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nur einsam sein kann.“

      Ich habe im Laufe der Jahre mehr als einhundert alte Kapitäne interviewt, doch dieser Satz stand immer heraus. Er bringt so viele Dinge auf den Punkt, die sich auf andere Bereiche des Lebens übertragen lassen.

      Unsere Bücher mit den Abenteuern alter Kapitäne fanden großes Echo. „Ein frommes Buch“, urteilte der Rezensent der Kirchenzeitung „Der Protestant“, trotz der Rotlichtgeschichten, und auch die Redaktionen des SPIEGEL, der ZEIT oder des Fernfahrers lobte die Geschichten. Leser schreiben uns, dass sie sich und Probleme ihres Alltags darin wiederfinden. Sie schreiben auch, dass sie etwas von den alten Kapitänen gelernt haben.

      Das Berufsbild des Kapitäns hat sich stark verändert in den vergangenen Jahrzehnten. Durch den Container hat eine enorme Effizienz Einzug gehalten in der Seefahrt. Die Schiffe werden von Satelliten überwacht, die Fahrpläne von Computern berechnet, die großen Frachter auf See vom Autopiloten gesteuert. Heute sind Schiffe vierhundert Meter lang, beladen mit bis zu 24.000 Stahlkisten. Dennoch bleiben die Schiffe kaum mehr als einen Tag im Hafen. In Terminals wie Altenwerder in Hamburg sieht man keine Arbeiter mehr. Die Container werden nur über die Kaimauer und den Straßenrand mit menschlicher Hilfe befördert. Sämtliche Kräne und Transportfahrzeuge des Containerlagers steuert ein Zentralrechner.

      Viele Geschichten in diesem Buch sind also ein Anachronismus. Sie spielen meist in einer Zeit vor dem Container, als die Seefahrt Abenteuer bot und romantisch schien. Als niemand sagen konnte, wie lange eine Reise dauerte, wenn das Schiff den Hafen verließ. Wer nach einem halben Jahr zuhause war, wurde seltsam angesehen, und manchmal waren die Seeleute ein oder gar zwei Jahre ohne Pause unterwegs. Oft lagen die Schiffe wochenlang auf Reede oder an der Pier, und es blieb Zeit, das Land zu erkunden. Die Welt war größer früher und geheimnisvoller in jener Zeit. War ein Schiff hinter dem Horizont verschwunden, dann dauerte es, bis die Angehörigen wieder etwas hörten. Internet? E-mails? Facebook? Eine ferne Utopie. Wenn überhaupt, kam mal ein Brief an.

      Ein Kapitän in diesem Buch erzählt davon, wie er mit seinem Schiff vor Angola ankam, im Wissen, dass die Kräne der Hafenpier im besten Fall 600 Tonnen am Tag abladen konnten. Sein Schiff aber hatte 14.000 Tonnen an Bord. Als er vor dem Hafen auf Reede ging, wurde ihm bewusst, dass 35 Schiffe vor ihm dran waren. „Wenn ich das heute jungen Kollegen erzähle, sehen sie mich an, als sei Märchenstunde“, sagt er.

      Die Seefahrt früherer Tage bot echte Abenteuer. Exotische Ziele, fremde Kulturen, die Seeleute waren auch Weltentdecker in einer Zeit, in der Langstreckenflüge reiner Luxus waren. Matrosen bereisten in früheren Zeiten mehr Länder als Manager, und für Kapitän Schwandt, unseren bekanntesten Kapitän, führte es dazu, eine tolerante Sicht auf die Dinge zu entwickeln.

      „Auf meinen Reisen habe ich überall gute Menschen und überall Arschgeigen getroffen. Das hatte nichts mit Hautfarbe, Religion oder Pass zu tun.“

      Der Beruf mag sich verändert haben. Der Ruf, den Kapitäne genießen, ist unverändert. Heute müssen sie nicht mehr auf kleinen Schiffen über den Atlantik im Winter und sich darauf verlassen, dass die Wetterberichte und ihr Bauchgefühl bei der Routenplanung stimmen. Heute haben sie Unterstützung von Beratungsagenturen, die exakte Vorhersagen für jeden Ort der Welt parat haben. Doch sie sind verantwortlich für Schiffe und Ladung, die mehr als eine Milliarde Euro wert sein können. Schwere Fehler, etwa auf der Elbe vor dem Hamburger Hafen, haben katastrophale Folgen. Und die See bleibt ein unerbittlicher Gegner, wie es schon Joseph Conrad beschrieb. Gleich in der ersten Geschichte des Buches schlägt eine Riesenwelle die Scheibe aus der Brücke eines hochmodernen Trawlers. Sie war im Stahl verschraubt, doch der Gewalt, die diese Welle entwickelte, konnte sie nicht standhalten.

      „Die Natur ist immer stärker als wir“, sagt Kapitän von Staa.

      Alle Kapitäne, mit denen wir sprachen, empfinden das so. Eine tiefe Demut vor dem Ozean, vor seiner Kraft und Launenhaftigkeit. Wie er sich und das Schiff aus dieser lebensgefährlichen Situation herausbekam, erzählt uns Kapitän von Staa in seiner Geschichte. Darum geht es immer wieder: Ruhe bewahren. Entschlossen handeln, ohne in Panik zu verfallen. Durchhalten! Solange es noch eine Möglichkeit gibt, ist beinahe jede Situation zu bewältigen.

      Es gibt Muster, die man bemerkt, wenn man mit alten Kapitänen zu tun hat: ihre Verbindlichkeit. Ein Wort ist ein Wort, ein Handschlag ein Handschlag, und sie verlassen sich umgekehrt darauf, dass Regeln eingehalten werden. Zu spät zu einem vereinbarten Termin zu kommen, und handelt es sich nur um eine Minute: ein Unding. Die meisten Kapitäne sind deutlich vor der vereinbarten Zeit vor Ort, und sie achten auf Details. Wenn wir einen Seemann mit zu einer Ankerherz-Kreuzfahrt oder unserer Skua-Tour nach Island nahmen, überprüften sie als Erstes die Rettungsmittel an Bord. Sie inspizierten die Fluchtwege, sahen sich die Rettungsboote an, und in einem Fall bekam der diensthabende Wachoffizier einen Anschiss, weil er das Hemd aus der Hose trug. Im Gespräch mit dem Kapitän des Schiffes beim Brückenbesuch erkundigte sich der Seemann dann, ob er seinen Offizier „nicht mal zum Frisör“ schicken wolle?

      Das hat nicht unbedingt mit Spießigkeit zu tun, sondern mit der Erfahrung, dass die meisten großen Unglücke aus einer Verkettung kleiner Verfehlungen und Nachlässigkeiten entstehen. Die Summe minimaler Fehler sorgt am Ende für ein maximales Problem, in einer Umgebung, die lebensfeindlich ist. Einen Ausfall der Maschine im Sturm, ein Feuer an Bord, einen groben Navigationsfehler möchte kein Kapitän erleben. Er setzt daher den Standard in den Details so hoch, dass Fehler schon früh erkannt werden und eine Kettenreaktion gar nicht erst in Gang kommen kann.

      Womit wir beim Thema Menschenführung wären. Das Klischee sieht den brummigen, alten Salzbuckel vor, der Befehle grunzt, Probleme mit sich ausmacht und als einsamer Seewolf übers Meer fährt. Jedes Klischee hat einen wahren Kern. Man merkt diesen Männern an, dass sie nie einen Chef hatten und innerhalb eines vorgegebenen Rahmens selbstbestimmt handeln konnten. Dass dieser Rahmen durch die Digitalisierung der Seefahrt immer enger wurde, sorgt bei alten Kapitänen häufig auch dafür, dass sie bei der Frage, ob sie ihren Beruf heute wieder wählen würden, heftig mit dem Kopf schütteln.

      Aus dem „Master next God“ ist in ihren Augen ein „Transportbegleiter zur See“ geworden. Die Tage, in denen sie das Schiff in eine Bucht legten, um mit der Crew ein paar Stunden am Strand zu entspannen, gehören in die Abteilung „Märchenbuch“. Heute hat jeder Praktikant in der Reederei rund um die Uhr Zugriff auf die Position, die Geschwindigkeit und alle anderen relevanten Daten des Schiffes.

      „Fairness und eine gewisse Strenge“, so beschreibt Kapitän Manfred Schleiff das Rezept, eine Crew richtig zu führen. Bei der Disziplin, die wichtig ist, dennoch Freiräume zu lassen. Im richtigen Moment wegzusehen, wenn etwas unverschuldet schiefging. Zu loben und den Leuten das Gefühl zu geben, dass man sich auf sie verlassen kann. So kam Schleiff mit seiner Crew über eine Monsterwelle im Pazifik, deren Höhe er auf mehr als fünfunddreißig Meter schätzt. Dem Rudergänger rief er im entscheidenden Moment zu: „Ganz ruhig. Wir schaffen das schon!“

      Gelassenheit auszustrahlen, inmitten des größten Sturms, das ist noch eine Eigenschaft, die alte Kapitäne mitbringen. Die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten spielen keine Rolle, wenn die Wellen mit der Wut von Hooligans und der Gewalt losgerissener Lokomotiven auf das Schiff zurollen. Sie dürfen keine Rolle spielen. Wer in diesen Momenten der eigenen Angst nachgibt, hat verloren. „Als Kapitän muss man manchmal auch Schauspieler sein“, sagte mir Emil Feith, der den größten Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnung auf dem Nordatlantik überlebte. Mitten in der apokalyptischen Mixtur aus Hurrikan, arktischer Sturmfront und Tiefdruckgebiet war die Ruderanlage seines kleinen Frachters ausgefallen. Die Crew, die sich mit Rettungswesten auf der Brücke versammelt hatte, starrte paralysiert vor Angst hinaus. Um eine Panik zu vermeiden, grinsten Feith und der Erste Ingenieur um die Wette. Nur nichts anmerken lassen.

      „Dienstgesicht“ nannte Feith den Ausdruck, wenn man ihm gar nichts mehr anmerken konnte. War er sauer? Einfach nur mürrisch? War alles in Ordnung? Spielte für ihn ohnehin keine Rolle. Ein Kapitän sollte keine Gefühle zeigen, findet er, und nicht mal, als die Ruderanlage im Orkan repariert war, gönnte er sich eine Gefühlsregung. Diese Gefühlsduselei unserer Zeit, in der jede Empfindung gruppendynamisch und am besten im Stuhlkreis besprochen werden muss, ist für alte Seeleute ein Graus. Ich kenne einige, die

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