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ihr ausdrücklich gesagt, sie solle seinen Puls jede halbe Stunde zählen.

      Jedesmal, wenn Ingrid in das schmale Männergesicht blickte, fiel ihr die frappierende Ähnlichkeit mit Guido auf. Dieser Patient hätte ein Bruder von ihm sein können. Einmal schlug er die Augen auf und sah sie lächelnd an. Genauso lächelte Guido.

      Ingrid faßte nach dem Puls des Kranken. Dabei erlebte sie in Gedanken noch einmal die glücklichen Tage mit ihrem Mann. Damals hatte sie geglaubt, das Glück währe ewig. Aber nichts auf der Welt währte ewig. Das war eine bittere Erkenntnis.

      Ingrid erhob sich und ging von Bett zu Bett. Alle Patienten waren ruhig. So setzte sie sich wieder zu dem Patienten mit der Magenoperation und überließ sich von neuem ihren Gedanken.

      Guido und sie hatten einander im Frühling kennengelernt. Ingrid hatte nach einem anstrengenden Tag einen langen Spaziergang unternommen und sich am Erwachen der Natur erfreut. Auf ihrem Weg hatte sie einen aus dem Nest gefallenen Baumläufer gefunden. Ratlos hatte sie vor dem hilflosen Wesen gestanden. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß man kleine Vögel nicht anfassen solle, damit sie nicht von ihrer Mutter verstoßen würden.

      Plötzlich war Guido erschienen. Lächelnd hatte er sich gebückt, das Vögelchen aufgehoben und an einen Stamm gesetzt. Geschwind war der

      Baumläufer am Stamm hinaufgeklettert. Verwundert hatte Ingrid ihm nachgeblickt.

      »Der kleine Kerl ist schon halb flügge«, hatte Guido gesagt. »Aber er hatte sich allem Anschein nach zuviel zugemutet und ist heruntergefallen. Da, sehen Sie, die Mutter kommt schon und füttert das Junge.«

      Ein Weilchen hatten sie die beiden beobachtet. Wie selbstverständlich war Guido danach an ihrer Seite geblieben. Er hatte ihr erzählt, daß er seit kurzem in einer Anwaltspraxis in Maibach als Referendar arbeite. Bereits am ersten Abend hatte er durchblicken lassen, wie gut sie ihm gefalle. Und sie hatte sofort ihr Herz an ihn verloren. Ja, sie hatte in ihm ein Idealbild gesehen und an seine Lauterkeit und Liebe wie an das Evangelium geglaubt. Später war es ihr fast wie ein Wunder erschienen, daß er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.

      Am Anfang ihrer so rasch geschlossenen Ehe hatte kein Wässerchen ihr Glück getrübt. Doch dann hatte sich Kuni angemeldet. Statt lieb zu ihr zu sein, war Guido reizbar gewesen und hatte angeblich mehrmals in der Woche Überstunden gemacht. Obwohl Ingrid fast sicher gewesen war, daß er sie belog, hatte sie keine Fragen gestellt. Das hatte sie viel Kraft gekostet.

      Dann war Kuni geboren worden. Guido war wieder zärtlich zu ihr geworden und auch ganz begeistert von seinem Töchterchen gewesen. Noch einmal war ihre Liebe aufgeblüht. Aber dann hatte sie Mathias erwartet.

      Guido hatte sie während dieser Schwangerschaft wieder viel zuviel allein gelassen, so daß sie oft bittere Tränen vergossen hatte. Nur ihre kleine Tochter war in dieser schweren Zeit ein großer Trost für sie gewesen.

      Danach hatte es noch einmal so ausgesehen, als kehre das Glück wieder in die kleine Wohnung zurück. Guido war sehr stolz auf seinen Sohn gewesen und hatte das Kind mit Spielzeug überschüttet. Meist hatte sie die Sachen allerdings für später aufheben müssen, weil Mathias noch viel zu klein dafür gewesen war.

      Eine Zeitlang hatte Ingrid geglaubt, Guido liebe seinen Beruf und lebe nur für seine Familie. Doch vor ungefähr zwei Jahren war er nervös gewor-

      den und so reizbar, daß sie alle ihre

      diplomatischen Tricks hatte anwen-

      den müssen, um ihn bei guter Stimmung zu erhalten. Allerdings hatte sie ihn selten gesehen. Angeblich hatte er für seinen Chef Reisen unternehmen müssen.

      Ingrid hatte es widerstrebt, ihrem Mann nachzuspionieren, einfach, weil sie vor der Wahrheit Angst gehabt hatte. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Nach diesem Motto hatte sie von da an gelebt.

      Dann war auf einmal kein Geld mehr dagewesen, so daß sie gezwungen gewesen war, wieder in ihrem Beruf zu arbeiten. Damals hatte sie ihre Kinder noch in der Kinderkrippe unterbringen können. Guido aber war kaum mehr nach Hause gekommen.

      Als dann vor ungefähr vier Monaten der Brief eingetroffen war, der Guido wegen der Erbschaft nach München gerufen hatte, war sie voller Hoffnung gewesen. Guido hatte ihr versprochen, sie und die Kinder so schnell wie möglich nachkommen zu lassen. Noch jetzt hörte sie seine Worte: »Wir sind nun wohlhabend genug, daß du nur noch Mutter und Hausfrau zu sein brauchst, Ingrid. Als Anwalt in München habe ich alle Chancen, das ererbte Vermögen zu vervielfachen.« Sofort hatten sie Zukunftspläne geschmiedet. In den letzten Tagen vor seiner Abreise war Ingrid ihrem Mann dann innerlich wieder so nahe gewesen wie am Anfang ihrer Ehe.

      Ingrid dachte nun auch an das Mädchen, das von Guido so zärtlich begrüßt worden war. Sie hatte es zwar nur undeutlich durch die Glasscheibe der Haustür sehen können, trotzdem hatte sie dabei festgestellt, daß es sündhaft schön war. Eine solche Schönheit machte die Männer zu Sklaven.

      »Schwester, bitte, mir ist nicht gut«, riß die keuchende Stimme des Magenoperierten Ingrid plötzlich aus ihren Sinnen. Entsetzt stellte sie fest, daß sein Puls flatterte.

      Wenig später wurde der Patient wieder in den Operationssaal geschoben, wo sich ein Ärzteteam vergeblich um ihn bemühte. Als Ingrid erfuhr, daß er gestorben war, hatte sie das Gefühl einen lieben Menschen verloren zu haben.

      Noch unter dem Eindruck des tragischen Todesfalles verließ Ingrid übernächtigt das Krankenhaus. Sie nahm sich vor, sich sogleich niederzulegen und eine Schlaftablette zu nehmen.

      Es nieselte leicht, als sie auf die Straße trat, so daß sich die Lichter der Autos in dem dunkel glänzenden Asphalt spiegelten. Die Blätter an den Bäumen, die die Straße säumten, in der Ingrid wohnte, zeigten schon eine herbstliche Färbung. Der Sommer

      schien vorüber zu sein. Langsam starb die Natur ab.

      Ingrid dachte an den Toten, dessen letztes Lächeln ihr gegolten hatte. Tränen lösten sich von ihren Wimpern. Die Einsamkeit, die in ihr war, stimmte sie so traurig, daß sie jeden Mut zum Weiterleben verlor. Und wieder hielten sie nur die Kinder vor einem unbedachten Schritt zurück.

      Ich bin ganz einfach übermüdet, sagte sie sich und riß sich zusammen. Vermutlich neige ich auch zur Schwermut. Das Leben geht weiter. So oder so. Mein Vater, der schon lange tot ist, sagte einmal, es bedürfe mehr Mut zum Weiterleben als freiwillig aus dem Leben zu scheiden.

      Ingrid betrat das Treppenhaus und stieg so langsam wie eine uralte Frau die Stufen hinauf. Als sie die Wohnungstür aufschloß, fiel ihr sofort auf, daß sie nur einmal abgeschlossen war. Sie wußte aber genau, daß sie beim Verlassen der Wohnung wie immer zweimal zugeschlossen hatte.

      Ein süßer Schreck durchfuhr sie. Der feine Duft nach guten Zigaretten, der ihr so gut bekannt war, ließ sie die Wahrheit ahnen. »Guido!« rief sie und lief ins Wohnzimmer.

      »Na endlich«, sagte er und erhob sich lässig aus dem tiefen Clubsessel, den er mit in die Ehe gebracht hatte. »Ich bin schon seit gestern abend hier.«

      »Du hättest doch im Krankenhaus anrufen können«, warf sie ihm sanft vor. Sie war völlig durchgedreht vor Freude über seine unerwartete Anwesenheit. Die zwiespältigsten Gefühle bewegten sie.

      »Habe ich ja, Ingrid. Aber als ich erfuhr, daß du Dienst auf der Wach-

      station hast, wollte ich keinen Wir-

      bel machen. Ich habe es mir hier gemütlich gemacht. Semmeln habe ich bereits geholt, auch das Kaffeewasser steht schon auf dem Herd. Was,

      da staunst du?« Guido mimte den

      liebevollen Ehemann. Das fiel ihm auch nicht einmal schwer. Obwohl Ingrids schmales Gesicht abgespannt wirkte, erschien es ihm reizvoller denn je. Pias Schönheit verblaßte plötzlich vor seinem inneren Auge, wurde überschattet von Ingrids herbem Liebreiz. In diesem Augenblick war er entschlossen, sich von seiner Geliebten zu trennen. Der Tod der Frau, die durch ihrer beider Leichtsinn gestorben war, sollte ihm eine Lehre fürs ganze Leben

      sein.

      Ingrid

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