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kleinen Schreibtisch setzte, der vor einem breiten Fenster stand, von dem man den Garten überblicken konnte. Es ist ein Schicksal, das uns nichts angeht, mich nicht und Stefan hoffentlich auch nicht.

      Aber das Kind hatte allein vor ihrer Tür gestanden. Es war von einer Frau hergeschickt worden, die Ruth hieß, hierher zu seinem Vater.

      Anschi hatte den aufgeschlagenen Ordner vor ihren Augen. Zuoberst lag eine Geburtsurkunde.

      Erika Messner, geboren am 13. April 1943.

      Das war also Sabines Mutter.

      Die nächste Urkunde besagte, dass Erika Messner am 14. September 1970 gestorben war.

      Dann folgte Sabines Geburtsurkunde, und nun wurde es Anschi doch schwarz vor Augen.

      Sabine war am 15. Juli 1963 in Göttingen geboren, und als Vater war Stefan Behrend angegeben, wohnhaft in Göttingen, von Beruf Kaufmann. Sein Geburtstag war nicht angeführt.

      Anschi starrte lange Zeit auf diese Urkunde, die Sabines Geburt bestätigte und den Namen ihres Vaters enthielt: Stefan Behrend.

      Sie war nicht mehr fähig, den Inhalt der Tasche noch weiter zu untersuchen. Sie saß da und grübelte.

      In erster Linie fragte sie sich, was nun aus diesem Kind werden sollte. Das Kind war schuldlos. Man hatte es ihnen vor die Tür gesetzt. Stefan aber war nicht da.

      Da stand dieser kleine schäbige Koffer, der wohl alle Habseligkeiten des Kindes enthielt.

      Und jetzt empfand Anschi doch Groll. Groll auf diese fremde Frau, die ein neunjähriges Kind hilflos einem unbekannten Schicksal überließ.

      *

      Carla Richter, die Gastwirtin vom Seeblick, schaute auf die Uhr.

      »Jetzt ist schon ein Uhr vorbei, Toni«, meinte sie zu ihrem Mann. »Herr Behrend hat doch gesagt, dass seine Frau zum Essen kommen würde. Warum sie wohl nicht kommt?«

      »Vielleicht ist sie zu schüchtern«, entgegnete Anton Richter.

      »Ob ich mal nach ihr sehe? Es ist ja nur ein Katzensprung.«

      »Tu, was du nicht lassen kannst, Carla, aber sie könnte es auch als Aufdringlichkeit empfinden.«

      »Dann rufe ich sie wenigstens an. Vielleicht möchte sie lieber daheim essen. Dann bringe ich es ihr hin.«

      Carla Richter war die Menschenfreundlichkeit in Person, und der nette Herr Behrend sollte ja nicht sagen, dass sich niemand um seine junge Frau gekümmert hätte.

      Anschi schrak zusammen, als das Telefon läutete. Nur zögernd meldete sie sich.

      Sabine schlief noch immer, und sie hoffte, dass sie von dem Läuten nicht aufwachen würde, denn sie fürchtete, dass es schon wieder ihre Mutter sein könnte.

      So atmete sie richtig auf, als Carla Richter sich meldete.

      Sie hätte geschlafen, sagte Anschi als Entschuldigung. Es sei wohl die Frühjahrsmüdigkeit. Ja, wenn man ihr das Essen bringen würde, wäre sie sehr dankbar.

      Sie war es wirklich, denn sie hatte nichts im Hause und hätte sich auch nicht getraut wegzugehen, weil sie sich Sorgen machte, Sabine könne währenddessen davonlaufen.

      Komisch war das schon, aber sie machte sich tatsächlich solche Sorgen.

      Carla Richter kam wenig später mit dem Essen. Anschi stellte es in die Wärmeröhre und ging dann in das Gästezimmer. Sabine lag mit offenen Augen im Bett und schaute angstvoll drein.

      »Da war jemand«, bemerkte sie leise.

      »Ja, es ist Essen gebracht worden«, erklärte Anschi. »Du wirst Hunger haben. Komm, Kleine.«

      »Euch wird das Essen gebracht?«, fragte Sabine.

      »Mein Mann hat Angst, dass ich verhungere«, entgegnete Anschi, und sie musste daran denken, wie rührend besorgt Stefan um sie war. Und um das Kind?

      Konnte es denn möglich sein, dass ihr Stefan, dieser fürsorgliche Mann, ein Kind in die Welt gesetzt hatte, um das er sich nie kümmerte?

      »Pass auf, die ziehst meinen Frotteemantel an, Sabine«, sagte sie. »Das Essen ist noch heiß. Schau mich doch nicht so ängstlich an, Kleines. Ich tue dir doch nichts.«

      *

      Sie saßen sich am Tisch gegenüber. Anschi sah, wie dem Kind buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlief.

      »Iss tüchtig«, sagte sie freundlich. Und seltsamerweise hatte auch sie Appetit. Es war reichlich für sie beide da.

      »Spagetti mag ich nicht so sehr«, bemerkte Sabine leise.

      »Nicht jeden Tag.«

      Anschi schüttelte sich. Jeden Tag Spagetti war auch ein bisschen viel.

      »Was isst du denn gern?«, fragte sie.

      »Weiß ich nicht so recht. Im Heim gab es meistens Suppen.«

      »Was war das für ein Heim?«

      »Luisenheim hieß es.«

      »Hatte deine Mutter dich dorthin gebracht?«, fragte Anschi beiläufig.

      Sabine schüttelte den Kopf.

      »Nein, sie haben mich abgeholt, als Mama ins Krankenhaus kam. Sie hat geweint und gesagt, dass wir uns nicht wiedersehen.«

      Sabines Augen verdunkelten sich. Sie starrte auf den Teller.

      »Mama war lieb mit mir«, flüsterte sie. »Ich habe noch eine Puppe, die sie mir selbst gemacht hat. Im Koffer. Soll ich sie holen?«

      »Iss erst, Kleines«, bemerkte Anschi liebevoll. »Was möchtest du als Nachtisch?«

      »Was du willst«, erwiderte Sabine, und es war das erste Du, das über ihre Lippen kam.

      Anschi forcierte nichts. Sie zwang das Kind nicht, Fragen zu beantworten.

      »Jetzt werden wir deinen Koffer auspacken«, erklärte sie, nachdem sie auch den Nachtisch verspeist hatten.

      »Wenn dein Mann aber nun nicht will, dass ich hierbleibe?«, äußerte Sabine nachdenklich.

      »Das überlass mir. Wo sollst du denn hin?«

      »Wieder ins Heim. Tante Ruth ist jetzt mit Enzo fort. Sie hat gesagt, dass sie mich besuchen will, wenn sie die Geschäfte gemacht haben, aber ich glaube nicht, dass sie wiederkommt.«

      Es klang unendlich weise. Anschi strich ihr über das Haar, das leicht gelockt war.

      Sie begriff nicht, dass man ein Kind einfach seinem Schicksal überlassen konnte.

      »Hat Tante Ruth deinen Vater gekannt?«, fragte sie beiläufig.

      Sabine schüttelte den Kopf.

      »Sie hat nur gesagt, dass er bestimmt mehr Geld hat als Enzo und nun für mich sorgen würde.«

      Damals, vor neun Jahren, hatte Stefan sich recht mühevoll durchs Leben geschlagen, ging es Anschi durch den Sinn. So wenigstens hatte er es ihr erzählt.

      »Sie wollte also wiederkommen, wenn sie die Geschäfte erledigt haben«, bemerkte sie gedankenvoll.

      »Enzo verkauft immer so Sachen«, berichtete Sabine. »Er hat gesagt, in Deutschland verkaufen sie sich besser. Aber mal hat er auch davon geredet, dass sie nach Australien fahren wollen. Erst musste ich untergebracht sein. Mitnehmen wollten sie mich nicht.«

      Ein langes Schweigen trat ein.

      »Tante Ruth hat nie gesagt, dass mein Vater eine Frau hat«, meinte Sabine schließlich. »Warum bist du freundlich zu mir? Warum schickst du mich nicht fort?«

      »Wir verstehen uns doch ganz gut, findest du nicht?«, bemerkte Anschi lächelnd. »Aber es gibt da einiges zu klären, Sabine. Wir müssen damit warten, bis Stefan, mein Mann, zurück ist. Vielleicht hat man dich an eine falsche Adresse geschickt.«

      Sabine

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