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Hälfte des 16. Jahrhunderts auch zunehmend die Kontroversen der Reformatoren untereinander. Alles, was sich Papsttreue und Lutheranhänger gegenseitig an den Kopf warfen, enthielt zugleich auch das reiche Motivreservoir an Verdächtigungen, Unterstellungen und entehrenden persönlichen Verunglimpfungen der Augustana-Unterzeichner gegen alle anderen und umgekehrt. Vom philologischen Standpunkt aus, also gattungsgeschichtlich gesprochen, gibt es da keinerlei Unterschiede.

      In der Germanistik hat sich, unabhängig von der Reformationsgeschichte, seit mindestens vier Jahrzehnten die analytische Beschreibung des auch im Mittelalter nachweisbaren Genres „Antilegende“ durchgesetzt. Die Begriffsbezeichnung ist treffend, weil ihr strukturelles Bausystem exakt der Konstruktion von Heiligenviten folgt. Die volkskundliche Terminologie „Tendenzsage“ trifft nur die einzelnen Motive, und die Historiker-Benotung zu Kulturkampfzeiten mit Bezeichnungen wie „katholische Greuelmär“ benennt lediglich moralische Abscheu, analog zu Luthers eigener Einschätzung der spätmittelalterlichen Heiligenlegende als „Lügende“. Jedoch spätestens seit dem „linguistic turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist die in der Bibelexegese schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geläufige Methode der Formengeschichte auch auf die Historiographie anwendbar. Mithin: Unter „Lutherlegende“ verstehen wir die chronologisch berichtende Lebensgeschichte des Reformators anhand von erzähltechnisch wirkungsvoll eingebauten Memorabilien, d. h. denkwürdigen Ereignissen oder exemplarischen Historien. Solche anschaulichen Verlebendigungen werden in der heutigen Fernsehdramaturgie Actions genannt.

      Danach begleiten das Leben eines heiligen Helden und die Ausbreitung seiner Lehre oder seines Vorbildwirkens Bestätigungsund Bekehrungswunder. Er hält Verfolgungen aus und entgeht mancherlei Nachstellungen und Anschlägen. In der vollständigen „Heiligenvita“ Luthers, die bis ins 18. Jahrhundert weiter ausgeschmückt und auf Flugblättern in Comicweise szenisch aneinandergereiht wurde, lauten die typischen Bauelemente und inhaltlichen Versatzstücke: Vorgeburtliche Zeichen oder Prophezeihungen (bei Luther das angebliche Hus-Dictum), auffallendes Betragen eines Wunderkindes (der Kurrende singende Luther), signifikantes Bekehrungserlebnis (die Sage vom Blitzschlag und dem Tod des Freundes), die Offenbarungstat des bewusst die Reformation inaugurierenden Thesenanschlags (als himmlischem Wendepunkt der Weltgeschichte), heldenhafter Kampf mit den Mächten der Finsternis (Bannbulle und Reichsacht), Bewahrung vor dem Giftbecher (in Worms oder wie bei St. Johannes oder St. Benedikt), Schutz vor Gefangenschaft (Wartburg, Coburg) mit dortigen Anfechtungen des Teufels (Tintenfassanekdoten), schließlich beispielhaftes Alltagsleben (Wittenberger Familienidylle), Kirchenorganisation ohne Amt aus bloßer Autorität von Gott (nach Mathesius Beruf aus Berufung), Tröster der Kranken und Freunde (Gebet für Melanchthon und Mykonius). Luther hilft bei Feuer und Regen und erweist sich durch Vorhersagen und wirksame Verfluchungen böswilliger Orte als gottgesandt. Als Endpunkt steht dann sein seliges Sterben entgegen dem Faktum des unerwartet plötzlichen Todes auf einer Reise in Eisleben. Daher brachte Luthers Lebensende reichlich polemische wie apologetische Literatur hervor.

      Die Antilegende fand im plötzlichen Tod ihr eigentliches Ziel: die Bestätigung der Höllenfahrt nach einem unheiligen Leben. Zum Genre der Antilegende zählen daher das Ende des Simon Magus aus der Apostelgeschichte, eines orientalischen Zauberers in Rom und das Ende des römischen Kaisers und abtrünnigen Christen Julian Apostata, der im 4. Jahrhundert das Heidentum wiederum gefördert hatte. Das gilt auch für die seit dem 9. Jahrhundert bekannte marianische Theophiluslegende mit dem Teufelsbündnermotiv, und es gilt für die Viten der literarischen Gegenhelden: Wittenberger Dr. Faustus und Fliegender Holländer.

      Die katholische Antilegende Luthers existierte völlig parallel zur protestantischen Luther-Legende ebenfalls in der graphischen Form des Flugblatt-Comics (s. f. S.). Sie schildert die einzelnen Stationen des Reformators als Teufelsknecht und zwar aus der Überzeugung heraus, wer Falsches lehrt, kann auch persönlich nicht integer sein. Luther sei also ein Lotterbube zweifelhafter Herkunft gewesen, sein verballhornbarer Name stehe für ein Programm, vorgegeben durch die teuflische Verbindung einer liederlichen Mutter mit einem Totschläger. Historischer Aufhänger für letzteres dürfte der Bruder von Luthers Vater gewesen sein, der als händelsüchtiger Messerheld aktenkundig geworden ist. Vorverweis auf ein unheiliges Leben bot das Wandermotiv der Taufverweigerung durch angebliches „Scheißen“ des Kindes ins Taufbecken bei der Sakramentenspendung. Luther, der Fresser und Säufer, in der Flugblatt-Gegenpropaganda abgebildet mit Bauch oder riesigen Trinkgläsern, diente der Karikatur eines sogenannten epikureischen, das heißt genusssüchtigen Lebenswandels.

      Derartige Details schließen die Vorstellung eines reformatorischen Hurenbocks und geilen Mönchs ein. Sie leiten sich deutlich vom angeblichen Huren- und Teufelssohn Luther ab. Die bis heute geläufigen Sexualverslein zu für wahr gehaltenen Aussagen und Praktiken des Dr. Martin Luther bilden einen späten Widerschein dieser einstigen Imaginationen auf katholischer Seite. Und wiederum haben sich den Gegnern Luthers in der tatsächlichen Vita Ansatzpunkte für Einzelheiten zum Bilde der Antilegende geboten. Selbst ein Mann wie Erasmus war nicht wenig entsetzt, als Luther im Jahre 1525 die ehemalige Zisterziensernonne Katharina von Bora ehelichte. Ein Brief aus seiner Feder machte dazu die Runde, wenngleich Erasmus an anderem Ort über die alte Fabel spottete, dass der Antichrist aus der Verbindung von Mönch und Nonne geboren würde. Weiteren Anstoß bot Luthers Schrift vom Ehestand und die von ihm gebilligte Entführung mehrerer Nonnen aus sächsischen Klöstern. War doch zu jener Zeit die Todesstrafe dafür nicht nur angedroht, sondern zum Exempel auch in jenen Jahren zu Dresden an einem Bürger mit dem Schwerte vollzogen und durch schimpfliche Leichenschändung verschärft worden.

      Anders als Simon Magus vermochte Luther nicht einmal falsche Wunder zu wirken. Auch dies gehörte zur Beweisführung katholischer Kontroversisten, dass eben der Reformator keineswegs Gottes Prophet sein könne, wie seine Anhänger glaubten. Solche Argumentation ist auf lutherischer Seite sehr ernst genommen worden, was wir schon bei Mathesius bemerkt haben. Besonderes Aufsehen machte der angebliche Fall eines misslungenen Exorzismus. (Hierbei handelte es sich nicht um die protestantischerseits erzählten Geschichten von Wittenberger Studenten, die besessen oder dem Teufel ergeben waren und auf den Zuspruch Luthers wieder gesund wurden.) Luther hatte den altkirchlichen Ritus des Exorzierens für Teufelswerk erklärt. Der Konvertit Staphylus wollte jedoch Luther zu Wittenberg 1545 in Bedrängnis durch den Teufel gesehen haben, als er in der Sakristei versucht habe, mit Gebet ein besessenes Mädchen aus dem „Meißnischen“ von bösen Geistern zu befreien. Das sei ihm nicht gelungen, sondern er habe vielmehr vor dem Satan durchs Fenster fliehen müssen.

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      „Martinus Lutherus, ein Doctor der Gottlosigkeit“; Radierung um 1730

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