattgraue Briefpapier liegen, auf dem sie zu schreiben pflegte, die kleinen Kuverts mit ihrem Monogramm, die schmalen, langen Visitenkarten mit ihrem Namen. Dann greift er mechanisch an die kleine Seitenlade, die versperrt ist. Er merkt es anfangs gar nicht, zieht nur immer wieder, ohne zu denken. Allmählich aber wird das gedankenlose Rütteln ihm bewußt, und er müht sich und will endlich öffnen und nimmt die kleinen Schlüssel zur Hand, die auf dem Schreibtisch liegen. Gleich der erste, den er versucht, paßt auch; die Lade ist offen. Und nun sieht er, von blauen Bändern sorgfältig zusammengehalten, die Briefe liegen, die er selbst an sie geschrieben. Gleich den, der oben liegt, erkennt er wieder. Es ist sein erster Brief an sie, noch aus der Zeit der Brautschaft. Und wie er die zärtliche Aufschrift liest, Worte, die wieder ein trügerisches Leben in das verödete Gemach zaubern, da atmet er schwer auf und spricht dann leise vor sich hin, immer wieder dasselbe: ein wirres, entsetzliches: Nein … nein … nein…

      Und er löst das Seidenband und läßt die Briefe zwischen den Fingern gleiten. Abgerissene Worte fliegen vor ihm vorüber, kaum hat er den Mut, einen der Briefe ganz zu lesen. Nur den letzten, der ein paar kurze Sätze enthält – daß er erst spät abends aus der Stadt herauskommen werde – daß er sich unsäglich freue, das liebe, süße Gesicht wiederzusehen –, den liest er sorgsam, Silbe für Silbe – und wundert sich sehr; denn ihm ist, als hätte er diese zärtlichen Worte vor vielen Jahren geschrieben – nicht vor einer Woche, und es ist doch nicht länger her.

      Er zieht die Lade weiter heraus, zu sehen, ob er noch was fände.

      Noch einige Päckchen liegen da, alle mit blauen Seidenbändern umwunden, und unwillkürlich lächelt er traurig. Da sind Briefe von ihrer Schwester, die in Paris lebt – er hat sie immer gleich mit ihr lesen müssen; da sind auch Briefe ihrer Mutter mit dieser eigentümlich männlichen Schrift, über die er sich stets gewundert hat. Auch Briefe mit Schriftzügen liegen da, die er nicht gleich erkennt; er löst das Seidenband und sieht nach der Unterschrift – sie kommen von einer ihrer Freundinnen, einer, die heute auch dagewesen ist, sehr blaß, sehr verweint. – Und ganz hinten liegt noch ein Päckchen, das er herausnimmt wie die anderen und betrachtet. – Was für eine Schrift? Eine unbekannte. – Nein, keine unbekannte … Es ist Hugos Schrift. Und das erste Wort, das Richard liest, noch bevor das blaue Seidenband herabgerissen ist, macht ihn für einen Augenblick erstarren … Mit großen Augen schaut er um sich, ob denn im Zimmer noch alles ist, wie es gewesen, und schaut dann auf die Decke hinauf, und dann wieder auf die Briefe, die stumm vor ihm liegen und ihm doch in der nächsten Minute alles sagen sollen, was das erste Wort ahnen ließ … Er will das Band entfernen – es ist ihm, als wehrte es sich, die Hände zittern ihm, und er reißt es endlich gewaltsam auseinander. Dann steht er auf. Er nimmt das Päckchen in beide Hände und geht zum Klavier hin, auf dessen glänzend schwarzen Deckel das Licht von den sieben Kerzen des Armleuchters fällt. Und mit beiden Händen auf das Klavier gestützt, liest er sie, die vielen kurzen Briefe mit der kleinen verschnörkelten Schrift, einen nach dem anderen, nach jedem begierig, als wenn er der erste wäre. Und alle liest er sie, bis zum letzten, der aus jenem Orte an der Nordsee gekommen ist – vor ein paar Tagen. Er wirft ihn zu den übrigen und wühlt unter ihnen allen, als suche er noch etwas, als könne irgendwas zwischen diesen Blättern aufflattern, das er noch nicht entdeckt, irgend etwas, das den Inhalt aller dieser Briefe zunichte machen und die Wahrheit, die ihm plötzlich geworden, zum Irrtume wandeln könnte … Und wie endlich seine Hände innehalten, ist ihm, als wäre es nach einem ungeheueren Lärm mit einem Male ganz still geworden … Noch hat er die Erinnerung aller jener Geräusche: wie die zierlichen Gerätschaften auf dem Schreibtisch klangen … wie die Lade knarrte … wie das Schloß klappte … wie das Papier knitterte und rauschte … den Ton seiner hastigen Schritte … sein rasches, stöhnendes Atmen – nun aber ist kein Laut mehr im Gemach. Und er staunt nur, wie er das mit einem Schlage so völlig begreift, obwohl er doch nie daran gedacht. Er möchte es lieber so wenig verstehen wie den Tod; er sehnt sich nach dem bebenden heißen Schmerz, wie ihn das Unfaßliche bringt, und hat doch nur die Empfindung einer unsäglichen Klarheit, die in all seine Sinne zu strömen scheint, so daß er die Dinge im Zimmer mit schärferen Linien sieht als früher und die tiefe Stille zu hören meint, die um ihn ist. Und langsam geht er zum Diwan hin, setzt sich nieder und sinnt …

      Was ist denn geschehen?

      Es hat sich wieder einmal zugetragen, was alle Tage geschieht, und er ist einer von denen gewesen, über die manche lachen. Und er wird ja auch gewiß – morgen oder in wenigen Stunden schon – wird er all das Furchtbare empfinden, das jeder Mensch in solchen Fällen empfinden muß … er ahnt es ja, wie sie über ihn kommen wird, die namenlose Wut, daß dieses Weib zu früh für seine Rache gestorben; und wenn der andere wiederkehrt, so wird er ihn mit diesen Händen niederschlagen wie einen Hund. Ah, wie sehnt er sich nach diesen wilden und ehrlichen Gefühlen – und wie wohler wird ihm dann sein als jetzt, da die Gedanken sich stumpf und schwer durch seine Seele schleppen …

      Jetzt weiß er nur, daß er plötzlich alles verloren hat, daß er sein Leben ganz von vorne beginnen muß wie ein Kind; denn er kann ja von seinen Erinnerungen keine mehr brauchen. Er müßte jeder erst die Maske herunterreißen, mit der sie ihn genarrt. Denn er hat nichts gesehen, gar nichts, hat geglaubt und vertraut, und der beste Freund, wie in der Komödie, hat ihn betrogen … Wäre es nur der, gerade der nicht gewesen! Er weiß es ja und hat es ja selbst erfahren, daß es Wallungen des Blutes gibt, die ihre Wellen kaum bis in die Seele treiben, und es ist ihm, als wenn er der Toten alles verzeihen könnte, was sie wieder rasch vergessen hätte, irgendwen, den er nicht gekannt, irgendeinen, der ihm wenigstens nichts bedeutet hätte – nur diesen nicht, den er so lieb gehabt wie keinen anderen Menschen und mit dem ihn ja mehr verbindet, als ihn je mit seinem eigenen Weib verbunden, die ihm niemals auf den dunkleren Pfaden seines Geistes gefolgt ist; die ihm Lust und Behagen, aber nie die tiefe Freude des Verstehens gegeben. Und hat er es denn nicht immer gewußt, daß die Frauen leere und verlogene Geschöpfe sind, und ist es ihm denn nie in den Sinn gekommen, daß sein Weib ein Weib ist, wie alle anderen, leer, verlogen und mit der Lust, zu verführen? Und hat er denn nie gedacht, daß sein Freund den Weibern gegenüber, so hoch er sonst gestanden sein mag, ein Mann ist wie andere Männer und dem Rausch eines Augenblicks erliegen konnte? Und verraten es nicht manche scheuen Worte dieser glühenden und zitternden Briefe, daß er anfangs mit sich gekämpft, daß er versucht hat, sich loszureißen, daß er endlich dieses Weib angebetet und daß er gelitten hat? … Unheimlich ist es ihm beinahe, wie ihm alles das so klar wird, als stünde ein Fremder da, ihm’s zu erzählen. Und er kann nicht rasen, so sehr er sich danach sehnt; er versteht es einfach, wie er es eben immer bei anderen verstanden hat. Und wie er nun daran denkt, daß seine Frau da draußen liegt, auf dem stillen Friedhof, da weiß er auch, daß er sie nie wird hassen können und daß aller kindische Zorn, selbst wenn er noch über die weißen Mauern hinflattern könnte, doch auf dem Grabe selbst mit lahmen Flügeln hinsinken würde. Und er erkennt, wie manches Wort, das sich kümmerlich als Phrase fristet, in einem grellen Augenblicke seine ewige Wahrheit zu erkennen gibt, denn plötzlich geht ihm der tiefe Sinn eines Wortes

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