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diese paar Illustrationen, welche die Verwendbarkeit des Prinzipes an Beispielen veranschaulichen sollen, die absichtlich der trivialsten Sphäre der tertiären Geschlechtscharaktere entnommen wurden, möchte ich die naheliegenden Anwendungen schließen, die sich mir aus ihm für die Pädagogik zu ergeben scheinen. Eine Wirkung nämlich erhoffe ich vor allem von einer allgemeinen Anerkennung des Gemeinschaftlichen, das diesen und den früheren Tatsachen wie so vielen anderen noch zu Grunde liegt: eine mehr individualisierende Erziehung. Jeder Schuster, der den Füßen das Maß nimmt, muß das Individualisieren besser verstehen als die heutigen Erzieher in Schule und Haus, die nicht zum lebendigen Bewußtsein einer solchen moralischen Verpflichtung zu bringen sind! Denn bis jetzt erzieht man die sexuellen Zwischenformen (insbesondere unter den Frauen) im Sinne einer möglichst extremen Annäherung an ein Mannes- oder Frauenideal von konventioneller Geltung, man übt eine geistige Orthopädie in der vollsten Bedeutung einer Tortur. Dadurch schafft man nicht nur sehr viel Abwechslung aus der Welt, sondern unterdrückt vieles, was keimhaft da ist und Wurzel fassen könnte, verrenkt anderes zu unnatürlicher Lage, züchtet Künstlichkeit und Verstellung.

      Die längste Zeit hat unsere Erziehung uniformierend gewirkt auf alles, was mit einer männlichen, und auf alles, was mit einer weiblichen Geschlechtsregion zur Welt kommt. Gar bald werden »Knaben« und »Mädchen« in verschiedene Gewänder gesteckt, lernen verschiedene Spiele spielen, schon der Elementarunterricht ist gänzlich getrennt, die »Mädchen« lernen unterschiedslos Handarbeiten etc. etc. Die Zwischenstufen kommen da alle zu kurz. Wie mächtig aber die Instinkte, die »Determinanten« ihrer Naturanlage, in derartig mißhandelten Menschen sein können, das zeigt sich oft schon vor der Pubertät: Buben, die am liebsten mit Puppen spielen, sich von ihrem Schwesterlein häkeln und stricken lehren lassen, mit Vorliebe Mädchenkleidung anlegen und sich sehr gerne mit weiblichem Vornamen rufen hören; Mädchen, die sich unter die Knaben mischen, an deren wilderen Spielen teilnehmen wollen und oft auch von diesen ganz als ihresgleichen, »kollegial« behandelt werden. Immer aber kommt eine durch Erziehung von außen unterdrückte Natur nach der Pubertät zum Vorschein: männliche Weiber scheren sich die Haare kurz, bevorzugen frackartige Gewänder, studieren, trinken, rauchen, klettern auf die Berge, werden passionierte Jägerinnen; weibliche Männer lassen das Haupthaar lang wachsen, sie tragen Mieder, zeigen viel Verständnis für die Toilettesorgen der Weiber, mit denen sie vom gleichen Interesse getragene kameradschaftliche Gespräche zu führen imstande sind; ja sie schwärmen denn auch oft aufrichtig von freundschaftlichem Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern, weibische Studenten z. B. von »kollegialem Verhältnis« zu den Studentinnen u. s. w.

      Unter der schraubstockartigen Pressung in eine gleichmachende Erziehung haben Mädchen und Knaben gleich viel, die letzteren später mehr unter ihrer Subsumtion unter das gleiche Gesetz, die ersteren mehr unter der Schablonisierung durch die gleiche Sitte zu leiden. Die hier erhobene Forderung wird darum, fürchte ich, was die Mädchen betrifft, mehr passivem Widerstand in den Köpfen begegnen als für die Knaben. Hier gilt es vor allem, sich von der gänzlichen Falschheit der weit verbreiteten, von Autoritäten des Tages weitergegebenen und immer wiederholten Meinung von der Gleichheit aller »Weiber« (»es gibt keine Unterschiede, keine Individuen unter den Weibern; wer eine kennt, kennt alle«) gründlich zu überzeugen. Es gibt unter denjenigen Individuen, die W näher stehen als M (den »Frauen«), zwar bei weitem nicht so viele Unterschiede und Möglichkeiten wie unter den übrigen – die größere Variabilität der »Männchen« ist nicht nur für den Menschen, sondern im Bereiche der ganzen Zoologie eine allgemeine Tatsache, die insbesondere von Darwin eingehend gewürdigt worden ist – aber noch immer Differenzen genug. Die psychologische Genese jener so weit verbreiteten irrigen Meinung ist zum großen Teile die, daß (vgl. Kapitel III) jeder Mann in seinem Leben nur eine ganz bestimmte Gruppe von Frauen intimer kennen lernt, die naturgesetzlich alle untereinander viel Gemeinsames haben. Man hört ja auch von Weibern öfters, aus der gleichen Ursache und mit noch weniger Grund: »die Männer sind einer wie der andere«. So erklären sich auch manche, gelinde gesagt, gewagte Behauptungen vieler Frauenrechtlerinnen über den Mann und die angeblich unwahre Überlegenheit desselben: daraus nämlich, was für Männer gerade sie in der Regel näher kennen lernen.

      In dem verschieden-abgestuften Beisammensein von M und W, in dem wir ein Hauptprinzip aller wissenschaftlichen Charakterologie erkannt haben, sehen wir somit auch eine von der speziellen Pädagogik zu beherzigende Tatsache vor uns.

      Die Charakterologie verhält sich zu jener Psychologie, welche eine »Aktualitätstheorie« des Psychischen eigentlich allein gelten lassen dürfte, wie Anatomie zur Physiologie. Da sie stets ein theoretisches und praktisches Bedürfnis bleiben wird, ist es notwendig, unabhängig von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung und Abgrenzung gegenüber dem Gegenstande der allgemeinen Psychologie, Psychologie der individuellen Differenzen treiben zu dürfen. Wer der Theorie vom psychophysischen Parallelismus huldigt, wird mit den prinzipiellen Gesichtspunkten der bisherigen Behandlung insoferne einverstanden sein, als für ihn, ebenso wie ihm Psychologie im engeren Sinne und Physiologie (des Zentralnervensystems) Parallelwissenschaften sind, Charakterologie zur Schwester die Morphologie haben muß. In der Tat, von der Verbindung von Anatomie und Charakterologie und der wechselseitigen Anregung, die sie voneinander empfangen können, ist für die Zukunft noch Großes zu hoffen. Zugleich würde durch ein solches Bündnis der psychologischen Diagnostik, welche Voraussetzung jeder individualisierenden Pädagogik ist, ein unschätzbares Hilfsmittel an die Hand gegeben. Das Prinzip der sexuellen Zwischenformen, und mehr noch die Methode des morphologisch-charakterologischen Parallelismus in ihrer weiteren Anwendung gewähren uns nämlich den Ausblick auf eine Zeit, wo jene Aufgabe, welche die hervorragendsten Geister stets so mächtig angezogen und immer wieder zurückgeworfen hat, wo die Physiognomik zu den Ehren einer wissenschaftlichen Disziplin endlich gelangen könnte.

      Das Problem der Physiognomik ist das Problem einer konstanten Zuordnung des ruhenden Psychischen zum ruhenden Körperlichen, wie das Problem der physiologischen Psychologie das einer gesetzmäßigen Zuordnung des bewegten Psychischen zum bewegten Körperlichen (womit keiner speziellen Mechanik der Nervenprozesse das Wort geredet ist). Das eine ist gewissermaßen statisch, das andere eher rein dynamisch; prinzipielle Berechtigung aber hat das eine Unternehmen ebensoviel oder ebensowenig wie das andere. Es ist also methodisch wie sachlich ein großes Unrecht, die Beschäftigung mit der Physiognomik, ihrer enormen Schwierigkeiten halber, für etwas so Unsolides zu halten, wie das heute, mehr unbewußt als bewußt, in den wissenschaftlichen Kreisen der Fall ist und gelegentlich, z. B. gegenüber den von Moebius erneuerten Versuchen Galls, die Physiognomie des geborenen Mathematikers aufzufinden, zu Tage tritt. Wenn es möglich ist, nach dem Äußeren eines Menschen, den man nie gekannt hat, sehr viel Richtiges über seinen Charakter aus einer unmittelbaren Empfindung heraus, nicht auf Grund eines Schatzes bewußter oder unbewußter Erfahrungen, zu sagen – und es gibt Menschen, die diese Fähigkeit in hohem Maße besitzen – so kann es auch kein Ding der Unmöglichkeit sein, zu einem wissenschaftlichen System dieser Dinge zu gelangen. Es handelt sich nur um die begriffliche Klärung gewisser starker Gefühle, um die Legung des Kabels nach dem Sprachzentrum (um mich sehr grob auszudrücken): eine Aufgabe, die allerdings oft ungemein schwierig ist.

      Im übrigen: es wird noch lange dauern, bis die offizielle Wissenschaft die Beschäftigung mit der Physiognomik nicht mehr als etwas höchst Unmoralisches betrachten wird. Man wird auf den psychophysischen Parallelismus genau so eingeschworen bleiben wie bisher und doch zu gleicher Zeit die Physiognomiker als Verlorene betrachten, als Charlatane, wie bis vor kurzem die Forscher auf hypnotischem Gebiete; trotzdem es keinen Menschen gibt, der nicht unbewußt, keinen hervorragenden Menschen, der nicht bewußt Physiognomiker wäre. Der Redensart: »Das sieht man ihm an der Nase an« bedienen sich auch Leute, die von der Physiognomik als einer Wissenschaft nichts halten, und das Bild eines bedeutenden Menschen wie das eines Raubmörders interessiert gar sehr auch alle jene, die gar nie das Wort »Physiognomik« gehört haben.

      In dieser Zeit der hochflutenden Literatur über das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, da der Ruf: »Hie Wechselwirkung!« von einer kleinen, aber mutigen und sich mehrenden Schar dem anderen Ruf einer kompakten Majorität: »Hie psychologischer Parallelismus!« entgegengesetzt wird, wäre es von Nutzen gewesen, auf diese Verhältnisse zu reflektieren. Man hätte sich dann freilich die Frage vorlegen müssen, ob nicht die Setzung einer wie immer gearteten Korrespondenz zwischen Physischem und Psychischem

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