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ver­mocht, ihre fran­zis­ka­ni­sche As­ke­se und ihre un­be­grenz­te ich­lo­se Hilfs­be­reit­schaft zu miss­deu­ten, auch wenn sie die kühns­ten Pa­ra­do­xen über die ge­fähr­lichs­ten Din­ge von sich gab. Aber was war von ei­ner Toch­ter zu er­war­ten, die ne­ben sol­chen müt­ter­li­chen Grund­sät­zen auf­wuchs?

      Eine an­de­re jun­ge See­le wäre viel­leicht an dem ste­ten An­prall der auf sie ein­drin­gen­den Wi­der­wär­tig­kei­ten zer­bro­chen, oder sie hät­te durch die ihr zu­ge­schrie­be­ne Wich­tig­keit völ­lig aus dem Gleich­ge­wicht ge­ris­sen wer­den kön­nen. Mir kam aber zu­gu­te, dass ich mei­ne ers­te Ju­gend in ei­ner Art Halb­traum leb­te, der ganz von glän­zen­den Ge­sich­ten er­füllt war und mir die le­ben­di­ge Um­welt we­ni­ger fühl­bar mach­te. In mei­nem In­ne­ren be­fand sich ein un­sicht­ba­res Turm­zim­mer, wo­hin ich mich zu­rück­zie­hen konn­te. Dort war­te­ten die Wun­der­ge­stal­ten aus My­the und Dich­tung, mit de­nen ich mei­ne Kind­heit ver­lebt hat­te und die mir im­mer na­heblie­ben. An ih­nen ge­mes­sen ver­schwan­den mei­ne Wi­der­sa­cher vom Erd­bo­den. Mach­ten sie mir’s zu schlimm, so er­stieg ich mei­nen Turm, zog die Fall­brücke auf und weih­te sie alle dem Nicht­vor­han­den­sein, dass ich so­gar mit der Zeit ihre Na­men ver­gaß. Dor­thin kam auch der un­sicht­ba­re Hel­fer, des­sen Stim­me seit den Kin­der­ta­gen mit mir ging und den ich zeit­le­bens mei­nen »An­dern« nann­te. Ihm konn­te ich mein Leid kla­gen in der ein­zi­gen Spra­che, die er zur Zeit ver­stand, der poe­ti­schen, denn das ufer­lo­se Wal­len des In­ne­ren war noch zu un­ge­formt, um sich ir­gend in Pro­sa nie­der­zu­schla­gen. Wenn mir jetzt ge­le­gent­lich ein von mir ge­schrie­be­ner Brief aus mei­ner Früh­zeit in die Hän­de fällt, so stau­ne ich über sei­ne voll­kom­me­ne Lee­re. Das Kind, in dem so viel vor­ging, war so in sich selbst zu­rück­ge­schreckt, dass es nicht den kleins­ten Teil sei­nes In­nern preis­gab; ich hät­te gar nicht ge­wusst, wie man es an­greift sein Ge­fühl zu äu­ßern.

      *

      Jetzt geht ein Zwi­schen­vor­hang hoch über eine lang ver­ges­se­ne und nie so ganz von mir ver­stan­de­ne Sze­ne, die mir selbst so recht den dun­kel ge­führ­ten Traum­wan­del mei­ner Ju­gend zeigt. Ich sehe mich an ei­nem kla­ren Win­ter­tag an dem ver­schnei­ten Grab mei­nes Va­ters ganz in Trä­nen zer­flos­sen ste­hen. Wa­rum wein­te ich so ver­zwei­felt? Et­was mich Er­schüt­tern­des war ge­sche­hen: ich war beim fröh­li­chen Eis­lauf an der Sei­te mei­nes Beglei­ters von ei­nem un­be­kann­ten jun­gen Stu­den­ten auf­ge­hal­ten wor­den, der mir den Ruf mei­ner Mut­ter über­brach­te, au­gen­blick­lich zu un­se­rem Freund Os­wald zu kom­men, der in sei­ner müt­ter­li­chen Woh­nung ster­bend lie­ge und mich noch zu se­hen ver­lan­ge, ich wür­de dort sie selbst zu­samt mei­nen Brü­dern tref­fen. Os­wald war ein jun­ger Haus­freund, Stu­dien­ge­nos­se Ed­gars, der nach dem Ab­gang un­se­res Ernst Mohl als ge­treu­er Eckart in des­sen Fuß­stap­fen ge­tre­ten war und mir durch fein­füh­li­ge Auf­merk­sam­kei­ten und Rück­sich­ten al­ler Art mei­ne Stel­lung zwi­schen Mut­ter und Brü­dern eben­so wie je­ner er­leich­ter­te, in­dem er Müt­ter­leins Auf­re­gun­gen be­ru­hig­te und Ed­gars Reiz­bar­keit ab­lenk­te. Geis­tig konn­te er den Ent­fern­ten nicht er­set­zen, aber die­ses be­merk­te ich kaum, weil er als jun­ger Arzt an Bal­des Kran­ken­bett bei der Pfle­ge un­schätz­ba­re Diens­te leis­te­te und auch sonst wie ein Sohn die Sor­gen des Hau­ses teil­te. Bei dem jä­hen Tode mei­nes Va­ters, dem er sich gleich­falls durch klei­ne Diens­te zu nä­hern ge­wusst hat­te, war er es, der die vie­ler­lei mit ei­nem Ster­be­fall zu­sam­men­hän­gen­den Be­sor­gun­gen über­nahm und da­durch die Hin­ter­blie­be­nen ent­las­te­te. Mei­ner Trau­er trug er auf die zar­tes­te Wei­se Rech­nung, und im fol­gen­den Win­ter, als Ed­gar sich zur Fort­set­zung sei­ner Stu­di­en nach Wien be­gab, rück­te er ganz an des­sen Stel­le ein. Sei­ne Ge­gen­wart gab die in­ne­re Be­ru­hi­gung, nach der ich am meis­ten bang­te. Dass sein Kom­men und Ge­hen mir vor al­lem galt, fühl­te ich wohl dun­kel, aber ich hielt mir den Ge­dan­ken fern, denn ich wuss­te nicht, dass er sich mei­ner Mut­ter ge­gen­über längst über sei­ne Hoff­nun­gen und Le­ben­splä­ne aus­ge­spro­chen hat­te. Er war seit ein paar Ta­gen nicht bei uns ge­we­sen, ich hat­te aber nichts von sei­ner Er­kran­kung ge­wusst. Jetzt ent­hüll­te mir die Schre­ckens­bot­schaft mit ei­nem jä­hen Blitz­licht al­les was ich ahn­te und nicht wis­sen woll­te. Ich ließ mir wie im Traum von den bei­den Her­ren die Schlitt­schu­he aus­zie­hen und eil­te, von dem Un­glücks­bo­ten be­glei­tet, nach der mir un­be­kann­ten Woh­nung. Es war eine Wun­der­lich­keit von mir, nicht wis­sen zu wol­len, wo un­se­re jun­gen Freun­de wohn­ten; ich stell­te sie mir lie­ber aus dem Un­be­kann­ten kom­mend und ins Un­be­kann­te ge­hend vor, wahr­schein­lich weil mei­ne Ein­bil­dungs­kraft vor der Enge phi­liströ­ser Um­ge­bung zu­rück­floh. Dort kam mir Mama mit Al­fred ent­ge­gen und gab mir Auf­klä­rung und Wei­sung. Ich wur­de in das Kran­ken­zim­mer ge­führt und fuhr vor dem An­blick, der sich mir bot, in­ner­lich zu­rück: da lag ein klei­nes, gel­bes, spit­zi­ges Ge­sicht in den Kis­sen, wor­ein die Krank­heit selt­sa­me Züge ge­gra­ben hat­te, Züge, die auch sonst schon lei­se sicht­bar ge­we­sen, aber wie­der zu­rück­ge­tre­ten wa­ren; eine mich tief be­frem­den­de Schrift. Sie schi­en je­nen Stim­men recht zu ge­ben, die mir ab­fäl­li­ge Ur­tei­le über ihn zu­ge­tra­gen hat­ten, wo­nach ich nicht frag­te; ich wuss­te ja, was die vox po­pu­li wert ist: ge­gen mich und die Mei­ni­gen war sein Ver­hal­ten im­mer ta­del­los ge­we­sen. Tie­fe Ent­täu­schung fuhr mir ins Herz statt der Trau­er um den dro­hen­den Ver­lust; es schi­en mir, als wäre al­les un­echt und von mir sel­ber auf­ge­re­det ge­we­sen, was ich für ihn emp­fun­den hat­te, und echt nur die­se wei­he­lo­se Ver­än­de­rung. Es fiel mir jetzt erst auf, dass wir kei­ner­lei geis­ti­ge Be­lan­ge, kei­ne Idea­le ge­mein­sam hat­ten, dass wir nicht ein­mal ein Buch hät­ten zu­sam­men le­sen kön­nen, dass ihn nur Äu­ße­res zu mir ge­zo­gen hat­te und mich zu ihm die Dank­bar­keit. – Er hielt mei­ne Hand, sag­te ein paar Wor­te, die wie Dank und Ab­schied klan­gen. Der Mah­nung mei­ner Mut­ter ge­hor­sam, beug­te ich mich her­ab und be­rühr­te mit ei­nem Hauch die feuch­te Stirn des Kran­ken; mehr ver­moch­te ich nicht und ver­ließ ei­lig das Zim­mer. Sei­ne Mut­ter folg­te mir bis zur Trep­pe und misch­te in ihre Kla­ge um den ster­ben­den Sohn die fast tra­gi­sche Lä­cher­lich­keit ih­rer Haus­frau­en­sor­ge, dass sie gar nicht wis­se, wo­hin den To­ten le­gen in der en­gen Woh­nung. Wie von Lar­ven ge­jagt eil­te ich hin­un­ter und wei­ter, im­mer wei­ter über die Neckar­brücke, die Wil­helm­stra­ße ent­lang bis zum Fried­hof. Dort wein­te ich fas­sungs­los: nicht über den ster­ben­den Freund – die­ser war schon fern, einen lan­gen Strom hin­un­ter­ge­schwom­men –, über mich selbst, mein Nicht­lie­ben­kön­nen, mei­ne ver­meint­li­che Ver­stockt­heit, und dass so­gar mein Sinn für das Ko­mi­sche in der spie­ßi­gen Rede der al­ten Frau hell­wach ge­blie­ben war. Ach, ich tat mir Un­recht wie so oft: es war auch dies­mal mein War­ne­geist, der mich vor ei­nem falschen Schritt be­wahr­te. Mein gu­tes, ro­man­ti­sches Müt­ter­lein hat­te ge­wiss ge­meint, den Ar­men durch eine Ver­lo­bung am Ster­be­bet­te in sei­nen letz­ten Stun­den noch glück­lich zu ma­chen. Was wäre dar­aus ge­wor­den ohne mein Dä­mo­ni­um, das sich mir nur durch die Sym­bo­lik des Äu­ße­ren ver­ständ­lich ma­chen konn­te?

      Der Kran­ke ge­nas. Ich be­such­te ihn noch ein­mal, als er schon im Lehn­stuhl saß, und plau­der­te freund­schaft­lich mit ihm, die Schlitt­schu­he in der Hand, de­ren lei­ses Klir­ren je­den Her­zen­ston aus­schloss. Er ver­stand

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