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Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser
Читать онлайн.Название Wachtmeister Studer
Год выпуска 0
isbn 9783962816315
Автор произведения Friedrich C. Glauser
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
»Wie bist du auf den Gedanken gekommen, dass der Witschi sich selbst erschossen hat?«
»Das will ich Euch gerade zeigen…«
Auf der Straße heulten Autos. Motorräder knatterten gehässig. Man spürte den Sonntag. Verlassen sahen die Häuser aus, aber sie waren nicht stumm, nicht einmal heute. Ein Krächzen hier, ein Summen dort, manchmal ein Melodiefetzen… Die Lautsprecher Gerzensteins spielten mit den atmosphärischen Störungen, es war niemand da, der sie beaufsichtigte… So trieben sie Schabernack, für sich allein, um die Langeweile des einsamen Nachmittags zu würzen… In der Woche gab es so viel zu tun für sie. Sie sangen, sie spielten, sie sprachen. Professoren, Bundesräte, Pfarrer, Psychologen – gehorsam blökten die Lautsprecher die Worte nach, die irgendein bedeutender Herr von seinem Manuskripte ablas – und die Worte drangen in die Ohren der Gerzensteiner, durchweichten die Köpfe… Sie wirkten wie ein Landregen auf Moorland… Die Lautsprecher waren die Beherrscher Gerzensteins. Redete nicht selbst der Gemeindepräsident Äschbacher mit der Stimme eines Ansagers?…
Da war endlich Witschis Haus. Auch hier krächzte es durch die geschlossenen Läden, so laut, dass Studer zuerst meinte, es sei eine Gesellschaft in einem der Zimmer versammelt… Aber es war eben doch nur einer der einsamen Lautsprecher, der sich die Zeit vertrieb…
Alpenruh
in blauer Farbe, die abzubröckeln begann.
Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein…
Warum wirkte der Spruch auf Studer wie ein Hohn? Glück? Waren die Witschis wirklich einmal glücklich gewesen? Er sah den Witschi Wendelin in Hemdsärmeln die Zeitung lesen, aufstehen, den losen Trieb eines Spalierbaumes anbinden… Die Ladenklingel schrillte… Gespräche über Politik…
Und jetzt lag Witschi in einem kaltweißen Raum mit einem Schuss hinter dem rechten Ohr…
Studer schüttelte sich. Schreier sagte:
»Kommt nur mit, Wachtmeister!« und ging voran durch den Garten, auf den alten, verfallenen Schuppen zu, dessen Dachstützen eingeknickt waren… Die Tür fehlte, an ihrer Stelle gähnte ein schwarzes Loch.
Aber im Schuppen war es nicht einmal so dunkel. Einige Dachziegel fehlten. Das spärliche Licht, das durch die Löcher drang, vermischte sich mit der Finsternis zu einer grauen Dämmerung…
Zerbrochene Spaten, ein verbogener Rechen, leere Kisten, Holzwolle, Persilkartons, Packpapier… Winzige, glänzende Staubteilchen tanzten in den Lichtbalken, die vom Dach zum Boden reichten.
»Und?« fragte Studer. Er musste husten. Die Luft im Schuppen legte sich ihm auf die Lungen.
Schreier war an einen Stapel Kisten getreten, er räumte ihn vorsichtig beiseite, zog schließlich eine Tür hervor, die Tür des Schuppens offenbar, an der noch die rostigen Angeln hingen.
»Habt Ihr eine Taschenlampe?« fragte der Bursche.
»Ja.«
»Zündet einmal«, verlangte Schreier.
Studer ließ den Lichtkegel über die Tür streichen. Er pfiff ganz leise zwischen den Zähnen.
Zwei, vier, sechs, zehn – fünfzehn Einschüsse. Über die Mitte der Türe verteilt. Sie saßen alle in einem Rechteck, das etwa sechzig Zentimeter hoch und vierzig Zentimeter breit war. Und das Rechteck, in dem die Schüsse saßen, war ein heller Fleck in der sonst altersschwarzen Tür. Studer beugte sich tiefer. Richtig, das Rechteck war gehobelt worden. Man sah noch die Spuren des Hobels…
Aber das Merkwürdigste an diesen Einschüssen war folgendes:
Die ersten Einschüsse, links oben im Rechteck, zeigten deutlich an ihren kreisförmigen Rändern Verbrennungsspuren.
»Deflagrationsspuren!« sagte Studer leise.
Es waren fünf Löcher, die solche Spuren trugen. Beim sechsten Loch waren die Spuren geringer, sie nahmen ab, je weiter unten im Rechteck die Einschüsse saßen. Die letzten drei Einschüsse hatten saubere Ränder, das Holz um sie herum war weiß…
Die Tür war dick. Alle Kugeln steckten im Holz. Studer nahm den dünnen Bleistift aus seinem Notizbuch und begann die Tiefe der Löcher zu messen. Die Lampe hatte er Schreier in die Hand gedrückt. Er maß verschiedene Male, er gab sich Mühe, er presste den Daumennagel fest auf den Bleistift, umso genau als möglich – auf den Bruchteil eines Millimeters – den Unterschied festzustellen, der vielleicht in der Tiefe der Löcher bestand. Alle fünfzehn Löcher waren gleich tief. Also waren auch die letzten Schüsse, deren Ränder sauber geblieben waren, aus der gleichen Entfernung abgegeben worden wie die ersten. Warum aber hatten nur die ersten verbrannte Ränder?
»Warum haben nur die ersten Löcher Pulverspuren?« fragte Studer laut.
Schreier kicherte. Es war ein unangenehmes Geräusch. Es erinnerte Studer an Zuchthaus, dieses Kichern. Es klang so verdrückt.
»Red’ schon, wenn du etwas weißt«, schnauzte er.
»Ich bin ja nicht sicher, Wachtmeister«, sagte Schreier. »Aber Ihr wisst es doch auch: wenn man vor die Mündung ein Blatt Papier hält und dann abdrückt, so bleiben alle Pulverteilchen an dem Papier haften und…«
Studer wurde böse:
»Und du bildest dir ein, der Witschi hat vor die Mündung ein Zeitungsblatt gehalten, mit der linken Hand, und dann den Schuss abgegeben? Mach mir das einmal vor…«
Schreier schüttelte den Kopf. Er zog etwas aus der Tasche, ließ das Licht darauf fallen. Es war ein rotes Kartonviereck. ›Riz La Croix‹ stand darauf zu lesen. Der Umschlag eines Heftchens Zigarettenpapiers.
»Das hab’ ich hier im Schuppen gefunden«, sagte Schreier bescheiden. »Damals, wie ich hier gestöbert hab’. Am Tag nach der Verhaftung vom Schlumpf. Ja.«
»Und?« fragte Studer.
»Es rollt keiner in der Familie seine Zigaretten selbst. Der alte Witschi hat Stumpen geraucht, in der letzten Zeit Pfeife. Der Armin raucht englische Zigaretten, dieselben, die sie im Laden führen. Also…«
»Also?«