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die Zensur dachte.

      Aber als Fräulein Hering nun die zehnte Klasse betrat, im Arm ein großes Pack weißer Blätter, da schlug auch manch anderes Kinderherz noch aufgeregt poch – poch. Es erschien allen, als ob die junge Lehrerin, die doch oft so lustig mit den kleinen Mädchen zu lachen und zu scherzen verstand, heute besonders feierlich dreinschaute.

      »Liebe Kinder,« begann Fräulein Hering und legte das umfangreiche Pack Zensuren vor sich auf das Katheder, »wir schließen heute das erste Halbjahr unserer gemeinsamen Arbeit. Wir haben zusammen gelernt und gestrebt, und ich kann wohl sagen, daß ich mit eurem Fleiß, eurem Betragen und euren Leistungen im ganzen zufrieden bin. Bis auf wenige Ausnahmen habt ihr euch redlich Mühe gegeben, mir nur Freude zu machen. Und wer das bisher noch nicht getan hat,« – hier blickte Fräulein Hering zu der sich verkriechenden Hilde Rabe hin – »soll es sich für das künftige Halbjahr vornehmen. Es ist niemals zu spät dazu, das Gute zu beginnen. Aus euren Zeugnissen, die ich jetzt verteilen werde, ersieht eine jede, worin sie sich noch bessern muß.«

      Fräulein Hering griff nach dem obersten weißen Blatt. »Die Erste der Klasse wird« – hier stand Annemarie höflich auf, in der festen Annahme, daß die Lehrerin sie meine. »Nein, Annemie, setze dich nur wieder hin, es tut mir leid, aber du kannst den ersten Platz nicht behalten. Deine Hefte und Bücher sehen nicht so aus, daß sie der Klasse als Vorbild dienen können. Aber du wirst dir gewiß Mühe geben, daß es bis Ostern anders wird, nicht wahr?« setzte Fräulein Hering freundlich hinzu, als sie sah, daß es in dem Kindergesicht weinerlich zuckte.

      Klein-Annemarie nickte, während die Tränchen zu kullern begannen. Ade, Kindergesellschaft – ade, rote Zensurenmappe! Damit war es nun sicher nichts.

      Da fuhr Fräulein Hering fort: »Die Erste wird diesmal Margot Thielen.«

      Margot, die noch eben mitleidig auf die Freundin geblickt, verfärbte sich vor Schreck.

      »Ich« – stieß sie beinah entsetzt heraus. In ihrer Bescheidenheit konnte sie sich das gar nicht vorstellen.

      »Ja, du«, lächelte Fräulein Hering. »Dein nettes, artiges Benehmen, dein steter Fleiß und deine musterhafte Sauberkeit haben mir viel Freude gemacht, Margot. Keine andere verdient den ersten Platz wie du. Fahre so fort.«

      Erglühend nahm Margot ihr Zeugnis mit einem tiefen Knicks in Empfang. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen durfte, weil ihre Freundin Annemarie so betrübt war. Ach, dabei ahnte Margot ja gar nicht, wie sehr sich Annemarie schämte. Nicht nur, weil eine andere Erste geworden, nicht allein, weil Fräulein Hering sie ihrer Unordentlichkeit wegen vor der ganzen Klasse getadelt hatte. Nein, hatte sie nicht oft auf die schüchterne Margot herabgesehen und war sich viel klüger vorgekommen als sie? Nun mußte sie erkennen, daß die Bescheidenste die Beste war. Hilde Rabe aber, die stets solchen großen Mund hatte, wurde die Allerletzte.

      Auch den zweiten Platz erhielt Annemarie nicht, Marianne behauptete denselben. Dritte wurde Marlenchen, und erst als Vierte überreichte Fräulein Hering Annemarie das Zeugnis.

      »Du mußt auch noch ruhiger in den Stunden werden, nur sprechen, wenn du gefragt bist, Annemie,« sagte die Lehrerin, »doch das ersiehst du ja aus deiner Zensur.«

      Aber Annemarie hatte vorläufig noch keine Zeit, ihre Zensur zu studieren. Sie mußte doch zuhören, auf welchen Platz die anderen Kinder kamen, und worin sie sich bessern sollten. Dabei legte sich ihr Schmerz allmählich. Und daß Ilse Hermann, die sie so gern hatte, die Fünfte geworden und von nun an neben ihr saß, war doch eigentlich fein. Annemarie verstand es, auch bei dem Schlechten das Gute herauszufinden.

      Als Nesthäkchen mit ihrer Zensur, deren Inhalt es noch nicht einmal kannte, nach Schluß der Schule unten auf dem Hof anlangte, erwartete sie ihr Fräulein nicht an dem gewohnten Platz. Vergeblich suchte Annemarie nach ihr. Sie hatte wohl geglaubt, die Schule würde erst später geschlossen. Im Grunde genommen war der Kleinen dieser Aufschub nicht unlieb. Sie fürchtete die berechtigten Vorwürfe. Wie oft hatte Fräulein sie ermahnt, sorgsamer mit ihren Schulheften umzugehen.

      »Annemie, komm doch mit uns mit«, forderte sie Margot, die von ihrer Emilie und den kleinen Geschwistern abgeholt wurde, auf. »Oder bist du böse mit mir, daß ich jetzt Erste bin – ich kann doch nichts dafür«, setzte sie leise hinzu.

      Annemarie schlang ungestüm die Arme um die Freundin, denn das häßliche Gefühl des Neides war ihrem Herzen zum Glück fremd.

      »Nein, Margotchen, ich habe dich lieb, wenn du auch die Erste bist«, versicherte sie. »Aber ich muß auf mein Fräulein warten, sie wollte bestimmt kommen und weiß nachher nicht, wo ich geblieben bin.«

      Gegen diesen verständigen Einwand ließ sich nichts sagen. Margot folgte, Bubi an der Hand, dem den weißen Sportwagen mit Baby schiebenden Kindermädchen. Annemarie blieb auf dem sich leerenden Schulhof zurück.

      Da es ihr dort bald zu einsam wurde, trat sie hinaus auf die Straße. Aber weiter wagte sie sich nicht. Mutti hatte es streng verboten, daß sie allein ging.

      Nesthäkchen begann mühsam die Zensur zu buchstabieren. Aber es kam nicht weiter als bis »Zeugnis für Annemarie Braun. Platz 4 unter 50 Schülerinnen«. An der Zeile, die darauf folgte, scheiterte es bereits. »Führung lobenswert, nur noch zu lebhaft«, buchstabierte die Kleine im Schweiße ihres Angesichts. Und als sie das glücklich heraus hatte, war sie noch gerade so klug wie zuvor. Klein-Annemarie hatte keine Ahnung, daß Führung dasselbe bedeutete wie Betragen. Sie kannte das Wort nur von ihren Kriegsspielen mit den Brüdern her. Da hatten entweder die Weißen oder die Indianer die Führung. Aber was hatte denn das mit der Schule zu tun? Auch die Bezeichnung lobenswert war ihr fremd.

      Wenn Fräulein doch endlich kommen und ihr die Zensur vorlesen würde! Aber Fräulein war nirgends zu sehen.

      Da kam Klein-Annemarie plötzlich ein Gedanke. Hatte Mutti ihr nicht gesagt, sie solle sich, wenn sie irgendwo mal unterwegs in Verlegenheit sei, an den erstbesten Schutzmann wenden? Keine zwanzig Schritt weit an der Ecke stand ein Polizist, sein Helm blinkte im Sonnenlicht.

      Nesthäkchen nahm allen Mut zusammen, denn eigentlich hatte es ein bißchen Angst vor der Polizei.

      »Ach, Herr Schutzmann,« bat die Kleine schüchtern und machte einen Knicks, »wollen Sie nicht so gut sein und mir meine Zensur mal vorlesen?«

      Der Schutzmann schmunzelte. Mancherlei war ihm schon in seinem schweren Amte zugemutet worden, aber das doch noch nicht. Belustigt sah er auf den reizenden, kleinen Blondkopf, der noch nicht einmal seine Zensur selbst lesen konnte.

      »Gern, Kleine«, sagte er so freundlich, daß bei Nesthäkchen jede Furcht schwand. Dann las er ihr das Zeugnis vor.

      »So viele Sehr gut!« rief Annemarie dazwischen und hopste vor Begeisterung um den Schutzmann herum. Freilich, im Schreiben stand nur genügend. Als aber der Schutzmann las »Handarbeiten: mangelhaft, zuletzt besser«, rief das kleine Mädchen eifrig: »Jetzt kann ich schon stricken, ich hab’s bei meiner Großmama gelernt. Und weil Sie so nett zu mir waren, Herr Schutzmann, werde ich Ihnen ein Paar Strümpfe stricken.«

      Da lachte der Schutzmann trotz seiner Würde ganz laut, und die Vorübergehenden, die sich um die beiden allmählich gesammelt hatten, lachten alle mit. Der Polizist gab Annemarie ihr Zeugnis zurück. »Na, du hast ja eine sehr schöne Zensur!« sagte er dabei.

      »Wirklich?« Vor Nesthäkchens Augen stiegen plötzlich die schon verlorengegebene Kindergesellschaft, die rote Zensurenmappe mit Silberschrift wieder verheißungsvoll auf.

      In diesem Augenblick stand Fräulein erschreckt hinter der Kleinen. Sie hatte Nesthäkchen im Vorübergehen mitten in dem Menschenauflauf entdeckt und glaubte nicht anders, als der Schutzmann hätte die Kleine wegen irgendeines Vergehens in Gewahrsam genommen.

      »Annemie, Kind, was hast du denn bloß begangen?« stieß sie aufgeregt hervor.

      »Ich habe mir doch bloß von dem Herrn Schutzmann meine Zensur vorlesen lassen«, beruhigte sie Klein-Annemarie, als ob dies das natürlichste Ding auf der Welt sei und ein Schutzmann zu nichts anderem da wäre.

      Fräulein fiel

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