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vom Rollstuhl aus den frohen Spielen der andern Kinder zuschauen durfte.

      In der Tat, das Befinden des gelähmten Knaben besserte sich in der reinen, salzhaltigen Sonnenluft von Tag zu Tag. Bald färbte sich auch sein wachsbleiches Gesicht ein wenig rosig. Und als die rotweißen Strandkörbe alle wieder aus dem Seesand emporwuchsen, als die Sommerferien wieder ins Land zogen, konnte er bereits die ersten Gehversuche machen. Freilich noch an Stöcken, aber es war doch immerhin ein Anfang.

      Herr und Frau Hauptmann Eberhard, Gerdas Eltern, kamen über die Sommerferien nach Wittdün. Wie glücklich waren sie, ihr Töchterchen geheilt wiederzusehen. Nach Ablauf der Ferien sollte Gerda wieder mit ihnen nach Breslau heimkehren.

      Auch Annemaries Jahr an der Nordsee näherte sich nun seinem Ende. Sie hatte so sehr gehofft, daß ihre Eltern mit Hans und Klaus im Juli ebenfalls nach dem Nordseebad kommen würden. In jedem Brief an die Brüder hatte sie herrliche Pläne mit ihnen zusammen geschmiedet, wie sie ihnen alles auf der Insel zeigen wollte. Freilich an ihren Abschied von Villa Daheim, da mochte die Annemarie gar nicht denken. Die Tränen traten ihr in die Augen, sobald man davon sprach. Doktors Nesthäkchen, das vor einem Jahre durchaus nicht ins Kinderheim wollte, löste sich jetzt unsagbar schwer von den lieben Menschen allen und dem frohen Leben am Meeresstrand. Denn daß die Eltern sie dann gleich nach Berlin mit zurücknehmen würden, war sicher. Aber es kam anders, wie Annemarie es sich ausgemalt hatte. Die Mutter reiste während der Sommermonate nach England, wo sie Verwandte hatte. Auf der Rückreise im August wollte sie dann ihr Nesthäkchen von der Insel Amrum abholen. Dem Vater hatte das Wandern im Hochgebirge mit seinen beiden Jungen so gut gefallen, daß er wieder mit ihnen nach Tirol zu fahren beschloß. So wurde nichts aus den gemeinsamen Ferien auf Wittdün.

      »Wißt ihr’s schon, am nächsten Donnerstag ist Kinderfest – da gibt’s Schokolade und Kuchen im Kurhaus, und abends machen wir einen Fackelzug«, Annemarie rief es aufgeregt einigen kleinen Berlinerinnen, mit denen sie sich während der Ferien angefreundet hatte, zu.

      »Au – fein – dann ziehe ich mein rosa Battistkleid an, und ich mein hellblaues Blümchenkleid«, die eitlen kleinen Damen machten einen Luftsprung vor Freude.

      »Und Blumenkränze dürfen wir uns ins Haar setzen, und Spiele mit Preisverteilungen werden auf dem Kurhausplatz gespielt – – –«

      »Und dann findet ein Burgenwettbewerb statt«, fiel Gerda der Freundin ebenfalls in heller Vorfreude ins Wort. »Wer seine Burg am schönsten schmückt, der wird preisgekrönt und bekommt ein Geschenk!«

      »Famos – ich weiß schon, womit wir unsere Burg schmücken, aber ich sag’s nicht! Doch, Gerdachen, dir vertrau’ ich’s an, und auch dem Kurt, wir drei wollen zusammen unsere Burg fein machen«, die beiden Freundinnen neigten tuschelnd die Köpfe zusammen.

      Die kleinen Berlinerinnen und bald auch der größte Teil der andern Kinder begannen ebenfalls eifrig zu beraten, wie man wohl den Preis für die schönste Burg gewinnen könne. Aus Muscheln, Blumen und Seetang ließen sich in dem weißen Dünensande allerlei nette Figuren legen.

      Auch unter den erwachsenen Badegästen am Strande und auf der sogenannten »Trampelbahn« sah man aufgeregte, eifrig beratende Gruppen. Aber deren Überlegungen galten nicht dem Kinderfest und dem Burgenwettbewerb. Die waren ernsterer Natur.

      Österreich hatte Serbien den Krieg erklärt. Das brachte die Gemüter in Aufruhr. Oder vielmehr die Möglichkeit, daß Deutschland als Österreichs Bundesgenosse, falls Rußland feindlich vorging, in den Krieg mit hineingezogen werden könnte. Sollte man abreisen oder bleiben – keiner wußte, was das Richtige war.

      Die spielenden Kinder unten am Strande ahnten nichts von der Gefahr, die ihrem Vaterlande drohte. Sie schnappten wohl aus den Gesprächen der Großen mal das Wort »Krieg« auf, aber sie verstanden es gar nicht. »Krieg«, den gab’s bloß in der Geschichtsstunde, allenfalls noch zwischen den Geschwistern daheim.

      Immer heißer brannte die Sonne vom Himmel herab, als gebe sie sich ganz besondere Mühe, den Badegästen zu zeigen, wie schön es in Wittdün sei. Aber all ihr Flimmern und Gleißen nützte nichts – eine Familie nach der andern reiste in dieser letzten Juliwoche nach Haus. Alles Jammern der Kinder wegen des bevorstehenden Kinderfestes, auf das sie sich so gefreut, und das sie nun nicht mehr mitmachen konnten, war umsonst.

      Zuerst waren es nur die ganz ängstlichen Gemüter, die Reißaus nahmen. Aber die meisten Familien hielten schon heimlich ihre Koffer gepackt und warteten nur auf Telegramme aus der Heimat, die sie zurückriefen. Von Tag zu Tag wuchs die Zahl der Abreisenden. Die Mittagstafeln in den Hotels wurden kleiner und kleiner. Die Post wurde umlagert, ebenso das Lesezimmer, in dem die neuesten Zeitungsnachrichten auslagen.

      Mit großen, ziemlich verständnislosen Augen blickten die Kinder in das aufgeregte Treiben. Ihr Denken gipfelte in dem Schmuck ihrer Burgen zu dem Kinderfest.

      Annemarie, Gerda und Kurt hatten einen wunderhübschen Einfall. Eine kleine friesische Bauerndeern mit einer Gänseherde legten sie auf ihrem Burgwall aus weißen, blauen, rosa, und gelblichen Muscheln, großen und kleinen. Die Gerte, mit der die kleine Deern die Gänse vor sich hertrieb, wurde aus Seetang kunstvoll verfertigt. Kurt war besonders erfinderisch, Gerda wußte nach seinen Angaben die Muscheln ganz allerliebst zu legen. Annemarie aber hatte das Ausschmücken der Burg mit Blumen übernommen. Dem lebhaften Wesen des kleinen Mädchens dauerte das Zusammensetzen der Muscheln zu Bildern viel zu lange. Eifrig bewunderte sie, wie ein Gänschen nach dem andern unter Kurts und Gerdas geschickten Händen entstand. Dazwischen aber hatte sie noch Zeit, nach den benachbarten Burgen zu schielen, ob die auch ja nicht schöner wurden als die ihrige.

      Da sah man einen Zeppelin aus Muscheln, ein Torpedoboot mit Kanonen, ein Segelschiff und ein Flottenbild. Nanu, was bauten denn Gretchen und Elschen, die beiden kleinen Berlinerinnen, da drüben? Angestrengt äugte Annemarie hinüber zu den beiden.

      Herrjeh – das wurde ja der Struwwelpeter, nein, war das aber ulkig! Sein Zottelhaar war aus schwarzem Seetang vorzüglich nachgebildet, ebenso die langen Nägel. Hellauf mußte Annemarie lachen.»Gerda und Kurt, seht doch bloß mal, was Gretchen und Elschen Feines machen. Den Struwwelpeter – ach, die werden uns doch nicht etwa den ersten Preis fortschnappen?« Ein wenig ängstlich verglich sie die beiden Kunstprodukte, das friesische Gänsemädel und den Struwwelpeter, miteinander.

      Nein, Elschen und Gretchen schnappten ihnen nicht den ersten Preis beim Burgenwettbewerb fort. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil – sie selbst fort waren. Auch Gerda sollte nicht mehr den Erfolg ihrer Mühe ernten.

      Genau so, wie sich die Aufregung der noch anwesenden Kleinen am Vorabend des Kinderfestes in seliger Erwartung desselben steigerte, stieg auch das Kriegsfieber der Großen. Die in Wittdün weilenden Offiziere waren am Nachmittag telegraphisch zurückgerufen worden – daß dies drohende Kriegsgefahr bedeutete, konnte sich jeder an den fünf Fingern abzählen.

      Herr und Frau Hauptmann Eberhard ließen sich in größter Hast bei Frau Kapitän Clarsen melden. Schon mit dem nächsten Dampfer, der noch am Abend ging, mußten sie fort. Gerda natürlich mit ihnen.

      In Villa Daheim hatte man die Sachlage bisher gar nicht so ernst angesehen. Man lachte sogar über die Ängstlichen, die sich so schnell ins Bockshorn jagen ließen und Hals über Kopf davonfuhren. Es kamen ja noch täglich neue Badegäste an. Das wäre doch sicher nicht der Fall gewesen, wenn es gar so ernst draußen ausgeschaut Hütte.

      Jetzt freilich, wo das Militär abberufen wurde, kam auch den Damen in Villa Daheim die ernste Gefahr zum Bewußtsein. Es war ein Glück, daß die meisten ihrer Zöglinge ihre Angehörigen jetzt während der Ferien auf Wittdün hatten, da waren die Damen der großen Verantwortung, für die rechtzeitige Heimreise der Kinder Sorge tragen zu müssen, überhoben. Ein Bremer und ein Hamburger Kind wurde vom Vater am Donnerstag selbst geholt. Nur Annemarie, Kurt und Klein-Annekathrein waren ohne Angehörige auf Wittdün.

      Mit ungläubigen Augen sah Doktors Nesthäkchen zu, wie Frau Hauptmann Eberhard im Verein mit Tante Lenchen in höchster Eile Gerdas Sachen zusammenpackte.

      Was – heute noch sollte die Gerda fort, wo morgen das Kinderfest war, auf das sie sich beide so gefreut hatten?

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