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Ich hatte den Most heimlich mit Äpfeln aus unserem kleinen Obstgarten angesetzt, der sich dort oben befand, wo heute mein eigenes Haus steht. Seit damals kann ich keinen Most mehr trinken.

      Später, als wir nicht mehr zu Hause wohnten und Craig Lodge ein katholisches Exerzitienhaus geworden war, wurde der Schuppen für ein paar Jahre als „Rosenkranzfabrik“ genutzt, in der Mitglieder der örtlichen Jugendgemeinschaft Gebetsketten in unterschiedlichen Formen und Farben knüpften. 1992 fragte ich Dad dann, ob ich den Schuppen und auch das Nebengebäude von ihm borgen könnte, um Hilfsgüter darin zu lagern, die als Reaktion auf unseren kleinen Spendenaufruf für Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina hereinkamen. Natürlich war er spontan einverstanden. Er und meine Mum leisteten sowieso die meiste Arbeit, die mit dem Sammeln und Vorbereiten der Hilfsgüter anfiel. Und selbst wenn er damals gewusst hätte, dass er keinen von seinen Schuppen jemals wieder zurückbekommen würde, hätte er sicher trotzdem Ja gesagt: zum einen deswegen, weil er der großzügigste Mensch ist, der mir je begegnet ist; zum andern aber auch, weil er damit einen Grund hatte, neue Schuppen zu bauen. Denn glücklicherweise macht mein Dad das leidenschaftlich gern, man könnte geradezu sagen, dass er ein notorischer „Schuppen-Bauer“ ist.

      Nachdem der Schuppen dann einige Jahre lang als Lagerraum für Kartons voller Kleider, Nahrungsmittel, Hygieneartikel und medizinischer Geräte gedient hatte, wurde er unser Büro; zuerst nur für mich als den einzigen Angestellten unserer Wohltätigkeitseinrichtung, später kamen meine Schwester Ruth und dann noch fünf weitere Helfer hinzu. Der Raum war mittlerweile so eng geworden, dass einige von uns ohne Schreibtisch mit dem Laptop auf den Knien arbeiten mussten. Daher wurde der Schuppen nebenan abgerissen, und Dad baute zusammen mit George, einem äußerst begabten Freund, eigenhändig einen speziell an unsere Bedürfnisse angepassten Büroraum aus Holz – ein wunderschönes und zugleich extrem praktisches Bauwerk. Als dann der Zeitpunkt des Umzugs in das fantastische neue Büro gekommen war, beschloss ich, hier in dem alten Schuppen zu bleiben. Das war sicher die richtige Entscheidung. Einigen mag es vielleicht seltsam, womöglich sogar dumm vorkommen, die Hauptverwaltung einer weltweit tätigen Bewegung in diesem alten, sich seitlich neigenden Schuppen in einem abgelegenen Teil Schottlands unterzubringen. Aber hier erinnere ich mich täglich, wie und warum wir mit dieser Arbeit begonnen haben. Außerdem kenne ich Menschen, die in Armut leben und zutiefst dankbar wären, wenn sie ein so großes und sicheres Haus für sich und ihre Familie hätten.

      Unter den Fotos und Notizen, die über meinem Schreibtisch an die Wand gepinnt sind, findet sich auch das einer Familie, die in einem Haus lebte, das so klein und noch dürftiger möbliert war als dieser Schuppen. Meine Begegnung mit dieser Familie im Jahr 2002, während einer entsetzlichen Hungersnot in Malawi – zehn Jahre, nachdem wir jene erste kleine Hilfsgütersammlung nach Bosnien-Herzegowina gebracht hatten –, veränderte mein Leben und das von Tausenden anderen Menschen für immer.

      Auf dem Bild sind sechs Kinder zu sehen, die neben ihrer sterbenden Mutter sitzen. Sie liegt auf einer Strohmatte. Ich erinnere mich, wie fürchterlich heiß es in ihrem Haus aus Lehmziegeln war. Mein Hemd war klatschnass, und obwohl ich mich so klein wie möglich machte, stieß ich mit dem Kopf an die niedrige Decke. Ich fühlte mich unwohl – wie ein überdimensionierter Eindringling in ihrem kleinen Haus, noch dazu in einem so ganz und gar intimen Augenblick dieser Familie. Aber sie hatten mich herzlich willkommen geheißen, und so kauerte ich mich neben sie hin. Meine Augen hatten sich mithilfe des wenigen Lichts, das durch ein kleines Fenster ohne Scheibe drang, an die Dunkelheit in dem kleinen Raum gewöhnt, und ich konnte sehen, dass Emma, in eine alte, graue Decke gewickelt, ständig ihre Hände rang, während sie zu uns redete.

      „Jetzt bleibt nichts mehr zu tun als zu beten, dass sich jemand um meine Kinder kümmert, wenn ich nicht mehr da bin“, flüsterte sie, und leise erzählte sie mir den Grund für ihre Qualen.

      Ihr Mann war vor einem Jahr gestorben, AIDS hatte ihn hinweggerafft, dieselbe Krankheit, die jetzt Emmas Kindern die Mutter wegnehmen würde. Sämtliche Erwachsene im Dorf, die sie kannte, kümmerten sich schon zusätzlich zu ihren eigenen Kindern um Waisen. Emma wusste nicht, wer jetzt auf ihre Kinder schauen sollte. Auch körperlich litt sie furchtbar. Die Nachbarin, die für Emma sorgte und unsere Unterhaltung übersetzte, war eine geschulte „häusliche Pflegekraft“, die sich heldenhaft dafür einsetzte, Emmas Qualen zu lindern, aber sie hatte nicht einmal die einfachsten Schmerzmittel, von Medikamenten gegen HIV/AIDS ganz zu schweigen. Aber Medizin hätte in diesem Fall ohnehin nichts genützt, denn damit sie wirken kann, muss sich der Patient ausreichend und gesund ernähren. Emma und ihre Kinder hatten schon seit Langem nicht mehr genug zu essen. Um ihre Hütte erstreckten sich verdorrte Felder, auf denen der Mais in diesem Jahr nicht hatte gedeihen können. Der Bauch von Chinsinsi, dem jüngsten Kind auf der Matte, war aufgrund der Unterernährung deutlich aufgebläht.

      Ich begann ein Gespräch mit Edward, dem Ältesten. Er saß ganz aufrecht, als wolle er größer wirken, als er tatsächlich war. Sein schwarzes T-Shirt war ihm mehrere Nummern zu groß, doch im Gegensatz zu den schmutzigen Lumpen, die seine Geschwister um die Hüften trugen, sah es sauber aus. Er sagte mir, dass er 14 Jahre alt war, und erklärte, dass er die meiste Zeit seiner Mutter auf den Feldern oder im Haus geholfen hatte. Vielleicht suchte ich nur verzweifelt nach einem Lichtblick, durch den ich ein bisschen mehr Hoffnung in unser deprimierendes Gespräch bringen konnte, als ich ihn fragte, welche Wünsche und Ziele er habe. Auf keinen Fall rechnete ich mit einer Antwort, die mein Leben und das Leben von Hunderttausenden anderen Menschen verändern würde.

      „Ich möchte genug zu essen haben, und ich möchte eines Tages zur Schule gehen können“, erwiderte er mit ruhiger und fester Stimme, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte.

      Als unser Gespräch zu Ende war und die Kinder uns nach draußen in die sengende malawische Sonne folgten, hatten sich diese schlichten Worte – gesprochen in dem Tonfall, mit dem Teenager ihre kühnsten Träume äußern – bereits unauslöschlich in mein Herz eingebrannt. Ein Schrei, ein Skandal, die Bestätigung einer Idee, die bereits konkrete Gestalt anzunehmen begann – ein Aufruf zum Handeln, den man nicht ignorieren durfte: Die Worte des Jungen sollten so vieles für mich bedeuten. In der schrecklichen Familientragödie, die sich in dieser dunklen Hütte abspielte, hatten sich viele Leiden und unlösbare Probleme, mit denen ich es in den vergangenen zehn Jahren unmittelbar zu tun gehabt hatte, gebündelt. Und Edwards Worte bestätigten eine Idee, die erst kürzlich jemand mit mir besprochen hatte; sie waren der Funke, der die bereits glimmende Vorstellung zum Lodern brachte, aus welcher später Mary’s Meals wurde.

      An der Schuppenwand hinter mir verkündet ein Poster in großen Buchstaben unsere Vision:

      Dass jedes Kind eine tägliche Mahlzeit in der Schule erhält; und dass all jene, die mehr haben, als sie benötigen, mit jenen teilen, denen das Nötigste zum Leben fehlt.

      Mit jeder Woche, die in den Jahren seit meiner Begegnung mit Edward verging, wurde diese Vision deutlicher, und die Zuversicht, dass sie umgesetzt werden kann, immer stärker. Wir haben immer wieder neu gesehen, dass die Bereitstellung einer täglichen Schulmahlzeit das Leben der ärmsten Kinder wirklich grundlegend verändern kann, indem die Mahlzeiten ihren unmittelbaren Bedarf an Nahrung stillen und ihnen außerdem ermöglichen, die Schule zu besuchen und eine Ausbildung zu bekommen, mit der sie der Armut entkommen können. Und die Anzahl dieser täglichen Mahlzeiten, die von Freiwilligen vor Ort an arme hungrige Kinder in Schulen auf der ganzen Welt ausgegeben werden, ist in ganz außerordentlichem Maße gewachsen, sodass heute an jedem Schultag über eine Million Kinder Mary’s Meals erhalten.

      Meinen Schuppen mag ich wirklich gern. Er bietet mir die stille Umgebung, die ich häufig dringend brauche, und er hat gerade so viel Platz, dass vier oder fünf Besucher mit mir um einen Tisch sitzen, eine Tasse Tee trinken und reden können. Und meine Beschränkung auf dieses Büro gibt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Abstand, den sie wahrscheinlich von mir – einem unheilbar schlampigen Menschen – brauchen. Außerdem ist er eindeutig der beste Ort, um dieses Buch zu schreiben.

      Das Foto von Edward und seiner Familie ist lediglich eines von vielen, die an meiner Wand hängen und entscheidende Szenen unserer Reise zeigen: ein bosnischer Mann, der vor seinem zerstörten Haus mit seinem Hund spielt; lachende Kinder auf einem staubigen afrikanischen Schulhof; ein blinder Mann in Liberia mit einem selbst

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