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Oliver Twist. Charles Dickens
Читать онлайн.Название Oliver Twist
Год выпуска 0
isbn 9783943466706
Автор произведения Charles Dickens
Жанр Языкознание
Серия Klassiker bei Null Papier
Издательство Bookwire
Nach drei Tagen war er wieder fähig, in einem Lehnstuhl zu sitzen, den man ihm gut mit Kissen ausgestopft hatte und den Mrs. Bedwin selbst die Treppen hinunterschleppte in das kleine Haushälterinnenstübchen, das sie bewohnte. Dort saß nun Oliver neben dem Ofen, und die gute alte Dame setzte sich zu ihm und fing vor Freude, ihn wieder so wohl zu sehen, laut an zu weinen.
»Achte nicht auf mich, liebes Kind«, sagte sie, »ich weine mich nur gern von Zeit zu Zeit ein bisschen aus; jetzt ist es schon vorüber, und ich bin wieder ganz froh und vergnügt.«
»Sie sind so freundlich gegen mich«, sagte Oliver.
»Denke nicht darüber nach, mein Kind«, wehrte ihm die alte Dame. »Denke lieber an deine Suppe, denn es ist höchste Zeit, dass du wieder einmal etwas isst. Der Herr Doktor hat gesagt, Mr. Brownlow könne heute früh vorsprechen und dich besuchen, und da musst du ihm ein glückliches und zufriedenes Gesicht zeigen, damit er sich darüber freut.« Dann wärmte die alte Dame in einem Kessel ein wenig Fleischbrühe, die nach Olivers Ansichten an Kraft für mindestens dreihundertfünfzig Armenhäusler – gering geschätzt – ausgereicht hätte.
»Siehst du gerne Bilder, mein Kind?« fragte die alte Dame, als sie sah, wie Oliver gespannt auf ein Porträt blickte, das ihm gegenüber an der Wand hing.
»Ich weiß es nicht, Mrs. Bedwin«, sagte Oliver, ohne die Augen von dem Bild wegzuwenden. »Ich habe so wenig gesehen, dass ich es kaum zu sagen weiß. Was für ein schönes freundliches Gesicht die Dame dort hat.«
»Ach«, seufzte die alte Frau, »die Maler machen doch die Damen immer viel hübscher, als sie wirklich sind. Na ja, sonst würde sich auch niemand malen lassen, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man jede Ähnlichkeit hervorbringt, hätte wissen müssen, dass er damit kein Geschäft machen kann. Es ist ein viel zu ehrliches Handwerk. Viel zu ehrlich«, wiederholte die alte Dame und lachte herzlich über ihren Scharfsinn.
»Ist das – das Bild ähnlich, Mrs. Bedwin?« fragte Oliver.
»Ja«, sagte die alte Dame und blickte einen Augenblick von der Suppe auf. »Es ist doch ein Porträt.«
»Von wem?«
»Das kann ich dir wirklich nicht sagen, Kind«, antwortete die alte Dame gut gelaunt. »Es hat wohl mit niemand Ähnlichkeit, den ich oder du kennen. Es scheint dich zu interessieren, Kleiner?«
»Es ist so wunderschön.«
»Du fürchtest dich doch nicht am Ende davor?« fragte die alte Dame, als sie bemerkte, dass etwas wie Leid oder Schmerz im Blick Olivers lag.
»O, nein, nein«, beteuerte Oliver rasch. »Aber ihre Augen sehen so betrübt drein, und wo immer ich hinschaue, immer scheinen sie auf mich gerichtet zu sein. Das Herz schlägt mir dabei«, setzte er mit leiser Stimme hinzu. »Gerade, als ob die Dame noch am Leben wäre und mit mir sprechen wollte, aber nicht könnte.«
»Gott im Himmel«, rief die alte Dame erstaunt, »was sprichst du denn da, Kind? Du bist noch sehr angegriffen von deiner Krankheit. Ich will dir den Stuhl auf die andere Seite rollen, dann siehst du es nicht immer. – So«, sagte sie und ließ ihren Worten die Tat folgen, »jetzt kannst dus nicht mehr sehen.«
Aber immer noch sah Oliver im Geiste das Bild vor sich, schwieg jedoch darüber, um der alten Dame keinen Kummer zu bereiten, sondern machte ein freundliches glückliches Gesicht. Mrs. Bedwin, die sich darüber sehr freute, schüttete in die Suppe Salz, brockte geröstete Semmelschnitten hinein und reichte sie dann Oliver, der sie heißhungrig verschlang. Er hatte kaum den letzten Löffel geschlürft, als es leise an die Türe klopfte und Mr. Brownlow eintrat.
Wie gewöhnlich hatte der alte Herr die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände in den Schößen seines Schlafrockes verborgen. Er warf jetzt einen bedächtigen langen Blick auf Oliver und machte sofort ein höchst bestürztes Gesicht, denn Oliver sah eher aus wie ein Schatten, als wie ein lebender Junge, und bei seinem Versuch, seinen Wohltäter zu begrüßen, sank er vor Schwäche wieder in seinen Stuhl zurück. Mr. Brownlow, dessen Herz so weit war, dass es für mindestens sechs alte philanthropisch gesinnte Herren ausgereicht hätte, traten sofort die Tränen in die Augen.
»Armer Junge, armer Junge«, murmelte er und räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen. »Ich bin wieder schrecklich heiser heute Morgen, Mrs. Bedwin. Ich fürchte, ich habe mich erkältet.«
»Ich will doch nicht hoffen, Sir«, sagte Mrs. Bedwin. »Ich habe mich selbst überzeugt, dass Ihre Kleider, bevor Sie sie anzogen, ganz trocken waren.«
»Ich weiß, ich weiß, Mrs. Bedwin«, beschwichtigte Mr. Brownlow. »Aber ich fürchte, die Serviette gestern Mittag muss ein wenig feucht gewesen. Doch lassen wir das. Wie geht es dir, Kleiner?«
»O, ich bin so glücklich, Sir«, antwortete Oliver, »und bin Ihnen so von Herzen dankbar für all das Gute, das Sie mir erwiesen haben, Sir.«
»Braver Junge«, sagte Mr. Brownlow stolz und würdig. »Haben Sie ihm denn auch etwas Gutes zu essen gegeben, Mrs. Bedwin? Doch nicht etwa Wassersuppe?«
»Soeben einen Teller schöne kräftige Fleischbrühe, Sir«, antwortete Mrs. Bedwin ein wenig gekränkt, dass man ihr zumutete, sie werde dem Patienten Wassersuppe reichen.
»Brrrr«, sagte Mr. Brownlow mit einem leichten Schauder, »ein paar Gläser Portwein wären noch viel besser gewesen, was meinst du, Tom White?«
»Ich heiße Oliver, Sir«, antwortete der kleine Patient und sah Mr. Brownlow erstaunt an.
»Oliver?« wiederholte Mr. Brownlow. »Oliver? Oliver White also.«
»Nein, Sir. Twist, Oliver Twist.«
»Kurioser Name«, rief der alte Herr. »Weshalb hast du denn dem Kommissär gesagt, du hießest White?«
»Das habe ich ihm nicht gesagt, Sir«, antwortete Oliver erstaunt.
Das klang so offenkundig wie eine Lüge, dass der alte Herr Oliver erstaunt anblickte, aber das Gesicht des kleinen Patienten trug so offen den Stempel der Wahrheit, dass Mr. Brownlow sofort jeden Zweifel fallen ließ.
»Also ein Irrtum«, brummte er. Dann plötzlich sah er den Kleinen wieder starr an, der Gedanke an eine Ähnlichkeit mit einem Gesicht, das er irgendwo gesehen, drängte sich ihm übermächtig auf.
»Sie sind doch nicht böse auf mich, Sir?« fragte Oliver schüchtern?
»Nein,