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Sekretär des Bischofs und schließlich als Spiritual am Priesterseminar.

      Das Seminar (wörtlich übersetzt »Samenbeet«) als verbindlicher Ort der Ausbildung zukünftiger Priester ist eine der wichtigsten Errungenschaften des Reformkonzils von Trient. In dem sogenannten Seminardekret ordnete das Konzil für jede Diözese die Errichtung eines Seminars an und dessen qualifizierte Leitung durch Regens, Subregens und Spiritual. So sollte der oft bedenklich niedrige Bildungsstand des Klerus gehoben werden, sollten geistlich und sittlich gefestigte Priester aus den Seminarien in die Seelsorge entlassen werden. Ein besonders eifriger Umsetzer des Seminargedankens war Carlo Borromeo, der heilige Erzbischof von Mailand. Alle seine Apostolischen Visitationsreisen hatten die Gründung oder, wenn eines schon existierte, die strenge Prüfung eines Priesterseminars auf dem Programm. So war auch das Seminar von Bergamo von seiner Gründung an eng mit Carlo Borromeo verbunden. Angelo Roncalli, ein großer Verehrer des heiligen Erzbischofs, hat 1910 als Bischofsekretär in »seinem« Diözesanblatt Vita Diocesana die schwierigen Anfänge des Seminars von Bergamo und die ernüchternde Bilanz der Visitation durch Carlo Borromeo beschrieben: mangelnde Disziplin, finanzielle Unregelmäßigkeiten, durchschnittliche Lehrer und schlechte Studienerfolge, wenig begeisterte geistliche Leiter, schließlich die Unfähigkeit des Bischofs, sich gegen den Stadtrat durchzusetzen und Jesuiten nach Bergamo zu verpflichten, die in anderen Städten bereits erfolgreich Priesterseminare leiteten. Ein recht engherziger Regelkanon für die Zöglinge und Alumnen geht ebenso auf den heiligen Karl Borromäus zurück wie die für lange Zeit charakteristische Gebäudeform von Seminarien.

      Pädagogisch war Strafe verpönt, zum Lernen sollte eher Freude als Furcht motivieren, Zuspruch eher als Drohung. Jede Insultierung eines jungen Seminaristen, körperlich oder seelisch, wurde als Skandal angesehen, dem der biblische Mühlstein um den Hals gebührt. In ihren Grundzügen traf diese Beschreibung des tridentinischen Seminars auch noch 1895, als der vierzehnjährige Angelo Roncalli vom Knabenkonvikt des Seminars von Bergamo ins Seminar der Kleriker aufstieg.

       Das Seelentagebuch

      Bald nach seinem Eintritt ins Priesterseminar kaufte sich Angelo ein Notizbuch mit 64 karierten Seiten und steifem schwarzen Einband, auf dessen Innenseite der Vierzehnjährige schrieb: »Lebensregeln für junge Männer, wenn sie im religiösen Leben Fortschritte machen wollen.« Das war die erste Eintragung in einem »Giornale dell’ anima«, dem geistlichen Tagebuch, wie es Roncalli bis an sein Lebensende weiterführen wird – und dessen Veröffentlichung sechzig Jahre später, ein Jahr nach seinem Tod, weltweite Verbreitung finden wird. Offenkundig hatte sich Angelo während der drei ersten Jahre im Konvikt einen so guten Ruf erworben, dass er zu den wenigen Auserwählten zählte, denen der Spiritual die sogenannte Kleine Regel überreichte. Angelo erweiterte sie zu seiner individuellen Lebensregel und ging so auch auf erkannte Schwächen und Neigungen ein. »Er schrieb sie mit der Hand in kleiner Schrift ab, bewahrte sie immer bei sich auf und befolgte sie, auch noch als Papst«, berichtet sein ehemaliger Sekretär Capovilla.

      Gleich nach der Überschrift findet sich ein Satz, der den schwatzsüchtigen Kleriker Roncalli, zumindest in seiner Selbsteinschätzung, ein Leben lang zu schaffen machte: »Leeres Geschwätz aus dem Munde von Weltmenschen ist nur Geschwätz, aus dem Munde von Priestern aber ist es Gotteslästerung. – Nugae quae in ore saecularium nugae sunt, in ore sacerdotum blasphemiae.«

      Dann folgt ein Zitat aus dem Tridentiner Dekret über den »vorbildlichen Priester«, der überall einen »ernsten, maßvollen und gottesfürchtigen Eindruck« zu hinterlassen habe. Unverzichtbar auf »dem Weg der Frömmigkeit und der Studien« ist für den angehenden Priester, sich aus den vorbildlichsten und klügsten Männern einen geistlichen Führer zu wählen, dem er sich wirklich uneingeschränkt anvertrauen kann.

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       Angelo Roncalli, Stipendiat am Seminario Pontificio S. Apollinare, Rom 1901

      Dann folgte die »geistliche Checkliste«. Sie enthält (1) zwölf Punkte für jeden Tag: geistliche Lesung, mehrere Male Gewissenserforschung, Besuch des Allerheiligsten, Gebete, wenigsten drei Akte der Selbstverleugnung; (2) sieben Punkte für jede Woche: beichten und kommunizieren, Freitag und Samstag fasten, jeden Samstag »ein Tugendbeispiel oder Wunder der Muttergottes erzählen«; (3) fünf Punkte für jeden Monat: Einkehr und Selbstprüfung, einen Studienkollegen um Kritik bitten, den geistlichen Vater zwecks Bekenntnis der Verfehlungen aufsuchen, monatlich einen besonderen Schutzpatron wählen; (4) vier Punkte für jedes Jahr: Exerzitien, Jahresbeichte, Verhaltensregeln für die Ferien erbitten; (5) und schließlich neun Punkte für jede Zeit: sich vor »schlechten Kameraden« hüten, mit Frauen auch die kleinste Vertraulichkeit meiden, Frauen »nicht ins Gesicht starren«, auf Karten- und Würfelspiele verzichten, sich nicht duzen oder mit den Händen anfassen, außerhalb der Mahlzeiten nicht essen oder trinken, oft darüber nachdenken, dass in unserer Seele Unwissenheit und Sünde herrschen, Beleidigungen ertragen, immer schicklich und mit dem geistlichen Gewand bekleidet sein.

      Insgesamt also dreiundfünfzig Verhaltensregeln, die einzuhalten sich der Vierzehnjährige fest vorgenommen hatte. Wen wundert es da, dass in den folgenden Eintragungen über Jahre hinweg Selbstbezichtigungen der Untreue, der Unfähigkeit und der Unwürdigkeit den Ton angeben: »Mein Gott, ich schäme mich, Du hast mir so viele Gnaden geschenkt, dass ich ein Heiliger sein müsste, statt dessen bin ich ein großer Sünder.«

      Und dann die Angst! Es kann allerdings auch sein, dass das Erschrecken vor dem Zorn Gottes, ja die Angst vor der Hölle, die sich in den frühen Tagebucheintragungen finden, nicht sosehr der eigenen Erfahrung entstammen, als dass sie viel eher dem Stil und dem Wortschatz der geistlichen Literatur der Jahrhundertwende nachempfunden sind. Denn andere Lektüre als aszetische und erbauliche Schriften ist den Alumnen um die Jahrhundertwende ja kaum unter die Augen gekommen, fiel doch auch das Lesen der Tageszeitung unter das Verdikt der dreiundfünfzig Regeln. Wenn Angelo in den Ferien doch einmal Zeit mit Zeitunglesen »vertrödelte«, nahm er es reumütig in das Sündenregister für die wöchentliche Beichte auf. Was hat er da nicht alles aufgelistet, wovon er, zumindest in der kleinlich übertriebenen Tagebuchführung, überzeugt war, dass es einmal »vor das Gericht kommt«: Zerstreuung im Gebet, geistreiche und selbstgefällige Bemerkungen, Tagträume, Luftschlösser und Kartenhäuser, während des Stillschweigens gesprochene Worte, Eitelkeiten, Hochmut und dergleichen. Die alterstypischen Versuchungen der erwachenden Sexualität scheint er erfolgreich bekämpft zu haben. Mit sechzehn Jahren widmet er ein ganzes Kapitel des Tagebuchs »der heiligen Reinheit.« Er berichtet einmal, wie er sie zu bewahren gedachte: »Abends vor dem Einschlafen will ich den Rosenkranz der heiligen Jungfrau um meinen Hals legen, die Arme auf der Brust kreuzen und versuchen, in der gleichen Haltung am Morgen aufzuwachen.« Er fasst auch den Vorsatz, niemals Plakate oder Schaufenster zu betrachten, »wenn sie schamlose Dinge darbieten«, selbst in den Kirchen will er »nie Kunstwerke betrachten, vor allem keine Malereien«, die als anstößig empfunden werden könnten. Beim Weintrinken will sich Angelo auch zurückhalten, »denn im Wein liegt die gleiche Gefahr wie in den Frauen« – offenbar wurde an die Seminaristen zum Essen auch Wein ausgeschenkt.

       Ein Bericht des Wachsens

      Viele Jahrzehnte später, in einer Predigt an seinem achtzigsten Geburtstag, blickt der Papst dankbar zurück auf diese »Jahre der Unschuld« im Seminar und verweist damit auch all die skrupelhaften frühen Selbstbezichtigungen in den Rang der Nichtigkeit. Vieles davon darf man wohl als Imitation jener geistlichen Sprachattitüde ansehen, die sich sogar ein wenig gefiel in ihrem Hang zur Selbsterniedrigung. Doch im Laufe der Jahre tauchen Begriffe wie Strafe, Gericht, Buße in den Schriften immer seltener auf, das Wort Hölle kommt später so gut wie überhaupt nicht mehr vor. Zu Recht nennt der Roncalli-Biograph Peter Hebblethwaite das Geistliche Tagebuch einen »Bericht des Wachsens«. So rücken an die Stelle von Pflicht und Leistung, Strenge und Disziplin zusehends Vertrauen und Ergebung, Barmherzigkeit und Güte, Geduld und Liebe. »Gott weiß ja«, schreibt er im dritten Seminarjahr, »dass ich ihn auch in meiner Armseligkeit liebe. Er möge mich segnen

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