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Wilhelm Hauff: Märchen, Romane, Erzählungen & Gedichte. Wilhelm Hauff
Читать онлайн.Название Wilhelm Hauff: Märchen, Romane, Erzählungen & Gedichte
Год выпуска 0
isbn 9788027205844
Автор произведения Wilhelm Hauff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Ich stimme bei«, rief der Deutsche, »und mache Ihnen über Ihren glücklichen Gedanken mein Kompliment, Herr von Lasulot. – Eine Flasche Rheinwein, Kellner! – Wer soll beginnen, zu erzählen?«
»Ich denke, wir lassen dies das Los entscheiden«, antwortete Lord Fotherhill, »und ich wette fünf Pfund, der Marquis muß beginnen.«
»Angenommen, mein Herr«, sagte mit angenehmem Lächeln der Franzose; »machen Sie die Lose, Herr Baron, und lassen Sie uns ziehen, Nummer zwei soll beginnen.«
Baron Garnmacher stand auf und machte die Lose zurecht, ließ ziehen und die zweite Nummer fiel auf ihn selbst.
Ich sah den Franzosen dem Lord einen bedeutenden Wink zuwerfen, indem er das linke Auge zugedrückt, mit dem rechten auf den Deutschen hinüberdeutete; ich übersetzte mir diesen Wink so: »Geben Sie einmal acht, Mylord, was wohl unser ehrlicher Deutscher vorbringen mag. Denn wir beide sind schon durch den Rang unserer Nationen weit über ihn erhaben.«
Baron von Garnmacher schien aber den Wink nicht zu beachten; mit großer Selbstgefälligkeit trank er ein Glas seines Rheinweins, wischte in der Eile den Stutzbart mit dem Rockärmel ab und begann:
>Neunzehntes Kapitel
Geschichte des deutschen Stutzers
»Als mein Großvater, der kaiserlich-königlich –«
»Ich bitte Sie, mein Herr«, unterbrach ihn der Incroyable, »schenken Sie uns den Großpapa, und fangen Sie gleich bei Ihrem Vater an; was war er?«
»Nun ja, wenn es Ihnen so lieber ist, aber ich hätte mich gerne bei dem Glanz unserer Familie länger verweilt; mein Vater lebte in Dresden auf einem ziemlich großen Fuß –«
»Was war er denn, der Herr Papa? Sie verzeihen, wenn ich etwas zu neugierig erscheine, aber zu einer Geschichte gehört Genauigkeit.«
»Mein Vater«, fuhr der Stutzer etwas mißmutig fort, »war Kleiderfabrikant en gros –«
»Wie«, fragte der Lord, »was ist Kleiderfabrikant? Kann man in Deutschland Kleider in Fabriken machen?«
»Hol mich der Teufel, wie er schon getan!« rief der Stutzer unwillig, und stieß das Glas auf den Tisch; »das ist nicht die Art, wie man seine Biographie erzählen kann, wenn man alle Augenblicke von kritischen Untersuchungen unterbrochen wird; mein Vater hatte ein Haus am Alt-Markt, darin hatte er ein Atelier und hielt Arbeiter, welche Kleider für die Leute machten!«
»Mon dieu, also war es, was wir tailleur nennen? ein Schneider?«
»Nun in Gottes Namen! nennen Sie es, wie Sie wollen, kurz, er hatte die Welt gesehen, machte ein Haus, und wenn er auch nicht den Adel und die ersten Bürger in seinen Soirées sah, so war doch ein gewisser guter Ton, ein gewisser Anstand, ein gewisses, ich weiß nicht was, kurz es war ein ganz anständiger Mann, mein Papa.«
Mich selbst erfaßte der Lachkitzel, als ich den garçon tailleur so perorieren hörte, doch faßte ich mich, um den Marqueur nicht aus der Rolle fallen zu lassen. Der Marquis aber hatte sich zurückgelehnt und wollte sich ausschütten vor Lachen, der Engländer sah den Stutzer forschend an, unterdrückte ein Lächeln, das seiner Würde schaden konnte und trank Rum; der deutsche Baron aber fuhr fort:
»Sie hätten mich, meine Herren, auf der Oberwelt in Daumenschrauben pressen können und ich hätte meine Maske nicht vor Ihnen abgenommen. Hier ist es ein ganz anderes Ding; wer kümmert sich an diesem schlechten Ort um den ehemaligen Baron von Garnmacher? Darum verletzt mich auch Ihr Lachen nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht mir Vergnügen, Sie zu unterhalten!«
»Ah! ce noble trait!« rief der Incroyable und wischte sich die Tränen aus dem Auge, »reichen Sie mir die Hand, und lassen Sie uns Freunde bleiben. Was geht es mich an, ob Ihr Vater duc oder tailleur war. Erzählen Sie immer weiter, Sie machen es gar zu hübsch.«
»Ich genoß eine gute Erziehung, denn meine Mutter wollte mich durchaus zum Theologen machen, und weil dieser Stand in meinem Vaterland der eigentlich privilegierte Gelehrtenstand ist, so wurde mir in meinem siebenten Jahre mensa, in meinem achten amo, in meinem zehnten ôýðôù, in meinem zwölften pacat eingebleut. Sie können sich denken, daß ich bei dieser ungemeinen Gelehrsamkeit keine gar angenehmen Tage hatte; ich hatte, was man einen harten Kopf nennt; das heißt, ich ging lieber aufs Feld, hörte die Vögel singen, oder sah die Fische den Fluß hinabgleiten; sprang lieber mit meinen Kameraden, als daß ich mich oben in der Dachkammer, die man zum Musensitz des künftigen Pastors eingerichtet hatte, mit meinem Bröder, Buttmann, Schröder, und wie die Schrecklichen alle heißen, die den Knaben mit harten Köpfen wie böse Geister erscheinen, abmarterte.«
»Ich hatte überdies noch einen andern Gang, der mir viele Zeit raubte; es war die von früher Jugend an mit mir aufwachsende Neigung zu schönen Mädchen. Sommers war es in meiner Dachkammer so glühend heiß, wie unter den Bleidächern des Palastes Sankt Marco in Venedig; wenn ich dann das kleine Schiebfenster öffnete, um den Kopf ein wenig in die frische Luft zu stecken, so fielen unwillkürlich meine Augen auf den schönen Garten unseres Nachbars, eines reichen Kaufmanns; dort unter den schönen Achazien auf der weichen Moosbank saß Amalie, sein Töchterlein und ihre Gespielinnen und Vertraute. Unwiderstehliche Sehnsucht riß mich hin; ich fuhr schnell in meinen Sonntagsrock, frisierte das Haar mit den Fingern zurecht und war im Flug durch die Zaunlücke bei der Königin meines Herzens.
Denn diese Charge begleitete sie in meinem Herzen im vollsten Sinne des Wortes. Ich hatte in meinem eilften Jahre den größten Teil der Ritter-und Räuberromane meines Vaterlandes gelesen, Werke, von deren Vortrefflichkeit man in andern Ländern keinen Begriff hat, denn die erhabenen Namen Cramer und Spieß sind nie über den Rhein oder gar den Kanal gedrungen. Und doch, wieviel höher stehen diese Bücher alle, als jene Ritter-und Räuberhistorien des Verfassers von »Waverley«, der kein anderes Verdienst hat, als auf Kosten seiner Leser recht breit zu sein. Hat der große Unbekannte solche vortreffliche Stellen wie die, welche mir noch aus den Tagen meiner Kindheit im Ohr liegen: › Mitternacht, dumpfes Grausen der Natur, Rüdengebell, Ritter Urian tritt auf.‹
Wem pocht nicht das Herz, wem sträubt sich nicht das Haar empor, wenn er nachts auf einer öden, verlassenen Dachkammer dieses liest; wie fühlte ich da das › Grausen der Natur!‹ und wenn der Hofhund sein Rüdengebell heulte, so war die Täuschung so vollkommen, daß sich meine Blicke ängstlich an die schlecht verriegelte Türe hefteten, denn ich glaubte nicht anders, als › Ritter Urian trete auf‹.
Was war natürlicher, als daß bei so lebhafter Einbildungskraft, auch mein Herz Feuer fing? Jede Berta, die ihrem Ritter die Feldbinde umhing, jede Ida, die sich auf den Söller begab, um dem, den Schloßberg hinabdonnernden Liebsten noch einmal mit dem Schleier zuzuwedeln, jede Agnes, Hulda usw. verwandelte sich unwillkürlich in Amalien.
Doch auch sie war diesem Tribut der Sterblichkeit unterworfen. Aus ihrer Sparbüchse nämlich wurden die Romane angeschafft. Wenn einer gelesen war, so empfing ich ihn, las ihn auch, trug ihn dann wieder in die Leihbibliothek, und suchte dort immer die Bücher heraus, welche entweder keinen Rücken mehr hatten, oder vom Lesen so fett geworden waren, daß sie mich ordentlich anglänzten. Das sind so die echten nach unserem Geschmack, dachte ich, und sicher war es ein › Rinaldo Rinaldini‹, ein › Domschütz‹, ein alter › Überall und Nirgends‹, oder sonst einer unserer Lieblinge.
Zu Hause band ich ihn dann in alte lateinische Schriften ein, denn Amalie war sehr reinlich erzogen, und hätte, wenn auch das Innere des Romans nicht immer sehr rein war, doch nie mit bloßen Fingern den fetten Glanz ihrer Lieblinge betastet. Ehrerbietig trug ich ihn dann in den Garten hinüber, und überreichte ihn; und nie empfing ich ihn zurück, ohne daß mir Amalie die schönsten Stellen mit Strickgarn oder einer Stecknadel