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allein gestellt … Den letzten Gedanken in seinem Hinterkopf nachhallend lehnte er sich auf dem Holzstuhl zurück und ließ bereitwillig das wohlige Gefühl der Geborgenheit an seiner Lederhose hinaufklettern. Die Flammen tanzten vor seinen Augen und der Wein begann zu wirken.

       Warum Ismail in jener Nacht erwacht war, wusste er nicht mehr. Er wusste nur noch, dass er auf einmal hellwach war und den Drang verspürte, nach unten zu gehen. Sein Elternhaus stand in der Mitte eines Vierkanthofes und hatte zwei Etagen. Eigentlich sogar drei, wenn man den Dachboden und das danebenliegende Gästezimmer mitzählen wollte. Er selbst lebte mit seinen beiden Brüdern in der ersten Etage, während seine Eltern ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss hatten.

       Nun saß Ismail in seinem Bett und horchte in die Nacht. Er wusste genau, dass etwas nicht stimmte, konnte aber im gesamten Haus und auf dem Hof kein verdächtiges Geräusch wahrnehmen. Und in einem Dorf in der Südlichen Provinz hört man nachts wirklich alles - und zwar überall. Doch in dieser Nacht war da kein Geräusch. Mit seinen Beinen immer noch unter der warmen Decke schaute er gedankenverloren in das dunkle Zimmer. Er konnte schemenhaft Kleiderschrank und Sekretär erkennen, welche im Dunkeln auf der anderen Seite des Zimmers standen. Oder war das nur eine Erinnerung?

       Da ihn das schlechte Gefühl nicht losließ, entschied sich Ismail dazu, aufzustehen. Kaum, dass er seine Decke zur Seite schlug und sich auf die Bettkante setzte, zog die Kälte der Nacht schon an seinen Beinen empor. Es war inzwischen zwar Sommer, aber diese Nacht ist ihm als kalt in Erinnerung geblieben. Vorsichtig stand er auf und zog sich seine Leinenhose an, welche er vor dem Schlafengehen über den alten Herrendiener geworfen hatte. Er ließ die anderen Kleidungsstücke, die dabei zu Boden fielen, einfach liegen und ging zur Zimmertür. Immer noch kein Geräusch. Aber dafür ein Dämmerlicht, welches sich mühsam die Treppe vom Erdgeschoss in die erste Etage empor kämpfte. Trotz einer gewissen Vertrautheit, war er sich sicher, dass es sich bei dem Lichtschein nicht um das Lichtspiel des Kamins, welches er genau von dieser Stelle so oft beobachtet hatte, handelte.

       Das war in besseren Zeiten gewesen. Als noch jemand vor dem Kamin auf ihn wartete oder seine Eltern Besuch empfingen und er die Gesellschaft von hier oben heimlich belauschte. Das Lichtspiel der Flammen war damals unberechenbar - immer wieder neu und unerwartet. Ismail konnte es stundenlang beobachten. Doch jetzt war das Licht stetig und langweilig.

       Irgendwie weit weg und nicht so einladend wie das Kaminfeuer. Wer möchte schon in so einem Licht auf jemand anderen warten. Er schaute nach links zu den Zimmern seiner Brüder. Beide Türen waren verschlossen. Alle schliefen. Vorsichtig ging er zur Treppe, da er niemanden wecken wollte. Zum Beispiel seine Tante, die im Gästezimmer neben dem Dachboden schlief. Sie war seit dem Tod seines Vaters regelmäßig an den Wochenenden auf dem Hof zu Gast und wollte Ismail, seinen Brüdern und ihrer Mutter beistehen.

       Vorsichtig trat er auf die alte Holztreppe. Er musste jetzt vorsichtig sein, da die Treppe an vielen Stellen knarrte. Und obwohl er die meisten dieser Stellen kannte, konnte er nie ganz ein Knarren vermeiden. Dies war auch einer der Gründe, warum er im Regelfall über den Balkon abhaute, wenn er sich nachts raus schlich. Ohne jemanden auf sich aufmerksam zu machen, kam er am unteren Ende der Treppe an. Der Kamin war aus. Ismail spürte die Kälte des Fliesenbodens als er den letzten Schritt von der Holztreppe machte. Das Licht kam aus dem Schlafzimmer seiner Mutter, wahrscheinlich eine Kerze oder Nachttischlampe.

       Auch konnte er jetzt eine Stimme vernehmen. Behutsam schlich er über die Fliesen und erkannte die Stimme seiner Tante. Sie schimpfte. Sie schimpfe mit seiner Mutter. Ismail schlich weiter voran und erreichte die Schlafzimmertür. Noch immer das Geschimpfe seiner Tante. Auch er war wütend darüber, dass seine Mutter seit dem Tod seines Vaters so viel trank, doch schimpfte er nicht. Er weinte. Ismail wagte einen Blick durch den schmalen Spalt der Schlafzimmertür und sah seine Mutter auf ihrem Bett liegen. Sie bewegte sich langsam und unkontrolliert, brabbelte unverständlich vor sich hin. Wahrscheinlich war heute wieder eine jener Nächte gewesen, in denen seine Mutter seinen Vater besonders vermisst hatte. In solchen Nächten neigte sie dazu, sich hemmungslos zu betrinken und gedanklich in eine Zeit zurückzukehren, in der ihre Welt noch in Ordnung gewesen war.

       Nur konnte sie niemanden mit in diese Welt nehmen. Sie lebte dort vollkommen isoliert von der Realität. Vollkommen isoliert von Ismail.

       Er bemerkte, dass seine Mutter sich im Rausch beschmutzt hatte. Seine Tante entfernte den Kot seiner Mutter mit Handtüchern aus dem Bett und schimpfte. Seine Mutter starb in dieser Nacht und das Letzte, was Ismail von ihr sah, war das mit Kot beschmutzte Bett und die schimpfende Tante.

       Schnell wandte er sich ab und schlich zurück zu der großen Holztreppe. Er huschte Schritt für Schritt die Treppe empor und verschwand wieder in seinem Zimmer. Leise packte er seine nötigsten Utensilien zusammen und zog sich an. Ismail verließ in jener kalten Sommernacht sein Elternhaus ungesehen über den Balkon, da er niemanden unnötig wecken wollte.

      Ismail schreckte hoch. Der Tagtraum war vorbei. Die Taverne noch immer voller Gäste und das Kaminfeuer so lebendig wie zuvor. „Wir alle tragen unsere Last, Mensch.“ Die rothaarige Zwergenkriegerin hatte sich inzwischen erhoben und legte Ismail im Vorbeigehen verständnisvoll ihre gepanzerte Hand auf die Schulter.

      7

      „Guten Morgen, Professor von Weidenheim“, begrüßte der schlaksige Assistent Stanislaw und zeigte mit einer einladenden Geste auf einen Holzstuhl vor der Bürotür, „die Senatsvorsitzende wird Sie gleich empfangen können. Bitte nehmen Sie solange Platz.“

      „Vielen Dank. Ist der Abgesandte des Kaiserreiches bereits bei der Senatsvorsitzenden? Mir wurde heute Morgen beim Frühstück berichtet, er wäre bereits heute Nacht in Freistadt eingetroffen. Ich hatte erst in ein paar Tagen mit ihm gerechnet.“

      „Das stimmt, Herr Professor“, entgegnete der Mann ein wenig schuldbewusst. „Der Abgesandte traf bereits heute Nacht ein und befindet sich nun im Gespräch mit Frau Seidel. Die Senatsvorsitzende war ebenso überrascht wie Sie – das kann ich Ihnen versichern. Scheinbar reist der Abgesandte ohne jegliche Eskorte … wirkt fast innoffiziell.“

      Stanislaw von Weidenheim missfiel der geschwätzige Ton des Assistenten. „Möglich“, bemerkte er ungerührt und entließ den Mann durch einen ernsten Blick, woraufhin dieser ein wenig verunsichert zu seinen Pflichten zurückkehrte. Dass ausgerechnet ein Abgesandter des Kaiserreichs ohne offizielle Eskorte in die Fünf Provinzen reist, ist ungewöhnlich, überlegte der Magier als er sich auf dem ihm angebotenen Holzstuhl niederließ. Wollte er lieber schnell oder unerkannt reisen? Der Stuhl war hart, ungemütlich und drückte am Gesäß.

      Das Büro der Senatsvorsitzenden befand sich wie der Senatssaal im Wächter der Freiheit, jedoch ein Stockwerk darüber. Eigentlich hatte Stanislaw für diesen Tag einen persönlichen Termin mit Stefanie geplant, um sich über ihre Motive klarzuwerden. Nach der Senatssitzung am gestrigen Abend hatte er die halbe Nacht damit verbracht, die bisherigen Informationen im Geist zusammenzufügen. Obwohl er noch keine endgültigen Schlüsse ziehen wollte, war er sich sicher, dass Stefanie insgeheim ein Ziel verfolgte, welches weder ihm noch den Senat bekannt war. Stanislaw wusste, dass seine ehemalige Schülerin als Vorsitzende des Senates das wirtschaftliche Wachstum Freistadts konsequent vorantrieb und dabei die sozialen Probleme, welche mit Wachstum und Industrialisierung einhergingen, wissentlich in Kauf nahm. Ein Umstand, der ihn durchaus störte.

      Doch dementgegen suchte Stefanie den durchaus vernünftigen Dialog mit den Großgrundbesitzern im Süden, dessen Verhältnis zu Freistadt über lange Zeit durch Misstrauen und Neid geprägt worden war. Dabei war die Südliche Provinz nicht nur ein unentbehrlicher Lieferant von Lebensmitteln, sondern auch eine Quelle steten Nachschubs an Arbeitskraft. Zwar lebte der Großteil der Bevölkerung dort noch immer in Unfreiheit, doch selbst dies wollte Stefanie nun ändern. Sie wollte die Bauern aus ihrer Leibeigenschaft befreien! Es ist paradox … Was hat Stefanie nur vor? Und wofür braucht sie auf einmal so viele Menschen? Für die Fabriken? Wohl kaum … Freistadt platzt jetzt schon aus allen Nähten.

      Seine

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