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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte
Год выпуска 0
isbn 9788026841036
Автор произведения Eugenie Marlitt
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wahrhaftig,« sagte Reinhard, indem er auf Bella zeigte, die eben jubelnd hoch durch die Lüfte flog, »wer die Kleine heute morgen gesehen hat, mit welch unkindlicher Haltung sie in Herrn von Waldes Zimmer trat, ihn um Verzeihung zu bitten wegen der gestrigen Ungezogenheit, und wie sie zornig und trotzig zu ihm aufsah, als er ihr erklärte, daß er sie nicht eher wiedersehen wolle, als bis sie Fräulein Ferber persönlich um Verzeihung gebeten habe« – hier wurde Elisabeth purpurrot und beschäftigte sich eilends und angelegentlichst mit zwei großen Honigbroten, die sie für Bella und Ernst strich – »der erkennt sie schwerlich wieder dort in dem kleinen Dinge, das die ganze harmlose Kinderfröhlichkeit im Gesichte trägt.«
Es war eine genußreiche Stunde, die nun folgte. Miß Mertens zeigte sich als sehr unterrichtet und gebildet, und Reinhard erzählte in höchst anziehender Weise von seinen Reisen und Forschungen.
»An die Heimkehr wäre wahrscheinlicherweise noch sehr lange nicht gedacht worden,« schloß er eine interessante Reihenfolge von Mitteilungen über Spanien, »allein verschiedene sehr ungünstige Nachrichten aus Thüringen, die nacheinander einliefen, bewogen Herrn von Walde, einen Riß durch einen kaum entworfenen neuen Reiseplan zu machen … Dem Herrschsüchtigen passiert es eben manchmal, daß ihn die Begier blind macht … der unvorsichtig ausgesprochene Wunsch aus zarter, weiblicher Feder: Herr von Walde möge doch den guten, aber nun altersschwachen Ortsgeistlichen in Lindhof pensionieren, weil er stumpf und nicht mehr fähig sei, die Gemüter zu erbauen, setzte jenen unliebsamen Nachrichten die Krone auf und war die Veranlassung, daß sofort die Rückreise angetreten wurde … Als wir spät abends, in der Nähe von Lindhof Wagen und Chaussee verlassend, das letzte Stückchen Weg durch den Wald zu Fuße zurücklegten, stießen wir noch auf ein allerliebstes Abenteuer … ›Merkwürdig, sehen Sie doch, Reinhard, für was halten Sie den Schimmer da droben auf dem alten Gnadeck?‹ fragte Herr von Walde. ›Für ein Licht,‹ war meine Antwort. ›Das müssen wir näher untersuchen,‹ meinte er und stieg aufwärts. Der Punkt wurde immer größer und ergab sich zuletzt zu unserm Erstaunen als zwei hohe, hellerleuchtete Fenster … Da trippelt es hinter uns leicht den Berg herauf, es flattert weiß durch die Büsche, und plötzlich schwebt ein Etwas auf die mondbeglänzte Lichtung, das ich für ein höheres Wesen halte … Ich bin der Beherztere, trete näher, immer fürchtend, die Lichtgestalt werde vor dem Hauche meines Mundes zerfließen – wehe, da öffnen sich die Lippen und erzählen von zwei gutgearteten Ziegen und einem allerliebsten Kanarienvogel.«
Ein allgemeines Gelächter folgte dieser Schilderung.
»Als wir den Berg wieder hinabstiegen,« fuhr Reinhard fort, »sprach mein Herr keine Silbe; allein gewisse Anzeichen lassen mich fürchten, daß ich damals nicht von Ihnen allein ausgelacht worden bin … Es wäre wahrlich nicht vom Uebel gewesen, wenn Sie uns als gute Fee begleitet hätten; aber aller Mondesglanz, alle Lieblichkeit blieben droben auf dem Bergrücken, während wir hinunter in den dunklen Thalschoß wandern mußten, wo eine dumpfe Schwüle brütete, und wo uns niemand, nicht einmal ein erwachendes Lüftchen, ein Willkommen in der Heimat entgegentrug … Im Schlosse Lindhof flogen zahllose Lichter eilig wie Irrwische an den Fenstern vorüber. Der Wagen mit dem Gepäck war vor uns eingetroffen und mußte mit seinem Rädergerolle ähnliche Wirkung hervorgebracht haben, wie man dem Donner beim jüngsten Gerichte dereinst zuschreibt, denn es herrschte eine solche Aufregung in dem Hause, als wir eintraten, daß ich am liebsten meine Schritte wieder hinweggelenkt und mein müdes Haupt unter den ersten, besten, stilldunklen Busch gebettet hätte … Der einzige, der inmitten des aufgescheuchten Ameisenschwarmes einen bewunderungswürdigen Gleichmut zur Schau trug, war Herr Kandidat Möhring. Er hatte sich schleunigst in eine weiße Halsbinde geworfen und empfing den Herrn des Hauses mit einer salbungsvollen, wohlgesetzten Rede am Fuße der Treppe.«
»Das Regiment dieses gestrengen Herrn ist wohl jetzt zu Ende?« fragte der Oberförster.
»Jawohl – Gott sei Dank!« entgegnen Miß Mertens. »Er wird in der Kürze Lindhof ganz und gar verlassen – die Frau Baronin Lessen hat ihm durch ihren Einfluß eine gute Predigerstelle verschafft … Er konnte es nicht ertragen, so plötzlich in das Nichts zurücksinken zu müssen, da, wo er geherrscht hatte. Ich glaube es ihm; denn wie hat er geherrscht – mit der ganzen Verfolgungswut des Tyrannen, der alles unter seine Füße zu bringen sucht … Nicht ein Gedanke sollte mehr in seinem Bereiche gedacht werden ohne seine Zustimmung, und während er seine Herrin kriechend anlächelte, hielt er ihr seine eiserne Faust auf den Nacken. Alle, ohne Ausnahme, im Hause mußten die Gedanken und Empfindungen niederschreiben, die sie tags über bei ihrer Berufserfüllung gehabt hatten … Ich sehe noch die armen Hausmädchen, denen schon ein kleiner Brief an die Ihrigen ungleich saurer wurde, als ein angestrengter Bügeltag, wie sie an den Winterabenden in der kaltgewordenen Stube saßen und, die Feder zwischen ungelenken, todmüden Fingern haltend, in ihrem armen Kopfe einige Phrasen mühsam zusammensuchten. ›Ja, wenn der Herr Kandidat so gearbeitet hätte, wie ich heute den ganzen Tag,‹ flüsterte dann wohl auch hier und da eine mit scheuer Stimme, aber im tiefsten Grolle, ›da würde ihm das Schreiben wohl vergehen.‹«
»Ja, das will ich auch meinen!« rief der Oberförster. »Nun sag’ mir einer, ob das nicht die abscheulichste Menschenschinderei ist, die man da unter dem Deckmantel eines gottgefälligen Strebens getrieben hat!«
»Das Schlimmste dabei ist,« sagte Ferber, »daß der Mensch, wenn er nicht sittlich hoch steht, oder einen ganz besonderen Fond von Gutmütigkeit besitzt, nicht allein seinen Quälern, sondern zuletzt auch der Sache grollt, um derentwillen er leiden muß. So entfernt er sich innerlich immer weiter vom Glauben, während er nach außen das Gegenteil zeigen muß; denn sein Lebensunterhalt hängt von der Maske ab … das nenne ich Totschlag der Religiosität im Volke.«
»Na, es ist gut, daß wenigstens zu uns endlich einer kam, der Kraft und Manneswillen genug hatte, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter! … Tausend noch einmal, das kam dahergebraust wie eine Sündflut!« sagte der Oberförster.
»Herr von Walde besitzt aber auch eine Energie, eine moralische Kraft, wie selten ein Mensch,« erwiderte Miß Mertens lebhaft. »Er hat einen verschlossenen Mund, doch einen offenen Blick, und vor diesem Blick erschrickt die Angeberei, und Bosheit und Heuchelei verlieren Mut und Larve.«
Mittlerweile hatte Reinhard das Gemäuer des alten verfallenen Schloßflügels aufmerksam betrachtet, der nach Süden hin den Garten begrenzte. Es war ein höchst unregelmäßiger Bau. Drei ungeheure Spitzbogenfenster von tadelloser Form erhoben sich ungefähr sechs Fuß über dem Boden und stiegen durch zwei Stockwerke in die Höhe. Dicht neben ihnen trat eine Art Erker weit in den Garten herein und bildete eine tiefe Ecke; eine mächtige Steineiche erhob sich zwischen den zwei Mauern und streckte einzelne Aeste durch die zwei nächsten, scheibenlosen Fenster in den kühlen, luftigen Raum hinein, der einst die Schloßkapelle vorgestellt hatte, und den man auf eine bedeutende Zuhörerschaft berechnet haben mußte, denn er nahm die ganze Tiefe des Flügels in Anspruch. Den genannten Fenstern lagen drei ganz gleiche gegenüber; sie waren Sturm und Wetter weniger preisgegeben und hatten oben in den feingemeißelten Steinrosetten einige bunte Glasstückchen bewahrt. Hinter ihnen erschien der düstere Hof mit seinen zusammensinkenden, gespenstigen Mauern wie ein in Grau gemaltes Bild. Die Gartenseite des Flügels sah buntscheckig genug aus. Die schrankenloseste Willkür hatte Fenster und Zierraten von allen Sorten zusammengewürfelt; diesem Aeußeren nach mußte das große Gebäude ein wahres Labyrinth von Gemächern, Gängen und Treppen in sich schließen. Der Erker war es zumeist, der den Bau gefahrdrohend erscheinen ließ. Er neigte sich bedenklich seitwärts und schien auf den Moment zu lauern, wo er das blühende Leben der Eiche unter seinen Steinmassen begraben würde. Er hatte sich übrigens kokett einen lebensfrischen Mantel über seine gebrechlichen Glieder gebreitet, ein undurchdringliches Epheugespinst umwob ihn vom Boden bis zu dem zerklüfteten Dachstuhle und ließ weder Fenster noch Risse und Sprünge in dem Mauerwerke sehen. Einzelne Ranken waren hinter der Eiche vorüber geschlüpft, sie kletterten an den gelockerten Mauersteinen der Hauptfronte in die Höhe und umarmten keck die allerorten angebrachten Steinwappen, die grämlich genug unter dem aufgedrungenen Schmucke hervorsahen.
»Ich habe,« sagte Ferber, »bald nach meiner Hierherkunft gerade diesen Flügel, soweit