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Der Stromschlag wirft mich fast um.

      „Fünfzehn Treffer für Keller“, meint Tarmo und wirft einen scharfen Blick auf Felix, der mir den Siegerdaumen zeigt.

      Der Schmerz verebbt schneller als gedacht. Jetzt bin ich hellwach. Konzentriert verfolge ich die Blinkmuster bei den anderen. Morry bewegt sich fahrig, anscheinend bringt ihn das durchdringende Piepsen komplett aus dem Konzept. Nach dem Stromschlag schleicht er wie ein geprügelter Hund auf seinen Platz zurück.

      Ich schnaufe gereizt. Das ist alles so unnötig, so würdelos! Stirnrunzelnd sehe ich zu Kohen hinüber. Der weicht meinem Blick aus.

      „Kann man wenigstens den Ton mal ausschalten?“, fragt Felix. „Das Gefiepe tötet mir noch den letzten Nerv.“

      „Das würde dir so passen“, entgegnet Tarmo knurrend. „Der Ton gehört dazu.“

      Der Ton gehört dazu. Dreimal wiederhole ich den Satz im Stillen, ohne dass sich eine einzige Feuerameise rührt. Das stimmt also wirklich. Piepsen und Blinken gehören zusammen. Steckt da vielleicht ein System dahinter? Hat Tarmo eine feste Abfolge einprogrammiert, damit er locker abräumen und den großen Macker spielen kann, während wir hier verzweifeln? Zutrauen würde ich es ihm.

      „Ist das wirklich ein Zufallsmodus?“, frage ich halblaut in Kohens Richtung. „Komplett unvorhersehbar?“

      Tarmo hat es gehört und wirft Kohen einen drohenden Blick zu. Der steht immer noch mit verschränkten Armen und versteinerter Miene da. „Jawohl, ein Zufallsmodus“, antwortet er tonlos.

      Ich horche auf. Seine flache Stimme lässt meine Ohrläppchen kribbeln. Aaa-ha! Wenn es ein System gibt, kann ich es knacken.

      Konzentriert höre ich auf die Geräusche und beobachte die Abläufe aus Argusaugen. Die schrille Melodie frisst sich in mein Ohr. Sie wiederholt sich – und mit ihr die Positionen der Leuchtkugeln! Immer nach zwölf, nein, nach elf Tönen ändert sich das Blinkmuster. Wie genau ändert es sich? Die Holgramme tanzen vor meinen Augen.

      Ich hab’s! Das Muster wird nach elf Tönen gespiegelt, erst horizontal, dann vertikal. Mit verbissener Anspannung verfolge ich die Übungen der anderen und zucke vor Mitgefühl, wenn sie unnötige Stromschläge einstecken, weil sie sich nur auf ihre Augen verlassen.

      Als ich wieder dran bin, muss ich erst meine schweißnassen Hände am Overall abwischen, bevor ich mich in Position stelle. Ich lausche, spreche im Kopf die Abfolge mit, weiß, wie es weitergeht, und tippe mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die Hologramme. Es läuft, es läuft, ich erwische alle Leuchtbälle und blinzle perplex, als sich die Anlage abschaltet.

      „Hundert Treffer, volle Punktzahl.“ Tarmo schaut zweimal auf seine Anzeige, erst erstaunt, dann angewidert, als wäre das ein schlechter Scherz. Während sein Blick von der Zahl zu mir wandert, verfinstert sich seine Miene immer mehr.

      „Raus hier, alle“, befiehlt er knurrend. Schnell drehen wir uns zum Ausgang.

      „Du nicht, Keller!“ Seine Anweisung trifft mich wie ein neuer Stromschlag.

      Breitbeinig stellt sich Tarmo vor mir auf. „Was soll das? Von null auf hundert? Du willst mich wohl verarschen?“ An seiner glatt rasierten Schläfe pulsiert eine dunkelblaue Ader. Bevor ich zu einer Erklärung ansetzen kann, geht er auf Kohen los und sticht ihm mit seinem Zeigefinger fast in die Augen. „Das warst du! Du! Du hast ihr den einprogrammierten Code verraten! Steckst du mit ihr unter einer Decke?“

      Kohen hebt beschwichtigend die Hände. „Lass uns in Ruhe darüber reden – unter vier Augen“, bittet er und bedeutet mir zu verschwinden. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

      Wenn Tarmo mir die Punkte streicht, falle ich auf den letzten Rang. Dann bin ich vom ersten Tag an als Loser abgestempelt. Der Gedanke verfolgt mich bis zum Abendessen. Über die Felix-Witze am Büffet kann ich nicht lachen, sie kommen mir vor wie sinnloses Geplapper. Ich achte nicht darauf, was ich mir auf den Teller lade, setze mich neben ihn und schiebe das Essen appetitlos hin und her. Mila scheint es genauso wenig zu schmecken, denn sie verabschiedet sich schon nach der Suppe. Als ich es auch nicht mehr aushalte, entschuldige ich mich bei Felix und verlasse den Speiseraum in Richtung Schlafsaal. Ich brauche dringend frische Luft.

      Draußen auf dem Balkon ist es düster, dichte Regenwolken verdecken den Blick ins Tal. Aus dem grauen Dunst greifen die Äste großer Bäume wie riesige Finger nach mir.

      Mila kauert auf dem Steinboden. Die Helligkeit, die aus unserem Schlafraum dringt, hat eine Schar grüner Geckos angelockt, die durch die Lichtflecken huschen. Geduldig wartet Mila mit kleinen Obststücken in der Hand. Die flinken Tiere beobachten sie aus glänzenden, orange umrandeten Knopfaugen. Meine Schritte allerdings schrecken die Geckos auf, und sie suchen Schutz in der Dunkelheit.

      Mila schaut hoch. „Wie geht‘s dir?“

      „Nicht so toll. Wenn mir Tarmo die Punkte vom Reaktionstest abzieht, gehe ich mit einer glatten Null aus den ersten zwei Übungen. Das hat vor mir noch keine geschafft.“

      „Das wäre echt unfair“, entgegnet Mila. „Andererseits haben wir hier noch drei Monate. Was zählen da schon die ersten Übungen?“

      „Eine ganze Menge! Der erste Eindruck bleibt hängen. Wenn ich von Anfang an als Loser dastehe, habe ich einen verdammt schweren Stand.“

      „Hmm, da ist was dran.“ Während Mila überlegt, wagt sich der erste Gecko zu ihren Fingerspitzen vor, stibitzt schnell einen Obsthappen und flitzt davon. „Du könntest Kohen bitten, dass er sich für dich einsetzt“, meint sie.

      Ich sehe Kohens Gesicht vor mir. Mila liegt wohl richtig -wenn ich von irgendwem Hilfe erwarten kann, dann von ihm. Seine warme Stimme hat mich durch die Operation geführt. Sogar beim Schießtraining hat er mir unter die Arme gegriffen. „Andererseits …“ Mila seufzt. „So wie ich Tarmo kenne, würde der Schuss nach hinten losgehen. Von Kohen lässt er sich aus Prinzip nichts sagen, ist mein Eindruck. Die beiden können sich wohl nicht ausstehen.“

      „Das Gefühl habe ich auch.“

      „Du musst also mit Tarmo selber sprechen.“

      „Ich weiß nicht …“ Das Grinsen des glatzköpfigen Chamäleonkillers taucht vor meinem inneren Auge auf, aber Milas Zuversicht gibt mir Mut. „Du hast recht“, stimme ich ihr zu. „Ich rede mit ihm.“

      Bevor ich es mir noch anders überlegen kann, laufe ich los. Bestimmt kümmert Tarmo sich abends um seine Sandviper vorne im Appellraum. Auf dem Weg durch den Glasgang werden meine Schritte immer langsamer, und ich muss mich zwingen, weiterzugehen. Emony, los, weiter, befehle ich mir. Das ziehst du jetzt durch!

      Als ich den Raum mit dem Terrarium leer vorfinde, ertappe ich mich dabei, erleichtert aufzuatmen. Aber ich kann nicht so einfach wieder verschwinden, das löst schließlich nicht mein Problem. Also warte ich beim Schlangenterrarium. Sonora liegt bewegungslos in ihrem Glaskasten. Was frisst sie wohl, wenn Tarmo gerade kein Chamäleon zur Hand hat?

      Sonoras reglose Augen hypnotisieren mich. Die Viper und das Chamäleon. Tarmo und ich. Irri hatte keine Chance. Werde ich eine haben?

      Das derbe Lachen von Dart und Bolt reißt mich aus den trüben Gedanken. Jeder sieht aus wie ein halber Tarmo. Breitbeinig stellen sie sich vor mir auf.

      „Da ist ja die Hundert-Treffer-Bitch“, sagt Dart und schaut auf mich herunter.

      Mein Rücken versteift sich.

      „Hast du‘s schon gehört? Morgen ist Nahkampf dran. Da üben wir Terroristen auszuschalten. Wenn ich gegen dich dran bin, werde ich mich nicht zurückhalten. Ich liefere dir eine sehr realistische Show“, meint er und dehnt seine Worte, damit es effektvoller rüberkommt.

      „Sehr realistisch“, betont sein Bruder.

      Was für Schwachköpfe. „Realistisch?“, entgegne ich. „Echte Terroristen haben doch viel mehr Hirn als ihr. Viel mehr.“

      Das hätte ich nicht sagen dürfen. Bolts Gesicht verzerrt sich vor Wut, er tickt völlig aus. Er springt auf mich zu, stößt

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